Kapitel 75: Verzweiflung - Teil 1
Im Krähen-Palast hatte sich nicht viel geändert. Die Mauern waren genauso schwarz, die Dächer genauso düster. Als sie durch das Tor kamen, wunderten die wachhabenden Erzwächter sich zuerst, boten dann aber schnell an, ihnen ihre Pferde abzunehmen und sie zu versorgen.
»Sagt Gilden-Anführer Ghan Bescheid, dass wir mit ihm reden müssen«, wandte Rin Verran sich an einen der Männer. »Am besten sofort.«
»Eine wichtige Sache?« Der angesprochene Erzwächter riss erschrocken die Augen auf. »Sie muss wirklich wichtig sein, wenn Ihr dafür so einen weiten Weg zurücklegt.« Er winkte einen Diener herbei und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser zum Eingang des Krähen-Palasts sprintete und darin verschwand.
Es dauerte nicht lange, bis er wieder zurückkehrte und ihnen bedeutete, dass sie ihm folgen sollten. Drinnen hatte sich genauso wenig verändert wie draußen. Nur an den Wänden hingen ein paar mehr Bilder von Lew Amon, dem Künstler. Starke Erzwächter in eindrucksvollen Posen, einige Porträts, viele siegreich erhobene Fahnen mit dem Zeichen der Ghan-Gilde. Die drei Neuankömmlinge gingen schweigend die Flure entlang, begleitet nur von dem Diener vorne und zwei Erzwächtern hinten. Rin Verran zog Sun Shimei näher zu sich heran, als er eines der Bilder zu lange anschaute und fast zurückgeblieben wäre, und warf seinem Schüler einen warnenden Blick zu.
Die Versammlungshalle war fast leer. Am Tisch oberhalb der Treppe saßen Ghan Shedor und Ghan Minue. Schräg hinter ihnen standen Wez Yumaton und Zao Linn, die Bogenschützin, die damals Dul Nehmon und Dul Caitha getötet hatte. Treue Leibwächter mit grimmigem Blick und bereitgehaltenen Waffen. Ghan Shedor erhob sich nicht, als die Gruppe eintrat, sondern musterte Rin Verran und Mahr Xero mit einem neugierigen Blick. Sun Shimei ignorierte er vollkommen.
»Wir grüßen Euch, Gilden-Anführer Ghan«, sagte Rin Verran höflich und verbeugte sich respektvoll, was die anderen ihm nachtaten. »Und Eure Ehefrau.«
»Rin Verran.« Ein Lächeln, das er nicht deuten konnte, lag auf Ghan Shedors Lippen. »Es freut mich, dich endlich wieder im Krähen-Palast begrüßen zu dürfen. Wie war die Reise? Mir wurde gesagt, dass du in wichtiger Angelegenheit unterwegs bist. Dabei ist es doch mitten im ersten Jahr am Rothirsch-Turm, oder? Hast du deine Schüler wirklich alleine gelassen?«
»Mein einziger Schüler ist mit mir gekommen«, erwiderte Rin Verran, der sich nur kurz über die vertrautere Ansprache mit dem ›Du‹ wunderte, und deutete auf Sun Shimei, der sofort den Blick senkte und sich nochmal verbeugte.
»Ich habe nicht mit Euch geredet.« Ghan Shedors Blick richtete sich auf Mahr Xero, dessen Gesicht sich sogleich verfinsterte. »Ich frage mich, warum das weiße Kätzchen gekommen ist.«
»Die Sache, in der wir hier sind«, sagte Rin Verran, bevor Mahr Xero etwas Unbedachtes von sich geben konnte, »ist nur für Eure Ohren bestimmt.«
Ghan Shedor kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Was ist das für eine Sache, die niemand wissen darf?«
»Es geht um die Drachenklauen.«
»Die Drachenklauen?« Ghan Shedor lachte kurz auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Die Drachenklauen sind alle tot. Ihr selbst habt die Dul-Gilde ausgelöscht. Oder meint Ihr, ich sollte Dul Arcalla auch noch töten? Oder habt Ihr das schon getan?«
»Nein!« Rin Verran sammelte sich, atmete tief durch. »Es wäre wirklich besser, wenn...«
»Ich vertraue allen Anwesenden«, unterbrach Ghan Shedor ihn. Nach einem kurzen Zögern, befahl er dem Diener und den zwei Erzwächtern dennoch: »Ihr könnt gehen. Und schließt das Tor.« Nachdem sie weg waren, richtete er sich in seinem Stuhl wieder auf. »Nun?«
Rin Verran spürte, wie eine unangenehme Unruhe ihn erfasste. Langsam zog er Mahr Ledjas Tagebuch heraus, das er die ganze Zeit über bei sich getragen hatte. Es lag schwer in seiner Hand, fast wie ein Stein.
»Was ist das?«, fragte Ghan Shedor.
»Das Tagebuch von Gilden-Anführerin Mahr, Mahr Ledja.«
Bei der Erwähnung dieses Namens trat ein Flackern in Ghan Minues Augen. Das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter war nie gut gewesen, aber sie kannte den wahren Grund dafür nicht. Fürchtete sie, dass ihr Ehemann erfahren könnte, warum diese Hochzeit in Wirklichkeit stattgefunden hatte? Dass es nur um ein scheinbares Bündnis ging, das jederzeit wieder aufgelöst werden konnte? Sie hatte ja keine Ahnung, was wirklich darin stand...
»Ein Tagebuch?« Ghan Shedor wirkte verwirrt. »Ihr seid den ganzen Weg hierher gekommen, um mir das Tagebuch einer Toten zu geben? Warum habt Ihr es nicht einfach verbrannt? Oder wolltet Ihr es meiner Ehefrau als Geschenk überreichen? Ich glaube nicht, dass sie es annehmen wird.«
Ghan Minue schüttelte langsam den Kopf.
»Es geht um den Inhalt«, erklärte Rin Verran ohne das Buch aufzuklappen, hielt es nur weiterhin in der Hand. »Dieses Buch ist der Beweis dafür, dass nicht Gilden-Anführer Mahr den Attentäter geschickt hat, der versucht hat, Eure Ehefrau umzubringen, sondern die Drachenklauen.«
Ghan Shedors Augenbrauen zogen sich zusammen. »Gehörte Gilden-Anführerin Mahr zu ihnen oder woher wisst Ihr das? Ich sehe nicht, worauf Ihr hinaus wollt.«
»Gilden-Anführerin Mahr hat die Drachenklauen nur kontaktiert«, erklärte Rin Verran. »Sie gehörte nicht zu ihnen. Es ist allgemein bekannt, dass sie die Bastardtochter ihres Ehemannes nicht sonderlich mochte, und wollte sie deshalb tot sehen. Sie hat ein rotes Band mit orangenen Flammen benutzt, das sie an einen schwarzen Falken gebunden hat, um den Drachenklauen das Zeichen zum Handeln zu geben. Diese Farben gehören der Mehn-Gilde, deren Überlebenden die Drachenklauen sind. Die Dul-Gilde hat nichts mit ihnen zu tun. Genauso wenig die Mahr-Gilde. Ihr habt einen Krieg geführt, der nicht nötig gewesen wäre. Die Drachenklauen haben Euch benutzt, um Rache an allen zu nehmen, die...«
»Schluss!« Der Schrei wurde nur übertönt von Ghan Shedors Schlag auf den Tisch. Er war von seinem Stuhl aufgesprungen und funkelte Rin Verran zornig an, der seinen Blick offen erwiderte. »Behauptet Ihr gerade, ich hätte kein Recht gehabt, diesen Krieg zu führen? Dass ich so dumm war und von den Drachenklauen getäuscht wurde!«
Rin Verran wollte antworten, aber der Gilden-Anführer redete einfach weiter. »Ich denke wirklich vieles von Euch, Rin Verran, aber dass Ihr mit solchen Lügen versucht, Dul Arcalla und Euren Begleiter ins Reine zu reden, hätte ich nicht gedacht! Soll ich dem weißen Kätzchen jetzt einfach seinen schönen Turm zurückgeben? Und der Gefangenen ihren Pavillon? Soll ich vielleicht auch gleich Euren Bruder aus dem Kerker holen, damit er wieder über den Phönix-Hof stolzieren kann? Was wird man von mir denken! Ich, der Gilden-Anführer, kann mich von jedem Beliebigem zum Krieg drängen lassen? Nein! Ich habe das getan, um meine Ehefrau und meinen Vater zu rächen!« Sein Zeigefinger richtete sich direkt auf Mahr Xero. »Deine Eltern sind schuldig! Einer von ihnen hat auf jeden Fall den Attentäter geschickt und verdient es daher nicht, zu leben!«
Er schlug erneut mit der Hand auf den Tisch. »Und die Dul-Gilde hat den Drachenklauen Unterschlupf gegeben! Der Tod hat sie alle geholt!« Jetzt starrte er wieder Rin Verran an. »Behauptet Ihr, mein Onkel hätte gelogen? Und habt Ihr Euch damals nicht freiwillig gemeldet, um den Forellen-Pavillon anzugreifen?«
»Ich sehe Eure Bedenken und Konflikte ein«, sagte Rin Verran so ruhig wie er nur konnte. »Euer Onkel kann zum Zeitpunkt des Briefes auch schon tot gewesen sein. Die Drachenklauen werden wissen, wie man Schriften und Siegel fälschen kann. Vielleicht haben sie ihn auch dazu gezwungen, den Brief zu schreiben, bevor sie ihn...«
»Spekulationen!«, fuhr Ghan Shedor ihn an. »Was wollt Ihr wirklich, Rin Verran? Dass ich Euch glaube und mich vor allen für den Krieg entschuldige? Dass ich den Gilden ihre Territorien zurückgebe, die Gefangenen frei lasse?« Als er Rin Verrans betroffenen Gesichtsausdruck sah, lachte er kurz auf. »Dachtet Ihr wirklich, das würde klappen?«
»Gilden-Anführer Ghan«, sammelte er sich ein letztes Mal. »Es sind schon so viele in diesem Krieg gestorben, der womöglich durch Intrigen der Drachenklauen angezettelt wurde. Jetzt, da die Krieger der Sonne um ihre Freiheit kämpfen, werden noch mehr Menschen sterben. Es wäre für alle besser, wenn Ihr die Besatzung aufgebt.«
»Die Besatzung aufgeben?« Ghan Shedors Stimme war unheimlich ruhig. »Den Krieg beenden? Nein. Die Ghan-Gilde ist schon so weit gekommen. Jetzt aufzugeben würde bedeuten, die Erzwächter, die ihr Leben gegeben haben, einfach zu vergessen und nicht mehr zu würdigen. Die Krieger der Sonne werden bald schon der Vergangenheit angehören. So wie die Drachenklauen, die bereits Vergangenheit sind. Belehrt mich nicht!«
»Wenn Ihr uns nicht glauben wollt, dann lest selbst.« Rin Verran hielt Ghan Shedor das Tagebuch hin. Es war die einzige Möglichkeit, die sie jetzt noch hatten, um ihn von der – wenn auch nur halben – Wahrheit zu überzeugen. Er hatte keine Ahnung, wie seine Reaktion sein würde. Vielleicht würde er sie wirklich töten, aber... Er atmete tief durch. Ich werde nicht zulassen, dass Unschuldige bestraft werden. Selbst wenn ich bei dem Versuch, sie zu beschützen, sterbe.
Ghan Shedor war immer noch misstrauisch und nicht überzeugt. Anderseits... Wenn Rin Verran wirklich log, warum bot er ihm dann an, das Tagebuch selbst zu lesen? Er wechselte einen Blick mit Ghan Minue, die leicht verunsichert wirkte, aber ihm dann langsam zunickte. Gerade wollte er Wez Yumaton nach vorne schicken, um das Buch zu holen, als Ghan Minue selbst aufstand.
Rin Verran beobachtete, wie Ghan Minue elegant die Stufen hinunter kam. Das dunkelgraue Kleid mit den schwarzen Krähenfedern schwang am Saum leicht hin und her, als würde es ein Eigenleben entwickeln. Als sie näher kam, senkte Rin Verran respektvoll den Kopf und wartete darauf, dass sie ihm das Tagebuch abnahm. Ihre zierliche Hand streckte sich nach dem Ledereinband aus.
Und plötzlich hörte Rin Verran das Kreischen von Metall, sah das Aufblitzen eines Schwertes im Augenwinkel. Mahr Xero schoss an ihm vorbei, schlug mit Finsterlicht nach Ghan Minues Hand.
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Hier vorsichtshalber nochmal: Trigger-Warnung fürs nächste Kapitel!
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