Kapitel 62: Unschuld - Teil 3
Als Rin Verran am nächsten Morgen das Unterrichtszimmer im ersten Stock betrat, war Sun Shimei bereits da. Der Junge saß mit gerade durchgestrecktem Rücken und aufgeregt leuchtenden Augen am vordersten Tisch. Er hatte seine fast schon Lumpenkleidung gegen Hose und Hemd in den Farben der neuen Rin-Gilde ausgetauscht, die ihm offenbar sehr zu gefallen schien.
»Meister Rin!«, rief er sogleich. »Was werden wir heute durchnehmen? Den Kodex? Wie man erfolgreiche Verhandlungen führt? Unterschiede zwischen den verschiedenen Gilden?«
Rin Verran schmunzelte fast, wurde dann jedoch wieder ernst. Rin Raelin und er hatten damals in der Gämsen-Pagode ihre eigene erste Unterrichtsstunde verpasst, weil sie den Zettel mit der Uhrzeit übersehen hatten. Demnach war er sich nicht sicher, mit welchem Thema man normalerweise anfing. Er hatte zwar als Strafe die ganzen Hefte abschreiben müssen, aber als ob er sich den Inhalt davon gemerkt hatte... Stattdessen kam ihm in den Sinn, dass Meister Jhe ihm relativ an Anfang schon von der Auslöschung der Mehn-Gilde erzählt hatte.
»Gerechtigkeit«, sagte er und begriff erst beim Geräusch der über Papier kratzenden Schreibfeder, dass er es laut ausgesprochen hatte. Er ist wirklich fleißig. »Das brauchst du nicht aufzuschreiben. Es ist eine mündliche Lektion.«
Sofort legte Sun Shimei die Feder beiseite und schaute ihn aufmerksam an, die Stirn vor Konzentration leicht gerunzelt, was bei ihm jedoch eher komisch aussah.
»Was, denkst du, ist Gerechtigkeit?«
»Dass jeder das bekommt, was er verdient!«, antwortete Sun Shimei blitzschnell. »Kriminelle werden bestraft und Rechtschaffene belohnt!«
»Und woher weißt du, ob jemand das eine oder das andere ist?«
»Man...« Der Junge blinzelte leicht verwirrt. »Man weiß sowas doch. Wenn jemand einen anderen getötet hat, ist er kriminell. Wenn jemand einem anderen geholfen hat, ist er rechtschaffen.«
»Und wenn viele sagen, dass jemand kriminell ist, du aber weißt, dass derjenige unschuldig ist?«
»Dann sorge ich dafür, dass er nicht bestraft wird!«, antwortete Sun Shimei entschlossen.
»Auch, wenn du dich dafür gegen deine eigenen Leute stellen musst?«, hakte Rin Verran nach. »Wenn du dich gegen die ganze Welt stellen musst und dabei womöglich sogar stirbst?«
Der Junge riss erschrocken die Augen auf, erhob sich dann jedoch von seinem Stuhl und sagte fest: »Ich werde nicht zulassen, dass ein Unschuldiger bestraft wird! Niemals! Selbst wenn ich bei dem Versuch, ihn zu beschützen, sterbe!«
Oh du unwissender Junge, dachte Rin Verran, bewunderte ihn aber für seinen Mut. Er hatte sich nicht getäuscht, was Sun Shimeis gutes Herz anging. »Gut«, sagte er. »Erinnere dich an deine Worte. Sie werden dich dein Leben lang begleiten. Tu nie etwas, was du im Nachhinein bereuen wirst. Mach...« Nicht dieselben Fehler wie ich, wäre es ihm beinahe rausgerutscht. »Mach das, was du für richtig hältst.«
Sun Shimei verbeugte sich eifrig. »Ja, Meister Rin!«
»Setz dich wieder hin.« Er überlegte kurz und fügte möglichst freundlich hinzu: »Du brauchst mich nicht immer mit ›Meister Rin‹ anzureden. Einfach nur Rin Verran reicht.«
Der Junge nickte und schaute ihn wieder mit erwartungsvollen Augen an. Er war offensichtlich hungrig nach Wissen. Das war ziemlich ungewöhnlich für jemanden, der aus einer einfachen Arbeiterfamilie kam. Die meisten sahen entweder voller Neid zu den Erzwächtern auf, zu denen sie nie gehören würden, oder ignorierten sie den Großteil der Zeit, bis sie irgendwann ihre Hilfe benötigten. Diese Einstellung war seit dem Krieg fast überall anzutreffen. Vorher waren die Erzwächter noch von allen bewundert, geachtet und respektiert worden, doch das hatte sich jetzt geändert. Dass Sun Shimei lesen und schreiben konnte war ebenfalls beachtlich.
»Du kommst aus Tahma«, erinnerte Rin Verran sich. »Als was arbeiten deine Eltern dort? Wirst du zu ihnen zurückkehren, wenn du deine Ausbildung abgeschlossen hast?«
»Meine Eltern sind Bauern«, antwortete Sun Shimei. Der zögernde Tonfall passte überhaupt nicht zu dem angedeuteten Lächeln auf seinem Gesicht. »Mein Vater ist aber schon gestorben, als ich zehn war. Meine Mutter musste das Land dann zusammen mit meinen älteren Brüdern bestellen. Ich verdanke ihr so viel! Sie wusste, dass es mein größter Wunsch ist, ein Erzwächter zu werden. Deswegen hat sie einen Teil der Felder verkauft, um für meine Ausbildung zu bezahlen. Wenn ich ein richtiger Erzwächter bin, werde ich zu ihr zurückkehren und ihr alles kaufen, was sie sich wünscht! Meinen Brüdern auch!«
»Sie ist eine gute Frau. Sie kann sich glücklich schätzen, einen Sohn wie dich zu haben.«
Sun Shimei strahlte.
Den Rest des Vormittags versuchte Rin Verran, sich so gut er konnte an die Lektionen zu erinnern, die Meister Jhe ihm und Rin Raelin damals gegeben hatte, und hoffte, dass er keine Fehler machte, denn Sun Shimei fing nach einer Weile an, eifrig alles aufzuschreiben. Ich muss mir wirklich wieder ein paar der Bücher durchlesen, seufzte er innerlich. Ich hatte den ganzen Winter dafür Zeit. Warum habe ich es nicht gemacht? Er kannte die Antwort darauf bereits. Ich mag keine Bücher. Aber Sun Shimei schien sie zu lieben.
Jeden Tag nach dem Unterricht verschwand er nicht zusammen mit den anderen Schülern nach draußen und in Richtung des Sees, sondern ging die Treppen zur Schriftensammlung hoch. Dort saß er dann bis spät abends und musste manchmal sogar von einem der Diener aus dem Rothirsch-Turm zum Haus der Schüler geführt werden. Da es hier – im Gegensatz zu Gämsen-Pagode – keine einzelnen Hütten für die Schüler eines Meisters gab, wohnten die Jugendlichen alle zusammen und durcheinander in einem Gebäude. Manchmal bekam Rin Verran mit, dass es Streit zwischen einigen von ihnen gab, aber es war nichts Ernstes, sodass er nicht einschritt.
Es waren gerade mal zwei Wochen vergangen, als Rin Verran die Treppe runter kam und bemerkte, dass die Schüler von Mahr Xero unschlüssig vor der verschlossenen Tür ihres Unterrichtsraums standen. Verwirrt hielt er inne. Normalerweise war der Meister immer vor seinen Schülern da. Sun Shimei war da eine Ausnahme. Mit einer düsteren Vorahnung trat er zu einer Gruppe der wartenden Jugendlichen.
»Ist Mahr Xero nicht da?«
Mehrere von ihnen schüttelten den Kopf.
»Jhe Seyla ist nach oben gegangen, um nach ihm zu schauen, aber sie ist nicht wiedergekommen«, sagte ein Junge mit rötlich blondem Haar und Sommersprossen.
Rin Verran unterdrückte einen leisen Fluch, indem er die Kiefer fest zusammenpresste. Er ignorierte die verwunderten Blicke der Schüler, machte auf dem Absatz kehrt und lief die Treppen wieder hoch. Mahr Xeros Tür war nur angelehnt und als er eintrat, sah er sofort die leere Flasche auf dem Tisch stehen. Wütend fuhr er zu dem schwarzhaarigen Mädchen herum, das mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf ihren Meister starrte. Mahr Xero lag auf dem Boden zwischen dem Bett und dem Sofa, direkt neben einer Pfütze Erbrochenem.
»Was zum Henker!«, fuhr Rin Verran Jhe Seyla an. »Hast du ihm die Flasche gebracht?«
»Ich... Ich...«, stotterte das Mädchen und platzte dann heraus: »Ich wusste doch gar nicht, dass sowas passieren kann! Was... Was ist mit ihm los? Warum geht es ihm so schlecht?«
»Er darf keinen Alkohol trinken«, presste er hervor, während er zu Mahr Xero hin ging, sich neben ihm hin hockte und ihm zwei Schläge auf die Wangen gab. Seine Augenlider flatterten und er stöhnte leise, aber sonst passierte nichts. Rin Verran sah zu der Flasche hinüber und fluchte. »Warum ausgerechnet Frostwein? Er ist sehr stark! Wo hast du den her?«
»Der Koch hat...«
»Der Koch ist ab heute gefeuert«, donnerte Rin Verran und packte Mahr Xero unter den Schultern, um ihn hoch zu hieven und aufs Bett zu legen. »Sag den anderen, dass der Unterricht heute ausfällt. Auch der von Sun Shimei. Erzähl keinem, was du hier gesehen hast.«
Jhe Seyla nickte eingeschüchtert.
»Und schick einen der Diener her«, befahl er.
Das Mädchen nickte wieder und stürmte überstürzt aus dem Zimmer. Ihre polternden Schritte verklangen in der Ferne und kurz darauf erklang von draußen das Gemurmel der Schüler, die sich über den unerwarteten freien Tag freuten. Rin Verran schüttelte Mahr Xero erneut. »Wach auf!«
Dieses Mal öffnete er wirklich die Augen und zischte unwillig, weil ein heller Sonnenstrahl ihm ins Gesicht schien. »Was los?«, murmelte er.
»Warum hast du deiner Schülerin gesagt, dass sie dir etwas zu trinken besorgen soll?«, fuhr Rin Verran ihn an. »Hast du vergessen, was wir besprochen haben?«
Mahr Xero lachte kurz auf. »Weißt du, wie schwer es ist?« Erschrocken sah Rin Verran, dass sich Tränen in den Augenwinkeln des Mannes sammelten. »Wie schwer es ist, all seine Sinne zusammen zu haben? Zu akzeptieren, was passiert ist und einfach weiterzuleben? Es hilft mir, zu vergessen.«
»Du hast mich selbst darum gebeten, allen Alkohol zu verstecken!«
»Ich brauche ihn aber!«, schrie Mahr Xero plötzlich. »Verstehst du es nicht? Ich brauche ihn! Anders ist es nicht auszuhalten! Ich habe Dinge gesehen... Dinge getan...«
»Das habe ich auch. Das haben viele. Doch das Leben geht weiter. Denkst du, deinen Eltern würde es gefallen, dich so zu sehen?«
»Mein Vater hat auf uns geschissen!«, stieß Mahr Xero hervor. »Und meine Mutter hat sich in ihrem eigenen Zimmer aufgehängt! Was kümmert es mich, was ihnen gefällt!«
Rin Verran seufzte. Er ist nicht bei Sinnen. Im selben Moment kam Mahr Xeros Diener mit einem Waschlappen und einem Eimer Wasser rein, um den Boden vom Erbrochenen zu säubern. Ein letztes Mal sah Rin Verran zu Mahr Xero, der sich jetzt die Hand über die Augen gelegt hatte. Offenbar wollte er es so aussehen lassen als würde er sein Gesicht vor den Sonnenstrahlen abschirmen, aber die glänzenden Tränenspuren auf seinen Wangen verrieten den eigentlichen Grund.
Die nächsten Tage war Rin Verran dazu gezwungen, die Schüler von Mahr Xero mit zu unterrichten, weil dieser sich in seinem Raum eingeschlossen hatte und sich weigerte, raus zu gehen. Für die anderen hieß es, dass er krank war. Nur allmählich kehrte er zu einem besseren Zustand zurück und übernahm nach etwa zwei Wochen wieder den Unterricht. Währenddessen weitete Sun Shimeis Wissen sich immer weiter aus. Er war entschlossen, alles zu lernen, was es nur zu lernen gab, und teilweise musste Rin Verran selbst zu einigen Büchern greifen, um seinen Wissensdurst zu stillen und seine Fragen beantworten zu können.
»So viel Arbeit?«, fragte Rin Veyvey ihn einmal belustigt, als er in seinem Zimmer am Fenster saß und versuchte zu verstehen, ob Pflanzen jetzt Lebewesen waren oder nicht. Der Autor machte es sich wirklich nicht leicht mit der Definition.
»Offensichtlich«, murrte Rin Verran und blätterte die Seite um, als Rin Veyvey auf einmal vor ihn trat und ihn dazu zwang, das Buch zu senken.
»Ich gehe mit Kahna nach draußen, damit sie dort etwas spielen kann«, sagte sie und schaute ihn auffordernd an.
»Tut mir leid. Ich kann nicht mitkommen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf und schaute mit einem traurigen Lächeln zu seiner Tochter hinüber, die in der Mitte des Zimmers auf dem Boden saß und mit zwei Puppen spielte, die Rin Veyvey ihr im Winter genäht hatte. Rin Kahna war das einzige Kind ihres Alters im Rothirsch-Turm und manchmal überlegte Rin Verran, ob er sie und ihre Mutter nicht einfach zurück zum Krähen-Palast schicken sollte, aber das wollte er ihnen nicht antun. So hatte seine Tochter zwar keine Spielkameraden, aber sie war wenigstens in Sicherheit. Allmählich verstand er, warum die Meister der Val-Gilde keine Ehepartner und eigene Kinder haben durften. Sie waren viel Verantwortung und beanspruchten viel Zeit, die ein Meister ihnen durchschnittlich nicht geben konnte.
»Ich verstehe«, meinte Rin Veyvey trotzdem enttäuscht. »Kannst du dann wenigstens den Ball vom Schrank runter holen? Kahna hat ihn gestern dort hoch geschmissen und er ist so weit nach hinten gerollt, dass ich da nicht ran komme.«
Rin Verran legte das Buch beiseite und erhob sich. Der Ball war wirklich ziemlich weit nach hinten gerollt, aber endlich fasste er ihn. Dabei strichen seine Finger über etwas, das sich wie Leder anfühlte. Verwirrt blinzelte er, ließ sich aber vorerst nichts anmerken und reichte Rin Veyvey den Ball. Daraufhin trat sie zu Rin Kahna und hievte sie auf die Beine, bevor sie beide aus dem Zimmer verschwanden.
Sobald die Tür geschlossen war, tastete Rin Verran mit der Hand wieder auf der Oberseite des Schrankes herum. Es war unglaublich staubig und mehrmals musste er husten, aber dann fand er das wieder, was er vorhin berührt hatte. Mit gerunzelter Stirn packte er den Gegenstand und zog ihn heraus.
Es war ein in Leder gebundenes Buch ohne Titel, sah eher aus wie ein ungewöhnlich dickes Heft, in das man Notizen schrieb. Als er die erste Seite aufschlug, hielt er kurz inne. Das Tagebuch von Mahr Ledja? Wahrscheinlich hatte man es übersehen, als alle anderen Sachen aus den Räumen entfernt worden waren. Immerhin lag es sehr weit hinten auf einem sehr hohen Schrank. Aus reiner Neugier blätterte er flüchtig durch die Seiten und stockte etwa bei den letzten zwanzig Seiten. Die Schrift sah hier viel unordentlicher und krakeliger aus als am Anfang, wo jeder Buchstabe fast schon wie ein Kunstwerk wirkte. Langsam blätterte er wieder nach vorne, um den Eintrag zu finden, ab dem die Schrift sich verändert hatte. War etwas passiert, das Mahr Ledja so sehr aus der Fassung gebracht hatte, dass sie danach keinen Wert mehr auf die Schönheit der Buchstaben legte? Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich auf seiner Haut aus.
Als er den Eintrag fand und den ersten Satz las, weiteten seine Augen sich vor Entsetzen und er hätte das Buch beinahe fallen gelassen. Geschockt tastete er nach dem Stuhl am Fenster und setzte sich. Seine Gedanken wirbelten wild umher, während er vergeblich zu verstehen versuchte, was das bedeutete. Er starrte den Satz erneut an. ›Nun haben Bruder und Schwester also geheiratet.‹
Was zum Henker! Er las ein Stück weiter und unsagbares Entsetzen ergriff ihn. Dann blätterte er so weit nach vorne, wie nötig war, um die ganze Geschichte zu verstehen. Auf welches grausame Geheimnis bin ich nur gestoßen?
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Und damit heiße ich euch in der Vergangenheit willkommen :)
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