Kapitel 72: Wissen - Teil 3
Rin Verran und Mahr Xero schwiegen, während sie um kurz vor zehn Uhr abends die Treppe hinunter stiegen. Der Kerker des Rothirsch-Turm lag unterirdisch. Auf halbem Weg sammelten sie Sun Shimei ein, der bereits mit vor Aufregung leuchtenden Augen auf seinen Meister wartete.
»Warum kommt er mit?«, fragte Mahr Xero unzufrieden und wechselte die Laterne, mit der er ihnen den Weg erhellte, in die andere Hand.
»Ich vertraue ihm«, antwortete Rin Verran.
»Ich werde Euch nicht enttäuschen!«, rief der Junge und verbeugte sich in Richtung der beiden Männer, die aber bereits weiter gegangen waren. Hastig eilte er ihnen nach.
Je tiefer sie kamen, desto kälter wurde es. Rin Verran war froh, seinen Umhang angelegt zu haben, der wenigstens seinen Rücken und seine Schultern etwas wärmte. An seinem linken Oberarm machte sich jedoch ab und zu die Wunde bemerkbar, die Mahr Xero ihm geschlagen hatte. Sie war nicht tief. Rin Veyvey hatte sie mit einiger Mühe so verbinden können, dass sie nicht mehr seine Kleidung voll blutete. Er erwischte sich bei dem Gedanken, dass Dul Arcalla das sicher besser gekonnt hätte.
Sie ist unerreichbar für dich, wies er sich selbst zurecht. Hör auf, solche Sachen zu denken. Er war sich bewusst, dass Mahr Xero ihn genau im Auge behalten würde, sobald sie in Dul Arcallas Zelle waren. Eine falsche Bewegung von ihm und er würde sofort angefahren – und vielleicht sogar angegriffen – werden. Er musste sich unter Kontrolle halten. Eine Miene aufsetzen, die Gleichgültigkeit vortäuschte. So, als würde er mit einer einfachen Gefangenen reden, die Informationen besaß.
Als sie vor der besagten Tür ankamen, blieben die zwei Männer und der Junge stehen. Rin Verran versuchte, sein Herz zu beruhigen, das wie verrückt klopfte. Er hatte sie schon so lange nicht gesehen. Das letzte Mal hatte sie in ihrer Zelle im Krähen-Palast geschlafen und nicht mal auf seinen Ruf geantwortet. Was sollte er sagen, wenn sie sich wieder gegenüber standen? Was sollte er tun? Er fühlte sich, als würde er zu seiner eigenen Hinrichtung gehen. Nur, dass er es freiwillig und mit einer unangebrachten, grotesken Freude tat.
»Ich hasse dich.«
Die letzten Worte, die sie an ihn gerichtet hatte. Damals, nachdem er sie in sein Zelt geholt hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
»Sun Shimei«, sagte er gefasst. »Öffne die Tür.«
Der Junge gehorchte, nahm den Schlüssel von der Wand und schloss auf. Als er die Klinke hinunter drückte und die Tür aufschob, quietschte es unangenehm. Im Inneren der Zelle brannte eine einsame Kerze und warf den dunklen Schatten einer Frau an die Wand. Dul Arcalla saß auf einem hölzernen Stuhl an der Wand, den Kopf gesenkt. In ihrer Hand schien sie ein Buch zu halten. Beim Quietschen der Tür hielt sie mitten im Umblättern einer Seite inne und sah ihren Besuchern entgegen. Wie erstarrt.
Ihr Gesicht war blass, die Wangen eingefallen. Die blonden Haare waren verfilzt und wurden von nichts zusammengehalten, fielen ihr einfach lose über die Schultern. Selbst ihre Kleidung war schmutzig und abgetragen. Unter dem zerrissenen Saum schauten Füße hervor, die in dünnen Lederschuhen steckten. Ihr war offensichtlich kalt, doch sie machte keinen Gebrauch von der Decke, die unberührt auf der hölzernen Liege lag, die ihr als Bett diente.
»Fräulein Dul!« Sun Shimei war der erste, der sprach und verbeugte sich respektvoll in ihre Richtung, schien die angespannte und seltsame Atmosphäre gar nicht zu bemerken. »Ihr habt Besuch!«
Kein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Das sehe ich.« Ihre blaugrünen Augen fixierten nacheinander Sun Shimei, Mahr Xero und Rin Verran. »Ich denke, ich werde jetzt den Grund erfahren, aus dem ich hierher gebracht wurde.« Sie stand auf und legte das Buch beiseite, tat aber nichts weiter, sondern starrte sie einfach an.
»Arcalla...«, hob Rin Verran an, verstummte aber sofort. Seine Stimme hörte sich an als hätte er drei Tage lang kein Wasser mehr getrunken. Grob und rau wie die Rinde eines Baumes.
Allmählich schien Sun Shimei zu begreifen, dass etwas nicht stimmte. Er sah zwischen den zwei Parteien hin und her und versuchte herauszufinden, was genau hier vor sich ging. Sind sie wütend? Sie sehen nicht wütend aus. Oder doch? Warum schreien sie sich dann nicht an? Warum schauen sie so komisch? Hat Meister Rin sie nicht nach dem Angriff mal verhört, aber ohne sie zu verletzen? Er schrie innerlich auf. Was geht hier vor?
»Ich hole Stühle!«, sagte er schnell und floh aus der Zelle.
»Wie haben sie dich nur behandelt?«, fragte Mahr Xero, der Dul Arcalla bisher nur geschockt angestarrt hatte. »Das... Du...«
»Es ist in Ordnung«, sagte sie ruhig. »Ich lebe noch. Das ist alles, was zählt. Wie geht es meiner Schwester?« Die Frage galt Rin Verran.
»Gut«, antwortete er matt. »Sie kümmert sich um deine Nichte. Kahna.« Der Kloß in seinem Hals ging nicht weg. In gewisser Weise war seine eigene Tochter der Beweis dafür, dass er Rin Veyvey ihrer Schwester vorzog. Dass sie eine glückliche Familie miteinander waren, auch wenn das nicht stimmte.
»Und du?«, wandte Dul Arcalla sich an Mahr Xero. »Wie geht es dir?«
Mahr Xero haderte gerade mit einer Antwort, als Sun Shimei mit zwei Stühlen zurückkam, die er mitten in den Raum stellte. Ein letztes Mal schaute er unbeholfen zwischen den Anwesenden hin und her, bevor er die Tür schloss und sich zu einer der Wände zurückzog. Es war ohnehin schon eine Ehre, bei so einem geheimen Gespräch dabei zu sein, da wollte er nicht unangenehm mit seinen Fragen oder allgemein seiner Anwesenheit auffallen.
Rin Verran kostete es einige Mühe, sich auf den Stuhl zu setzen ohne irgendeinen der Sätze zu sagen, die gerade in seinem Kopf herumschwirrten. Er holte Mahr Ledjas Tagebuch heraus, das er mitgebracht hatte, und hielt es eine Weile in den Händen, bevor er sagte: »Es stimmt, ich habe dich nicht einfach so hierher überführen lassen.« Er war sich nicht sicher, ob er Dul Arcalla immer noch vertraulich nur mit ihrem Vornamen ansprechen durfte. Vorhin war es ihm versehentlich rausgerutscht. Das durfte nicht nochmal passieren. Bewahre die Distanz, ermahnte er sich. Du bist für den Tod ihrer Eltern verantwortlich.
»Bevor ich anfange, euch alles zu erklären, möchte ich euch darum bitten, vollkommenes Stillschweigen zu bewahren.«
»Ich werde nichts verraten«, platzte Sun Shimei sofort heraus.
»Ich auch nicht«, sagte Dul Arcalla ruhig.
Mahr Xero nickte nur.
Jetzt ist es also so weit, dachte Rin Verran. Er holte tief Luft und begann zu erzählen, was er aus Mahr Ledjas Tagebuch erfahren hatte. Manchmal las er sogar einige Zeilen daraus vor. Am Anfang schien niemand zu verstehen, worauf er hinaus wollte, doch als er von Ghan Ilanas Vergewaltigung durch Mahr Hefay berichtete, sprang Mahr Xero wütend auf.
»Was für ein Mist!«, schrie er. »Mein Vater ist tot und du ziehst seinen Namen noch weiter in den Dreck!«
»So steht es in dem Tagebuch deiner Mutter.« Rin Verran funkelte ihn von der Seite her an, heimlich erleichtert darüber, dass Mahr Xero keine Anstalten machte, Finsterlicht zu ziehen. Er selbst hatte Habichtfeder nicht mitgenommen. Sonst hätte Mahr Xero ihn nicht mal eine Stufe runter gehen lassen. »Wenn du mir nicht glaubst, kannst du es später selbst lesen. Lass mich bitte alles zu Ende erzählen.«
Mahr Xero warf einen flüchtigen Blick auf Dul Arcalla, die ausdruckslos auf ihrem Stuhl saß und auf etwas zu warten schien. Mit einem unterdrückten Fluch setzte er sich wieder hin.
Rin Verran fuhr fort. Diesmal ohne Unterbrechungen, auch wenn Mahr Xero mehrmals kurz davor war, erneut aufzuspringen und ihn anzuschreien. Die Wut in seinen Augen verwandelte sich allmählich in Enttäuschung und dann in tiefen Schmerz.
»Die Drachenklauen«, presste Mahr Xero mit viel Mühe hervor. »Sie sind Schuld an allem. An allem, was passiert ist!« Er stand auf, trat den Stuhl um und schlug mit der Faust so heftig gegen die Wand, dass Sun Shimei erschrocken zusammenzuckte. Der Junge fühlte sich vollkommen fehl am Platz, aber jetzt abzuhauen kam nicht in Frage.
»Und Ghan Shedor«, grollte Mahr Xero. »Er wird noch für alles bezahlen! Wie konnte er sich so leicht täuschen lassen! Alles! Alles war eine Lüge!« Als er sich umdrehte, waren seine Augen blutunterlaufen und seine Fäuste geballt. Anklagend zeigte er mit dem Finger auf Rin Verran. »Und du wolltest mich zuerst gar nicht dabei haben! Hättest du dann im Stillen über mich gelacht? Du Bastard!«
Rin Verran schoss hoch, wobei sein Stuhl umkippte. »Ich hab dir schonmal gesagt, dass du aufhören sollst, mich so zu nennen!«
»Bitte«, ertönte Dul Arcallas leise Stimme. Bei ihrem hellen Klang starrten die zwei Männer sich nur noch kurz wütend an, bevor sie sich zu ihr umdrehten. Sie wirkte traurig und irgendwie nicht ganz bei sich. »Hört auf, euch zu streiten. Was geschehen ist, ist geschehen.« Ihre Augen richteten sich auf Rin Verran. »Du hast mich hergeholt, um zu wissen, ob Ghan Ilana mir vor ihrem Tod davon erzählt hat. Das hat sie. Aber ich habe es für Wahnvorstellungen gehalten.«
»Also stimmt es?«, fragte Mahr Xero mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme. »Es stimmt wirklich?«
Dul Arcalla nickte benommen, bevor ihr Blick sich erneut auf Rin Verran richtete. »Was hast du vor?«
Was habe ich vor? Die Frage war offensichtlich, aber sie traf ihn trotzdem überraschend.
»Rin Verran, der Grüne Habicht wird natürlich nichts tun«, spottete Mahr Xero. »Er hat nichts getan, als seine eigene Gilde zerstört und sein Vater getötet wurde. Er hat nichts getan, um zu verhindern, dass der Forellen-Pavillon angegriffen wird – sich sogar freiwillig gemeldet, um den Angriff anzuführen. Und jetzt wird er auch nichts tun. Er hat Angst, nicht wahr? Gib es zu! Du bist nicht so mutig, wie du es die anderen glauben machen lässt!«
Rin Verran schwieg.
»Wie könnt Ihr sowas behaupten!«, rief auf einmal Sun Shimei und schluckte, als Mahr Xero seinen Blick auf ihn richtete. Trotzdem fuhr er tapfer fort: »Er hat schonmal gegen die Drachenklauen gekämpft! Er hat allgemein viel gekämpft! Und er hat Unschuldigen das Leben gerettet! Dafür braucht man sehr wohl Mut!«
»Was hat ein kleiner Knirps wie du schon zu sagen?«
Sun Shimei schloss sofort den Mund und schwieg.
»Ich habe unverzeihliche Sachen getan«, sagte Rin Verran zu niemand Bestimmtem. »Sachen, die ich mein Leben lang bereuen werde. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, das Richtige zu tun.«
»Das Richtige.« Mahr Xero lachte auf. »Und was ist deiner Meinung nach das Richtige? Allen zu erzählen, dass mein Vater ein Vergewaltiger war? Dass Ghan Shedor seine eigene Halbschwester geheiratet hat? Dass meine Mutter mit einem einzigen roten Band den Krieg ausgelöst hat? Was davon zieht mich mehr in den Dreck, Rin Verran?« Er betonte seinen Namen als wäre es ein Fluch.
»Wir müssen Ghan Shedor klar machen, dass die Gilden, die er zerstört und erobert hat, nichts mit den Drachenklauen zu tun haben«, meinte Rin Verran ohne auf seine Frage einzugehen. »Er soll die Gefangenen befreien und seine Erzwächter von den eroberten Territorien abziehen. Und dann soll er Jagd auf die echten Drachenklauen machen. Auch wenn scheinbar immer noch niemand weiß, wo sie sich genau befinden.«
»Sie sind Nachkommen der Mehn-Gilde«, meldete Dul Arcalla sich zu Wort und blickte Rin Verran direkt an. »Du auch.«
Einige Sekunden herrschte vollkommene Stille, bevor Mahr Xero bedrohlich auf ihn zu kam. »Gehörst du etwa zu ihnen?«
»Nein! Natürlich nicht! Wäre ich sonst so blöd und würde euch jetzt alles erzählen?«
»Die Drachenklauen sind hinterlistig«, sagte Mahr Xero. »Vielleicht möchtest du mit diesen Lügen nur einen weiteren Krieg provozieren? Damit zuletzt auch die Ghan-Gilde fällt?«
Rin Verran hielt Mahr Xero wütend das Tagebuch vors Gesicht. »Das ist doch die Schrift deiner Mutter, oder nicht? Wie könnte ich mir das alles ausgedacht haben?«
»Er gehört nicht zu den Drachenklauen«, sagte Dul Arcalla voller Überzeugung. »Wenigstens darin bin ich mir sicher.«
Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte Rin Verran. Er räusperte sich kurz. »Mit diesen Informationen können wir Ghan Shedor jedenfalls davon überzeugen, mit dem ganzen Wahnsinn aufzuhören und sich auf die wirkliche Gefahr zu konzentrieren: Die Drachenklauen.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du den Namen meiner Familie in den Dreck ziehst!«, brüllte Mahr Xero und ballte die Fäuste.
»Wie soll ich das alles erklären ohne Mahr Hefay oder Mahr Ledja zu erwähnen?«, fragte Rin Verran scharf.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, meinte Dul Arcalla und rieb sich die kalten Hände. »Es wäre auch verständlich, wenn Mahr Ledja wollte, dass Ghan Minue stirbt, weil sie die uneheliche Tochter ihres Ehemannes nicht ausstehen konnte. Das ist bestimmt auch das, was viele denken. Sie hat sich ihr gegenüber oft feindselig verhalten, wenn ich das richtig verstanden habe.« Ihre Augen richteten sich auf Mahr Xero. »Damit müssten wir nicht erwähnen, was dein Vater getan hat. Nur darf Ghan Shedor dann das Tagebuch nicht sehen.«
»Aber es ist das einzige Beweisstück«, hob Rin Verran an.
»Schneide die kritischen Seiten raus«, forderte Mahr Xero.
»Ich müsste alles rausschneiden! Außerdem würde das auffallen!« Rin Verran stöhnte frustriert, schluckte seinen Zorn runter und fragte etwas freundlicher: »Hast du einen anderen Vorschlag?«
Mahr Xero knirschte mit den Zähnen. »Du wirst den Namen meines Vaters nicht in den Dreck ziehen!«
»Keiner hat das vor, Xero«, sagte Dul Arcalla. »Wir möchten nur, dass Ghan Shedor seine Fehler eingesteht und den Gilden ihre Territorien zurückgibt. Es würde wieder so wie früher sein.«
»Es wird nie wieder wie früher sein«, sagte Mahr Xero bitter. »Ich bin schon jetzt der Abschaum des Rothirsch-Turms und wenn das, was in diesem Tagebuch steht, ans Licht kommt, werde ich meinen eigenen Schülern nicht mehr in die Augen sehen können. Ich werde niemandem mehr in die Augen sehen können ohne dort Verachtung und Wut zu sehen.«
»Aber du wirst frei sein«, antwortete Dul Arcalla. »Kein Gefangener mehr. Du wirst der Anführer der Mahr-Gilde sein. Wie dein Vater, aber besser. Möchtest du das nicht?«
Mahr Xero starrte sie für eine Weile an. Sie wird auch frei sein, dachte er. Sie verdient es, frei zu sein. Aber ich? Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein.«
Dul Arcalla sah ihn traurig an, bevor sie sich an Rin Verran wandte. »Wenn du vor Ghan Shedor trittst, solltest du aus Respekt vor Mahr Xero wirklich nur sagen, dass Mahr Ledja das aus Hass auf Ghan Minue getan hat. Meinetwegen kannst du ihm danach das Tagebuch geben. Sobald er dort die ganze Wahrheit gelesen hat, wird er sowieso nicht zulassen, dass sie ans Licht kommt, aber er wird dich verstehen.«
»In Ordnung«, gab Rin Verran nach. Mahr Xero schien Dul Arcalla anscheinend immer noch so viel zu bedeuten, dass sie ihn darum bat, zu lügen. Jedenfalls teilweise. Ein unangenehmes Stechen breitete sich in seiner Brust aus. Aber sie hat recht, oder? Wenn die ganze Wahrheit ans Licht kommt, würde es nur noch mehr Chaos geben. Wir werden die einzigen sein, die davon wissen. Die einzigen...
Mahr Xero rang eine Weile mit sich selbst, bevor er »Tu doch, was du willst!« ausstieß und stampfenden Schrittes die Zelle verließ.
»Ist er wirklich einfach gegangen?«, fragte Sun Shimei in die Stille hinein. Er hatte die Diskussion voller Anspannung mitverfolgt und war umso verwirrter, dass sie jetzt auf einmal vorbei war. Hat er dem Plan jetzt zugestimmt oder nicht? Er persönlich fand es nicht gut, dass sie vor hatten, Gilden-Anführer Ghan anzulügen, aber wahrscheinlich war er noch nicht alt genug, um alles zu verstehen. ›Lüge nicht‹, stand im Kodex. Gab es Ausnahmen? Er hatte keine Ahnung. Ich muss mir die Bücher nochmal durchlesen.
»Ja«, sagte Dul Arcalla und fuhr sich mit einer Hand über die Stirn als wäre sie erschöpft. »Aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass wir ihn letztendlich überzeugt haben.« Sie hielt inne, als Rin Verran sich zu ihr umdrehte.
»Ich bin Schuld an deiner Gefangenschaft«, sagte er ohne ihr in die Augen zu blicken. »Ich hoffe, ich kann wenigstens ein kleines Bisschen meiner Schuld abtragen, indem ich dir bald die Freiheit ermögliche. Jeder muss seine Schuld irgendwann abtragen.«
Schuld abtragen? Sun Shimei schaute wieder verwirrt zwischen den beiden hin und her. Irgendwas sagte ihm, dass er etwas sehr Wichtiges verpasst hatte. Warum hatte sich das Gesprächsthema plötzlich geändert? Warum sahen sie so... traurig aus? Waren sie bis eben nicht noch wütend gewesen? So oder so, den Drei-Punkte-Plan seines Bruders konnte er jetzt auf keinen Fall zum Einsatz bringen!
Aus irgendeinem Grund schwieg Dul Arcalla.
»Ich werde die Zelle nicht abschließen«, sagte Rin Verran auf einmal. »Nachts wirst du nach oben kommen können. Aber achte darauf, dass niemand dich sieht. Jemand könnte einen Brief an Ghan Shedor schreiben und dann...«
»Ich verstehe.«
Verstehen? Sun Shimei verstand nur die Hälfte. Höchstens. Aber wahrscheinlich wäre es besser, nichts zu sagen. Obwohl ihm mehrere Fragen auf der Zunge lagen. Warum verhaltet ihr euch so komisch? Warum seht ihr so traurig aus? Warum lasst Ihr die Zelle offen? Ist sie nicht eine Gefangene? Gut, eigentlich hat sie es nicht verdient, aber trotzdem! Sollte ich vielleicht lieber gehen? Wahrscheinlich sollte ich lieber gehen.
»Ich gehe!«, verkündete Sun Shimei eilig und hastete zur Tür.
»Ich auch«, schloss Rin Verran sich ihm unerwartet an.
Schweigend gingen Meister und Schüler die Treppe wieder hoch. In völliger Dunkelheit, denn Mahr Xero hatte die Laterne mitgenommen. Als sie beim Tor des Rothirsch-Turms ankamen, blieb Sun Shimei noch kurz stehen. Eine Frage wollte er doch noch stellen, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
»Darf ich mit zum Krähen-Palast kommen?«
Rin Verran schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Wenn etwas schief geht... Ich weiß nicht, was Ghan Shedor dann tun wird. Es wird ein Schock für ihn sein. Es kann gut sein, dass er befehlen wird, uns zu töten, um zu verhindern, dass bekannt wird, dass er auf die List der Drachenklauen reingefallen ist und deshalb den Krieg begonnen hat.«
Sun Shimei riss erschrocken die Augen auf. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Ihr könntet sterben? Dann dürft Ihr da nicht hingehen!«
»Ich habe mich bereits entschieden. Hast du vorhin nicht zugehört?«
»Aber ich wusste doch gar nicht... Ich... Warum tut Ihr das?« Sun Shimei sah ihn verwirrt an. »Warum setzt Ihr Euer Leben für Leute aufs Spiel, denen Ihr noch nie persönlich begegnet seid? Ihr kennt doch die ganzen Menschen in den Dörfern gar nicht!«
»Vielleicht kenne ich sie nicht, aber sie sind trotzdem da.« Rin Verran sah ihn streng an. »Ich werde nicht zulassen, dass Unschuldige bestraft werden. Selbst wenn ich bei dem Versuch, sie zu beschützen, sterbe.«
Sun Shimei entging keineswegs, dass sein Meister dieselben Worte verwendete, wie er sie einst selbst gesagt hatte. Jetzt klangen sie ganz anders als das, was er sich damals dabei gedacht hatte. Er versuchte, die Enge in seiner Brust zu ignorieren, während Rin Verran sich von ihm abwandte und alleine die Treppe weiter nach oben ging. Seine Gestalt verschwand in den Schatten.
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Eventuell sollte ich das nächste Kapitel zensieren, aber ich tu's nicht XD Deshalb eine Trigger-Warnung.
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