Kapitel 66: Unschuld - Teil 7
Sechs Jahre später im Rothirsch-Turm der Mahr-Gilde.
Lächelnd sah Mahr Ledja von ihrem Platz neben Mahr Hefay aus zu den Kindern, die in der Mitte der Halle herumliefen und miteinander spielten. Mahr Xero war unter ihnen. Es war sein Geburtstag und sie hatte viele Familien der verbündeten Gilden mit ihren Kindern eingeladen, um ihn zu feiern. Es war auch die erste Feier, die sie offiziell als Gilden-Anführerin gab. Erst letztes Jahr waren Mahr Chir und Mahr Bagata bei einem Überfall an der Grenze gestorben. Einige vermuteten, dass es die Drachenklauen gewesen waren, aber es gab keine Beweise dafür und außerdem hatte diese Gruppierung sich schon lange wieder zurückgezogen.
»Xero! Xero!«, rief jemand aufgeregt. Ein Mädchen mit struppigen, hellbraunen Haaren stolperte auf den Jungen zu. Dabei verfingen ihre Füße sich in dem langen Kleid, das sie an hatte und bevor irgendjemand es verhindern konnte, fiel sie in ganzer Länge hin. Es gab nur eine Sekunde Pause, dann schrie und weinte sie los. Doch es gab niemanden, der sie trösten konnte.
Mahr Ledja sah aus dem Augenwinkel hinüber zu ihrem Ehemann, der gelangweilt in dem Salat auf seinem Teller herum stocherte. Der verfluchte, bestickte Mantel hing über seine Schultern. Möchtest du sie nicht trösten?, dachte sie stumm. In dem Jahr, in dem sie mit Ghan Ilana in der Hütte gewesen war, hatte er wie erwartet mit weiteren Frauen geschlafen. Eine davon hatte ihm diese Tochter geboren. Mahr Lesara. Ein sehr tollpatschiges Mädchen, das auch nicht sonderlich schlau zu sein schien. Da ihre Mutter bei der Geburt gestorben war und sie keinen anderen Ort zum Bleiben hatte, war Mahr Hefay dazu gezwungen gewesen, sie als seine Bastardtochter anzuerkennen und im Rothirsch-Turm aufzuziehen. Nur schenkte er ihr sehr wenig bis gar keine Aufmerksamkeit. So auch jetzt.
Mahr Lesara weinte immer weiter, bis eine Frau sich erbarmte, zu ihr trat und ihr auf die Beine half. Daraufhin wirkte das Mädchen wie ausgewechselt und lief wieder auf Mahr Xero zu. »Xero! Xero!« Sie wusste, dass er ihr Bruder war – oder dass sie wenigstens mit ihm verwandt war –, aber Mahr Xero selbst schien nicht so begeistert davon zu sein. Als er sie sah, verzog er angeekelt das Gesicht.
»Xero! Ich will mitspielen!«, rief Mahr Lesara und klatschte aufgeregt in die Hände. »Darf ich? Darf ich?«
»Nein!«, antwortete er grob. »Ich mag dich nicht! Geh weg!«
Mahr Lesaras Augen füllten sich mit Tränen. »Aber... Aber...«
»Er hat gesagt, dass du weggehen sollst!«, unterstützte ein anderer Junge Mahr Xero und schaute das Mädchen mit übertrieben ernstem Gesicht an. »Er mag dich nicht! Deine Mama ist blöd! Und du bist auch blöd!«
Mahr Lesara ließ traurig die Schultern sinken, bevor sie sich umdrehte und schluchzend weg rannte, wobei sie mehrmals fast hinfiel. Als sie verschwunden war, fuhren die übrigen Kinder mit ihrem Spiel fort als wäre nichts gewesen. Mahr Xero war der Fänger und hetzte wie ein Wirbelwind über die freie Fläche in der Mitte der Halle und zwischen den Gästen hindurch.
»Er ist ein guter Junge«, sagte Mahr Ledja gedankenverloren.
Unerwartet bekam sie eine Antwort von Mahr Hefay: »In der Tat. Er kommt ganz nach mir.«
»Und nach mir. Weißt du nicht mehr, dass ich früher auch immer so stürmisch war?«
Mahr Hefay brummte und wandte sich zu ihr um. »Früher ist früher«, meinte er, während er die Hand nach ihrem Kopfschmuck ausstreckte und mit den goldenen Ketten herumspielte, die davon hinab hingen. Das Schmuckstück gehörte ursprünglich Mahr Bagata, doch seit dem Tod der vorherigen Gilden-Anführerin hatte Mahr Ledja das Recht bekommen, es zu tragen. Sie mochte Schmuck zwar nicht sonderlich, doch er wurde anscheinend von einer Gilden-Anführerin immer zur nächsten weitergegeben und so trug sie ihn bei allen festlichen Anlässen.
»Manchmal wirkt das, was früher war, noch in die Gegenwart weiter«, entgegnete Mahr Ledja und schob Mahr Hefays Hand mit einem nachdrücklichen Lächeln weg. »Du hast mich zwar in prächtige Kleider angezogen und mir viel Schmuck geschenkt, aber mein Wissen über Kämpfe und Waffen ist dadurch keinesfalls verschwunden.«
»Das hoffe ich doch«, sagte Mahr Hefay mit eintöniger Stimme, sodass sie ihm seine Worte eigentlich nicht abkaufte.
Mahr Ledja wollte gerade noch etwas sagen, als die Tore der Halle plötzlich aufgerissen wurden und ein Anhänger ihrer Gilde sich durch die versammelte Menge hindurch nach vorne bahnte. Er wich geschickt Mahr Xero aus, der gerade hinter einem Mädchen her rannte, das vor ihm weglief, und blieb im vorderen Bereich des freien Platzes stehen, wo er sich in Richtung Mahr Hefay und Mahr Ledja verbeugte.
»Gilden-Anführer Mahr, eine Frau wünscht Euch zu sprechen!«, verkündete er laut genug, sodass selbst die Gäste im hintersten Teil der Halle es hören mussten.
Schwierigkeiten?, dachte Mahr Ledja besorgt und beobachtete Mahr Hefays Reaktion aus Augenwinkel heraus. Ihr Ehemann wirkte verärgert.
»Welche Frau wagt es, am Geburtstag meines Sohnes hierher zu kommen und die Feier zu unterbrechen? Schickt sie weg!«, befahl er.
»Gilden-Anführer Mahr, sie... hat jemanden bei sich.« Es war dem Mann offenbar peinlich, vor so vielen Menschen zu sprechen.
Jemanden bei sich? Mahr Ledja beschlich ein schlechtes, ein sehr schlechtes Gefühl! Am liebsten würde sie sofort auf ihre Beine springen und alle Gäste hinaus schicken, um diese Angelegenheit im Privaten zu besprechen. Aber dann würde es nur Gerede geben. Und Gerüchte. Sie riss sich zusammen und sah ihren Ehemann von der Seite erwartungsvoll an.
Dieser seufzte genervt und winkte gelangweilt mit der Hand. »Dann bringt sie halt rein.«
Der Anhänger verbeugte sich und eilte davon. Kurz darauf kam er mit einer Frau an seiner Seite wieder, die ihrerseits ein Kind an ihrer Hand führte.
Kein Mädchen. Mahr Ledja hätte beinahe erleichtert geseufzt, hielt sich im letzten Moment aber zurück und setzte eine Maske der Verwirrung auf.
Die Frau war ungewöhnlich hübsch. Lange, schwarz glänzende Haare fielen ihr über den Rücken und über die Schultern. Ein Teil davon war mit silbernen Spangen und Klammern hoch gesteckt. Sie trug ein rot-weißes Kleid, das wie ein sichtbar gewordener Wind um sie herum flatterte. Sie konnte wahrlich als seltene Schönheit bezeichnet werden. Brauchte sich nicht mal zu schminken. Der einzige Makel war ein Muttermal in der Form eines Schmetterlings, das unter ihrem rechten Auge prangte. Mahr Ledja hatte sie noch nie im Leben gesehen, was bei Mahr Hefay jedoch offenbar nicht der Fall war. Seine rechte Hand verkrampfte sich um die Gabel, die er hielt, während er die Frau verärgert anstarrte.
»Was willst du?« Die Frage war mit einem so verächtlichen Ton gestellt worden, dass mehrere der Gäste erstaunt die Augen aufrissen.
Die Frau verbeugte sich respektvoll und bedeutete dem Jungen an ihrer Seite, es ebenfalls zu tun. Er war etwa in Mahr Xeros Alter. Vielleicht etwas älter. Seine Haare hatten dieselbe Farbe wie die der Frau, die offenbar seine Mutter war.
»Ich sehe, dass Ihr Euch noch an mich erinnert, Gilden-Anführer«, sagte sie mit seidenweicher Stimme, der allerdings ein Hauch von Unsicherheit anhaftete. »Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten. Euer Sohn hat heute Geburtstag?«
Mahr Ledja kämpfte mit dem Instinkt, sofort zu Mahr Xero zu laufen und ihn so weit von dieser Frau wegzubringen wie nur möglich. Irgendein unerklärliches Gefühl von Gefahr ging von ihr aus. Dabei sah sie so unschuldig und zurückhaltend aus.
»Ich frage dich noch ein einziges Mal«, sagte Mahr Hefay. »Was willst du hier?«
»Ich möchte Euch Euren Sohn vorstellen, Gilden-Anführer«, verkündete die Frau und legte dem Jungen die Hände auf die Schultern. »Sogar Euren Erstgeborenen, wenn ich mir Euren anderen Sohn anschaue.« Ihre dunklen Augen richteten sich auf Mahr Xero, der zum Glück von einer Erzwächterin festgehalten wurde, damit er nicht zu dieser Frau ging.
»Glaubst du wirklich, irgendjemand würde dir das abkaufen, Dalja?«, fragte Mahr Hefay gelangweilt. »Du gehörst keiner Gilde an und es ist mehr oder weniger offensichtlich, auf welche Weise du dir dein Geld verdienst. Außerdem sieht dieser Junge mir überhaupt nicht ähnlich.«
Die Frau, Dalja, umklammerte verzweifelt ihren Sohn. »Wie könnt Ihr sowas sagen! Er ist Euer Sohn! Ich weiß es ganz genau! Und Euer Sohn weiß es auch! Ich habe ihm alles über Euch erzählt! Er ist stolz auf seinen Vater! Ich habe ihm versprochen, dass er Euch eines Tages kennenlernt! Dass er im Rothirsch-Turm wohnen wird! Ihr könnt ihn nicht einfach wegschicken!«
»Man sollte nichts versprechen, was man nicht halten kann«, meinte Mahr Hefay und winkte gleichgültig mit der Hand. »Bringt sie weg. Alle beide. Gebt ihnen meinetwegen etwas Geld für die Reise mit, aber schafft sie hier raus!«
Sofort war der Anhänger, der sie reingebracht hatte, zur Stelle. Er bat Dalja höflich darum, ihm zu folgen, was sie jedoch nicht tat. Ihre dunklen Augen waren auf Mahr Hefay gerichtet, voller Enttäuschung und Unglauben. Kurz blitzte ein seltsamer Funke darin auf.
»Das werdet Ihr noch bereuen«, sagte sie leise.
»Du wagst es, Gilden-Anführer Mahr zu drohen?«, rief ein Erzwächter aufgebracht und machte Anstalten, auf die Frau loszugehen, aber sie hatte sich schon umgedreht. Das rot-weiße Kleid flatterte wie eine leichte Windböe hinter ihr her. Kurz bevor sie um die Ecke verschwand, schaute der Junge noch einmal zurück in die Halle. Eine traurige Sehnsucht lag in diesem Blick.
Es dauerte nicht lange, bis die Feier wieder im Gange war. Der Vorfall schien praktisch vergessen. Mahr Xero spielte weiter mit den anderen Kindern fangen, während Mahr Lesara etwas abseits stand und traurig zuschaute.
»Ist das wirklich dein Sohn oder hast du das nur gesagt, um sie loszuwerden?«, wandte Mahr Ledja sich an Mahr Hefay.
»Ich hatte mal eine kurze Affäre mit ihr, wenn du das meinst«, antwortete er. »Aber das war, bevor ich dich geheiratet habe. Sie war eine Tänzerin und wurde wegen ihrer Schönheit von vielen begehrt. Es ist gut möglich, dass der Vater dieses Jungen jemand anderes ist. Das ist sogar wahrscheinlicher. Warum sonst wäre sie erst hierher gekommen, nachdem ich Gilden-Anführer geworden bin? Offensichtlich ist sie nur auf Geld aus und möchte ihrem Bastard ein gutes Leben ermöglichen. Es enttäuscht mich etwas, dass sie mich für so dumm hält.«
Mahr Ledja traute sich nicht zu fragen, ob sie sich ihm freiwillig hingegeben hatte oder ob er sie dazu genötigt hatte. Der Schrecken, den Ghan Ilana durchgemacht hatte, hatte sich viel zu fest in ihren Kopf eingebrannt. Mittlerweile traute sie Mahr Hefay alles zu.
»Machst du dir denn keine Sorgen, dass diese Frau wirklich etwas macht, sodass du deine Entscheidung bereuen wirst?«, hakte sie besorgt nach. Diese Gefahr, die von Dalja ausgegangen war, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
»Was soll sie schon machen?« Mahr Hefay drehte die Gabel in seiner Hand gelangweilt hin und her. »Meinen angeblichen Sohn töten? Meinetwegen. Ich erkenne ihn sowieso nicht an.«
Mahr Ledja nickte, war aber trotzdem nicht ganz überzeugt. Irgendwas sagte ihr, dass Dalja dafür sorgen würde, dass nicht nur Mahr Hefay, sondern die ganze Mahr-Gilde es bereuen würden.
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Allmählich kommen ein paar Sachen zusammen ;)
Leichte Trigger-Warnung fürs nächste Kapitel.
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