Kapitel 61: Unschuld - Teil 2
Auch der Rothirsch-Turm selbst war von den Arbeitern kunstvoll umgebaut und aufgeräumt worden. Am selben Tag noch quartierte Rin Verran sich mit Rin Veyvey und Rin Kahna in einem Zimmer im vierten Stock ein, das aller Ansicht nach früher das von Mahr Ledja gewesen war. Die Gilden-Anführerin, die später Selbstmord begangen hatte, hatte wirklich den prachtvollsten Raum von allen gehabt. Es gab ein großes Bett, das von dünnen Stoffbahnen umgeben war, die von der Decke hingen. Neben einem der zwei Fenster stand ein Schrank aus lackiertem Holz, der jedoch leer war. Allgemein waren alle persönlichen Gegenstände der früheren Bewohner aus den Zimmern entfernt und entweder zum Krähen-Palast gebracht oder weggeschmissen worden. In den oberen vier Stockwerken würde die neue Schriftensammlung eröffnet werden. Nur mussten die ganzen Bücher, Hefte und Schriftrollen noch sortiert werden. Das nahm den größten Teil der Zeit ein, die sie bis zum Frühlingsanfang hatten. Dann würden die ersten Schüler kommen, um sich ihren Meister auszusuchen.
Während die Tage kälter wurden und der Herbst allmählich in den Winter überging, tat Rin Verran sein Bestes, um den Arbeitern dabei zu helfen, das Haus der Bediensteten in das Haus für die Schüler umzubauen und noch weiter zu erweitern. Während seines dritten Jahres an der Gämsen-Pagode war er nicht nur mit Fischern auf den Stillwasser-See gefahren und hatte in kleinen Dörfern als Wache ausgeholfen, sondern er hatte auch gelernt, mit Handwerkzeug umzugehen. Nach einigen Wochen war seine Erinnerung so weit zurückgekehrt, dass er mit den Arbeitern mehr oder weniger mithalten konnte. Wrun Tarebo legte auch Hand an, während Wrun Lilath die Schriften aus der Gämsen-Pagode sortierte. Mit Mahr Xero konnte man hingegen fast gar nicht mehr sprechen. Er schloss sich die meiste Zeit über in seinem Zimmer ein und kam nur raus, um sich eine neue Flasche Alkohol zu holen. Als ein Diener sie ihm einmal abnehmen wollte, hatte er ihn so sehr angeschrien und dann von sich gestoßen, dass es jetzt niemand mehr wagte, sich mit ihm anzulegen. Erst recht nicht, wenn er Finsterlicht an seiner Seite hatte. Ghan Shedor hatte ihm sein Schwert nie abgenommen, denn er hatte es schließlich gebraucht, um seinen Vater umzubringen.
Als der erste Schnee fiel, war das meiste schon getan. Die neuen Bewohner des Rothirsch-Turms zogen sich in ihre Zimmer zurück und der Großteil der Arbeiter brach nach Hause auf. Rin Verran hatte gerade die letzten von ihnen verabschiedet und sich umgedreht, als er sah, wie eine einsame Gestalt leicht schwankend und mit ausgebreiteten, kurzen Armen durch den Schnee tapste. Hinter ihr ging Rin Veyvey, leicht hinuntergebeugt, und ließ ihre Tochter nicht aus den Augen.
Ein warmes Gefühl umfing Rin Verrans Brust. Er wusste zwar, dass Rin Kahna bereits einige Schritte alleine gehen konnte, aber diese Strecke war schon sehr lang und zudem auch noch ziemlich rutschig. Mit einem Lächeln, das er nicht unterdrücken konnte, kam er seiner Tochter entgegen, hockte sich hin und breitete seine Arme aus. »Komm her, mein Schatz!«, rief er. »Das machst du gut!«
Rin Kahna brabbelte etwas vor sich hin, was er nicht verstand, und tat den nächsten Schritt. Als sie nur noch ein kleines Stück von ihm entfernt war, streckte er sich nach vorne und fing sie auf. »Hab dich!« Sie lachte. Es war das unschuldigste und fröhlichste Lachen, das er je gehört hatte. Ihre großen Augen richteten sich auf ihn.
»Papa«, sagte sie mit erstaunlich ernstem Gesicht und zeigte dann auf den Boden. »Da!«
»Das ist Schnee.« Rin Verran nahm etwas des weißen Pulvers in die Hand und formte es zu einem kleinen Ball. Er erinnerte sich daran, dass Rin Kahna genau an einem solchen Tag geboren worden war. Gedankenverloren ließ er den Schneeball wieder zu Boden fallen, wo er auseinander fiel. »Wenn du größer bist, können wir ganz viel damit spielen.«
»Spielen!«, rief Rin Kahna begeistert und plumpste in den Schnee. Sie fing an, mit ihren Beinen zu strampeln und warf das weiße Pulver mit ihren Händen hoch.
Rin Verran schaute besorgt zu Rin Veyvey hinüber. Ist es nicht viel zu kalt für sie, um so lange draußen zu bleiben und zu spielen? Doch Rin Veyvey gab ihm nur ein warmes Lächeln, bevor sie ihr Wollkleid zusammenraffte und sich ebenfalls in den Schnee setzte.
»Keine Sorge«, flüsterte sie ihm zu. »Lai Vatani meinte, eine Stunde wäre in Ordnung. Sie ist ja warm angezogen.« Dann hob sie Rin Kahna hoch und setzte sie sich auf ihren Schoß. Das kleine Mädchen gluckste vergnügt. »Man kann ganz viel mit Schnee machen«, sagte sie, während sie etwas davon zusammenschaufelte. »Man kann Türme bauen. Ganz große Türme.«
»Da!«, rief Rin Kahna und schlug den gerade von Rin Veyvey gebauten Turm in mehrere Stücke. Stolz schaute sie ihre Mutter an, die belustigt schmunzelte.
»Oder du kannst deinen Handabdruck hinterlassen«, meinte sie und presste ihre Hand auf den Schnee. Als sie sie wieder weg nahm, war ein Teil geschmolzen und man erkannte klar und deutlich den Umriss. »Papas Hand ist aber noch viel größer.« Auffordernd sah sie Rin Verran an, der nach kurzem Zögern auch seinen Handabdruck hinterließ.
Mit großen Augen sah Rin Kahna von einem Abdruck zum anderen und dann auf ihre eigene Hand. Rin Veyvey hielt sie fest, während ihre Tochter sich vorbeugte und ihre Hand dazwischen auf den Schnee legte. Da sie Fäustlinge trug, war ihr Umriss etwas unförmig, was ihr jedoch nichts auszumachen schien. Glucksend schaute sie auf die drei Abdrücke im Schnee und strampelte aufgeregt mit den Beinen, bevor sie von Rin Veyveys Schoß aufstand und etwas ungeschickt zurück in Richtung Rothirsch-Turm stolperte. Rin Veyvey folgte ihr sofort, warf Rin Verran aber noch einen Blick zu, den er nicht richtig deuten konnte.
»Was ist?«, fragte er verwirrt.
»Sie denkt, dass zwischen uns alles gut ist«, sagte sie im Weggehen. »Ich möchte, dass das so bleibt.«
Rin Verran wusste nicht, was er darauf antworten sollte, beobachtete nur, wie die zwei im Rothirsch-Turm verschwanden. Sein Blick fiel auf die drei Handabdrücke im Schnee. Alle dachten, dass er unfassbares Glück mit Rin Veyvey gehabt hatte, dass sie eine glückliche Familie waren und einander liebten. Doch niemand wusste, dass er sich manchmal immer noch nach Dul Arcalla sehnte. In letzter Zeit vielleicht weniger, aber das lag daran, dass er keine Hoffnung mehr hatte, sie je wieder zu sehen. Und sie würde ihm auch nicht vergeben. Dass Rin Veyvey mir verziehen hat, ist schon ein Wunder. Falls sie es überhaupt getan hat. Eigentlich geht sie allen Gesprächsthemen über den Krieg und die Eroberung des Forellen-Pavillons einfach nur aus dem Weg.
Im letzten Wintermonat kam mehrere Wägen voller Stoffe und Kleidung. Da Rin Verran nun der Anführer seiner eigenen Gilde, der neuen Rin-Gilde, und der Rothirsch-Turm sein neuer Wohnsitz war, würden die Schüler, die hierher kamen, um zu studieren, entsprechend auch die Farbe seiner Gilde tragen. Er hatte viel hin und her geschwankt. Das Schwarz der Rin-Gilde erinnerte ihn zu sehr an den Phönix-Hof und seine Familie, die in alle möglichen Winkel zerstreut worden war und es reichte schon, dass er ihren Namen übernommen hatte. Die Gilde seiner Mutter hatte rote Kleidung mit orangenen Flammen getragen, aber das war ein zu starker Kontrast zu seinem grünen Umhang. Letztendlich hatte er sich für ein helles Blau entschieden, das etwa dem des Wellenmusters auf der Kleidung der Dul-Gilde entsprach. Wenigstens schien das Rin Veyvey etwas milder zu stimmen. An den Säumen der Hemden, Hosen und Kleider waren jeweils drei dunkelblaue Streifen aufgestickt.
Nach dem Winter kam der Frühling. Der Schnee schmolz unter den hellen Sonnenstrahlen dahin und wurde zu schmalen Rinnsalen und Bächen, die den Schwarzgras-Berg hinunter rauschten. Östlich des Rothirsch-Turms gab es einen kleinen See, der zwar über die Ufer getreten war, aber von mehreren Dämmen eingegrenzt wurde, die die Mahr-Gilde dort wohl einst hingebaut hatte. Irgendwo im Schwarzgras-Berg – genauer gesagt in der Höhle, die man durch das Badehaus betreten konnte – entsprang nämlich die Quelle, die später zu dem Fluss anschwoll, der durch alle Gilden-Territorien floss. Schon früher hatte Rin Verran bemerkt, dass der Ferne Strom im Frühling häufig mehr Wasser als sonst führte. Jetzt kannte er auch den Grund dafür. Es lag an der Schneeschmelze.
Den Tag bevor die ersten Schüler eintreffen würden, waren alle Menschen im Rothirsch-Turm bis zur Belastungsgrenze hin unruhig. Alles war vorbereitet. Die Häuser erweitert und umgebaut, die Kleidung bereitgelegt, die Angestellten und Diener angereist. Trotzdem hing eine Anspannung in der Luft, die man fast mit den Händen fassen konnte. Niemand wusste mit Sicherheit, ob alles so gut gehen würde, wie sie es sich erhofft hatten. Zwar hatte Ghan Shedor vorhergesagt, dass viele Familien aus den eroberten Territorien ihre Kinder zum Rothirsch-Turm schicken würden und dass die Krieger der Sonne und ihre Freunde damit erstmal andere Sorgen hatten, aber wer sagte, dass das wirklich passieren würde? Könnten sie nicht auf die Idee kommen, sich als Fünfzehnjährige zu verkleiden und versuchen, den Rothirsch-Turm so von innen heraus wieder zurück zu erobern? Außerdem war es offensichtlich, dass die Kinder leicht als Geiseln benutzt werden könnten, sollte es zu weiteren Aufständen kommen.
In der Nacht konnte Rin Verran kaum schlafen, drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere, bis Rin Veyvey ihn genervt aus dem Bett und dann aus dem Zimmer warf. Leise fluchend ging er auf dem Flur hin und her, bis er plötzlich ein dumpfes Poltern aus dem letzten Zimmer im Gang hörte. Es gehörte Mahr Xero. Er überlegte kurz, ob er hingehen und nachfragen sollte, ob alles in Ordnung war, zögerte aber. Mahr Xero trank in letzter Zeit so viel, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn er über seine eigenen Beine gestolpert und hingefallen war, was dann seine eigene Schuld wäre. Andererseits könnte er sich auch verletzt haben. Unschlüssig starrte Rin Verran in Richtung der Tür, bis er einen unterdrückten Fluch ausstieß und doch noch zu ihr hin ging. Aber als er klopfte, machte niemand ihm auf. Und die Tür selbst war von innen abgeschlossen.
»Mahr Xero?«, fragte Rin Verran mittlerweile echt besorgt.
»Hau ab«, hörte er die gepresste und undeutliche Stimme.
»Verdammt, du solltest jetzt schlafen! Morgen kommen die Schüler! Einige von ihnen werden dich als Meister auswählen wollen! Und du bist in so einem Zustand!«
»Was für ein Zustand?«, erklang Mahr Xeros Stimme, gedämpft durch das Holz der Tür.
»Du bist betrunken.«
»Betrunken vor Glück!«, lachte der andere, aber es war ein Lachen voller Verzweiflung und Schmerz. »Ich bin einer der vier großen Meister! Ha! Alles, was ich mir gewünscht habe, ist in Erfüllung gegangen! Ich bin der beste von allen! Ich könnte jeden von euch mit Leichtigkeit besiegen! Weißt du, wie das geht? Haha!«
Auf einmal klickte es, als Mahr Xero den Schlüssel umdrehte, und kurz darauf zog er die Tür auf. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, während er mit der anderen sein Schwert Finsterlicht hielt und es mit offensichtlich großer Anstrengung auf Rin Verran richtete.
»Wir haben noch einen Kampf offen. Hast du schon vergessen, Rin... Ver...« Mahr Xero stöhnte auf und verzog gequält das Gesicht, bevor er Finsterlicht fallen ließ und zurück ins Zimmer stolperte. Aus irgendeiner dunklen Ecke ertönte ein Würgen, gefolgt von den Geräuschen einer Person, die sich in einen Eimer erbrach.
Rin Verran hob das Schwert auf und trat vorsichtig ein. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Überall lagen leere Flaschen auf dem Boden herum und es stank nach Alkohol, Schweiß und ungewaschener Kleidung. War wirklich seit drei Monaten niemand mehr hier drin gewesen? Besorgt sah er hinüber zu Mahr Xero, der neben einem Eimer auf dem Boden hockte und sich fahrig und mit zitternden Fingern die lang gewachsenen Haare aus dem Gesicht strich. An einigen Strähnen und an seinem Bart klebte noch Erbrochenes.
»Was guckst du so?«, lallte er herausfordernd. »Wenn du nicht kämpfen willst, dann hau ab. Gib mir mein Schwert wieder!«
Rin Verran gab es ihm nicht wieder, sondern legte es einfach auf dem Tisch zwischen den vielen leeren Flaschen ab. Es klirrte leise, als Glas gegen Metall stieß.
»Das kann so nicht weitergehen«, sagte Rin Verran streng. »Ich weiß nicht, was du alles durchleben musstest, als du alleine unterwegs warst, und ich möchte es mir auch gar nicht vorstellen, aber du kannst dein Sorgen nicht einfach in Alkohol ertrinken. Das macht alles nur noch schlimmer.«
»Noch schlimmer?« Mahr Xero lachte, hielt kurz inne, um in den Eimer zu spucken, und fuhr dann fort: »Es kann nicht noch schlimmer werden.«
»Es wird noch schlimmer werden, wenn du morgen betrunken auf dem Platz vor dem Rothirsch-Turm auftauchst.«
»Was kümmert es mich, was die anderen denken? Ich scheiße auf deren Meinung!«
»Dann scheiß meinetwegen auf deren Meinung, aber möchtest du wirklich, dass alle sehen, dass Ghan Shedor es geschafft hat, dich endgültig zu brechen? Ich weiß, du hasst ihn für das, was er dir und deiner Familie angetan hat. Aber wenn du den anderen zeigst, dass du immer noch der Mahr Xero von damals bist, der Weiße Tiger, den man nicht zähmen kann, dann werden sie sehen, dass Ghan Shedor nicht allmächtig ist. Dass er es nicht geschafft hat, dich zu bändigen.«
»Schwachsinn«, spuckte Mahr Xero aus.
»Schwachsinn oder nicht. Es liegt an dir, dich zwischen dem Weißen Tiger und dem zahmen, betrunkenen Kätzchen zu entscheiden«, entgegnete Rin Verran. Er trat zum Tisch heran und nahm die einzige Flasche in die Hand, die noch voll war. »Die nehme ich mit, wenn du nichts dagegen hast.«
Mahr Xero starrte ihn nur mit blitzenden Augen ab, doch dieses Mal leuchtete wieder ein heller Funke in ihnen. »Mach, was du willst«, murmelte er nur und kroch auf allen Vieren hinüber zum Bett. Statt darauf zu klettern, zog er jedoch die ohnehin schon zerknüllte Decke zu sich runter und wickelte sich darin ein. »Hau ab.«
Rin Verran seufzte. Er konnte Mahr Xero in so einem Zustand nicht alleine lassen. Also verließ er das Zimmer nur kurz, um die Flasche in einer Abstellkammer zu verstecken, bevor er zurückkehrte und sich auf das Sofa setzte, nachdem er etwas Platz geschafft hatte. In dieser kurzen Zeit hatte Mahr Xero es irgendwie geschafft, sich trotzdem noch aufs Bett zu hieven. Rin Verran wollte sich gerade aufs Sofa legen, um wenigstens für den Rest der Nacht ein Auge zu zu tun, aber da erklang Mahr Xeros leise murmelnde Stimme.
»Damals, in der Gämsen-Pagode... Ich dachte, kämpfen wäre gut. Man kämpft, um die Unschuldigen zu beschützen. Man kämpft für Frieden. Man kämpft für die, die einem teuer sind. Aber was ist, wenn es keine Unschuldigen mehr gibt? Wenn ein Frieden, wie man ihn will, unerreichbar ist? Wenn alle, die einem etwas bedeuten, tot sind?«
»Dann kämpft man für das, was man für richtig hält«, antwortete Rin Verran und blies die Kerzenflamme in der Lampe neben dem Sofa aus.
»Und wenn das Richtige falsch ist?«
»Wie kann das Richtige falsch sein?«
»Es ist falsch, weil alle denken, dass es falsch ist. Aber für mich ist es richtig.«
»Richtig und falsch sind Sachen, die für jeden Menschen anders sind.« Rin Verran wusste nicht, ob Mahr Xero sich überhaupt bewusst war, was er da redete, aber vorsichtshalber antwortete er. Er hatte gehört, dass einige sehr philosophisch werden konnten, wenn sie betrunken waren.
»Ich weiß, ich weiß! Aber warum sind sie für jeden anders? Warum ist das so? Warum kann es nicht einfach eine richtige und eine falsche Sache geben?«
»Das wäre zu leicht«, sagte Rin Verran und musste unwillkürlich an die Auslöschung der Mehn-Gilde denken. »Es hängt immer von der eigenen Sichtweise und der der anderen ab. Wenn ich ein ›W‹ schreibe, ist es für dich ein ›M‹. Aber wer von uns hat jetzt recht?«
»Der mit mehr Macht«, kam die kaum zu hörende Antwort.
»Es ist immer der mit mehr Macht, der recht hat«, seufzte Rin Verran und lauschte. Es kam nichts mehr außer leise Atemgeräusche, dann ein lautes Schnarchen. Wenigstens schläft er jetzt, dachte er. Auch wenn ich wahrscheinlich nicht schlafen können werde.
Am nächsten Morgen erwachte Rin Verran von den hellen Sonnenstrahlen, die durch den Spalt zwischen den Vorhängen direkt auf seine Augen fielen. Stöhnend hievte er sich hoch, wobei er eine Flasche zu Boden fegte, die aber zum Glück nicht zerbrach. Sein Blick wanderte sofort hinüber zu Mahr Xero, der bei dem Geräusch leise gestöhnt und sich im Bett auf die andere Seite gerollt hatte. Rin Verran presste die Kiefer zusammen, stand auf und riss die Vorhänge mit einem Ruck zur Seite. Blendend helles Licht strömte in das Zimmer.
»Mach das weg!«, brüllte Mahr Xero und zog sich die Decke über den Kopf, während seine rechte Hand über den Nachttisch wanderte. Offensichtlich auf der Suche nach etwas, was er jedoch nicht fand.
»Steh auf«, sagte Rin Verran gnadenlos. »Die Schüler kommen heute. Genauer gesagt in etwa drei Stunden. Bis dahin musst du wieder wie ein zivilisierter Mensch aussehen.«
»Zivi...« Mahr Xero hustete.
»Ich rufe einen der Diener. Er soll dir beim Aufräumen und Baden helfen.«
»Meinetwegen«, murrte Mahr Xero, blieb aber unter seiner Decke. Rin Verran wollte gerade gehen, als er noch etwas hörte: »Rin Verran.«
»Ja?«
»Versteck bitte allen Alkohol vor mir. Ich möchte nicht... Ich weiß nicht, ob ich es sonst schaffe.«
»Mache ich«, versprach Rin Verran ihm und verließ das Zimmer. Auf dem Weg nach unten traf er auf den Diener, der Mahr Xero ursprünglich zugewiesen worden war, und befahl ihm, nach dem gebrochenen Mann zu sehen. Dann betrat er die Küche im zweiten Stock und befahl, alle Flaschen mit Alkohol sofort zu vernichten. Die Diener gehorchten erst nach einigem Zögern und selbst dann mit leisem Murren.
Es ist besser so, dachte Rin Verran. Auch in Hinsicht auf die Schüler.
Die Flasche, die er nachts in der Abstellkammer versteckt hatte, brachte er persönlich raus und kippte ihren Inhalt über einem Grasbüschel aus, das hier sowieso nicht wachsen sollte. Alkohol war Gift. Benebelte den Verstand, ließ vergessen, aber was war so toll daran? Er hatte es nie verstanden. Würde es auch nie verstehen.
Kurz vor zwölf Uhr begab er sich in den dritten Stock des Rothirsch-Turms, um auf die Ankunft der Schüler zu warten. Wrun Tarebo und Wrun Lilath waren bereits dort. Sie trugen – so wie er und alle Erzwächter und Diener hier auch – die hellblaue Kleidung der neuen Rin-Gilde. Wrun Lilath hatte sich an ihr Oberteil einen hohen Kragen ran genäht, der ihren Hals verdeckte, und ihre Ärmelöffnungen an den Handgelenken verkleinert, sodass sie jetzt eng an ihrer Haut lagen. An ihrem Gürtel hing ihr schmales Schwert mit dem Namen ›Fluch‹. Was das Herzstück ihres Bruders war, hatte Rin Verran bis jetzt immer noch nicht herausgefunden, aber das war auch nicht wichtig.
»Wo ist Mahr Xero?«, fragte Rin Verran.
»Wahrscheinlich wieder am Saufen«, entgegnete Wrun Lilath scharf.
»Nein. Dieses Mal nicht.«
»Was sollte er sonst tun?« Die Frau hatte offenbar das Interesse an diesem Thema verloren und zeigte stattdessen aus dem Fenster nach draußen. »Schaut, die ersten sind schon gekommen.«
Während Wrun Tarebo sich neben sie stellte und ebenfalls hinaus schaute, blieb Rin Verrans Blick auf die Tür zu dem Zimmer gerichtet, in dem sie sich gerade befanden. Wo bleibt er nur? Die zwei Geschwister begannen gerade, über die Jugendlichen zu reden, die in den Hof vor dem Rothirsch-Turm strömten, als auf einmal die Klinke runtergedrückt wurde. Auf dem Flur stand Mahr Xero. Er wirkte wie ausgetauscht. Seine wilden, hellbraunen Haare waren kürzer geschnitten und ordentlich nach hinten gekämmt. Auch den Bart hatte er gestutzt. Zwar waren seine Augen immer noch rot unterlaufen und Rin Verran bemerkte, wie die Hände an seinen Seiten zitterten, aber er trat selbstsicher ein und schloss die Tür hinter sich. Als wäre nichts gewesen. Als wäre es das normalste der Welt.
»Irgendwelche Berühmtheiten, die ich kennen sollte?«, fragte Mahr Xero mit leicht krächzender Stimme, ging an Rin Verran vorbei und stellte sich neben die zwei Geschwister. Wrun Lilath wirkte noch überraschter als ihr Bruder, wollte im ersten Moment mit einem angeekelten Gesichtsausdruck zurückweichen, hielt sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Es hing kein Alkoholgeruch in der Luft und auch kein anderer Gestank. Sie wechselte einen fragenden Blick mit Rin Verran, der nur vielsagend grinste.
Wrun Tarebo fing sich als erster, räusperte sich und antwortete: »Die Tochter von Gilden-Anführer Jhe ist dabei.«
Bei diesem Namen horchte Rin Verran auf und gesellte sich zu den dreien, suchte mit den Augen die Menge ab, die sich allmählich unten versammelte. Er wusste, dass Meister Jhe einen Bruder hatte – eben jener Bruder, der das Buch über die Auslöschung der Mehn-Gilde geschrieben hatte –, aber er hatte keine Ahnung, dass er noch andere Verwandte hatte.
»Ah, ich kenne sie«, sagte Mahr Xero. »Jhe Seyla. Ein nettes Mädchen. Konnte schon vor fünf Jahren mehr oder weniger gut mit dem Schwert umgehen, als ich in der Falken-Festung war. Aber ihre Waffe ist wahrscheinlich eher der Bogen.«
»Welche ist es?«, fragte Rin Verran neugierig.
»Die mit den schwarzen Haare in der Kleidung der Jhe-Gilde natürlich.«
Endlich entdeckte Rin Verran sie. Sie trug ein weißes Gewand, auf dem in regelmäßigen Abständen violette Blüten abgebildet waren. Es ähnelte vom Muster her dem, das Jhe Newin während der Kampfprüfung getragen hatte. Also stammten sie wirklich aus einer Gilde. Wäre auch ein zu großer Zufall gewesen, wenn nicht. Das Mädchen wurde von einer kleinen Gruppe anderer Jugendlicher begleitet, die anscheinend ebenfalls alle aus der Falken-Festung kamen, dem Wohnsitz der Jhe-Gilde und dem Ort, wo die besten Schwertkämpfer ausgebildet wurden.
»Ein paar gehören auch gar keiner Gilde an«, fuhr Wrun Tarebo mit seinen Beobachtungen fort, während immer mehr Fünfzehnjährige und auch Sechzehnjährige eintrafen. Wegen des Krieges war praktisch ein Jahr weggefallen und es wäre unfair gewesen, denen, die vor einem Jahr eigentlich zur Gämsen-Pagode geschickt worden wären, jetzt den Zugang zum Rothirsch-Turm zu verweigern. Als der Strom durch das Tor versiegte, blieben die vier noch kurz am Fenster, bevor sie sich nach unten begaben.
Vor dem Rothirsch-Turm gab es keine Steinplattform wie vor der Gämsen-Pagode, aber trotzdem würden die Meister irgendwie auf einer Erhöhung stehen müssen. Also war eine kleine Holztribüne errichtet worden, deren Treppenstufen sie hoch stiegen. Rin Verran sah aus dem Augenwinkel Rin Veyvey ganz in der Nähe stehen. Sie hielt Rin Kahna an der Hand, aber seine Tochter schaute nur gelangweilt in die Luft als würde sie vorbeifliegende Vögel beobachten. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, bevor er als letzter auf die Tribüne trat. Die Jugendlichen bemühten sich bereits darum, ganz nach vorne zu gelangen. Er war erstaunt, wie viele tatsächlich ihn als Meister haben wollten. Jungen und Mädchen, die er nicht kannte, drängten sich mit großen Augen in seine Richtung. Der erste, der bei ihm ankam, war ein Mädchen, das sich sofort tief vor ihm verbeugte.
»Meister Grüner Habicht! Nehmt mich als Eure Schülerin an!«, platzte sie heraus und wagte es nicht, aufzusehen.
Rin Verrans Brust verkrampfte sich. Jetzt wusste er wieder, warum er nicht begeistert davon war, einer der neuen Meister zu sein. Das erste Jahr würde vielleicht noch gut gehen, aber im zweiten müsste er diesen Kindern den Umgang mit Waffen beibringen.
»Tut mir leid«, sagte er bedauernd.
Der Kopf des Mädchens ruckte ungläubig nach oben. »Was?« Tränen standen ihr in den Augen. »Aber... Aber...«
Es wurde sogleich von einem größeren Jungen weggedrängt, doch bei Rin Verrans scharfem Blick fiel ihm auf, dass er das wohl besser nicht hätte tun sollen. Mit gesenktem Kopf suchte er das Weite und verbeugte sich schließlich stattdessen vor Wrun Tarebo.
»Ich nehme heute keine Schüler an«, verkündete Rin Verran angesichts der weiteren Kinder, die auf ihn zu kamen. Entschlossen erwiderte er jeden ihrer fragenden, ungläubigen und teils auch verärgerten Blicke. Sie schienen jedoch zu verstehen, dass er es ernst meinte. Einige murmelten sicher auch, dass er sich bestimmt seinen eigenen Meister als Vorbild genommen hatte, aber das konnte er nur vermuten. Allmählich leerte sich der Bereich vor ihm und die Menge verlagerte sich hinüber zu Wrun Tarebo, Wrun Lilath und Mahr Xero. Letzterer tat sein bestes, um das Zittern seiner Finger zu verbergen. Gerade stand Jhe Seyla vor ihm, deren Gesicht anfing vor Freude zu strahlen, als er sie als Schülerin annahm.
Rin Verran wollte sich schon nach seiner Tochter umsehen, als sein Blick auf einen Jungen fiel, der als einziger noch auf dem ansonsten vollkommen freien Platz vor ihm stand. Er trug keine Gilden-Kleidung, kam also offenbar aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Seine Eltern mussten viel bezahlt haben, um ihn zum Rothirsch-Turm schicken zu können. Das kam wirklich selten vor. Im ersten Moment dachte Rin Verran, der Junge würde weg gehen, sobald er seinem Blick begegnete, aber er blieb stehen und blinzelte ihn mit großen Augen an. Dann verbeugte er sich auf einmal.
»Nehmt mich als Euren Schüler an!«, rief der Junge.
»Ich habe bereits gesagt, dass ich heute keine annehme.«
»Bitte nehmt mich als Euren Schüler an!«, wiederholte der Junge stur.
Rin Verran verkniff sich ein belustigtes Lächeln. Irgendwas an ihm kam ihm bekannt vor, aber er kam einfach nicht darauf, wo er ihn schonmal gesehen hatte. Vielleicht flüchtig in einer der Städte auf dem Territorium der Ghan-Gilde?
»Wie ist dein Name?«, fragte er.
»Sun Shimei, Meister!«
Und da fiel es ihm wieder ein. »Du warst der Junge, der mir nach der Eroberung des Forellen-Pavillons den Brief von meiner Ehefrau gebracht hat.« Den Brief, der eigentlich von Meister Jhe kam. In dem er ihm mit dem Tod gedroht hatte.
»Ihr erinnert Euch!«, rief Sun Shimei begeistert und richtete seinen Oberkörper wieder auf, trat näher. »Ihr habt mir einst das Leben gerettet!«
Habe ich das? Rin Verran konnte sich nicht daran erinnern.
»Beim Getreidekornfest ist fast ein Wagen auf mich drauf gefallen! Ihr habt mich gerade noch rechtzeitig darunter weg gezogen!«
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Tag des Anschlags auf Ghan Minue. Er hatte Yodha verfolgt und... da war wirklich ein Junge gewesen, den er in Sicherheit gezogen hatte.
»Ich möchte genauso werden wie Ihr!«, fuhr Sun Shimei fort und trat näher, verbeugte sich erneut. »Bitte nehmt mich als Euren Schüler an! Ich werde fleißig lernen und üben! Ich schwöre, die Unschuldigen zu beschützen und den Kodex zu beachten! Ich werde Euch nicht enttäuschen!«
Rin Verran sah besorgt zur Seite, wo die anderen Kinder bereits auf ihr Gespräch aufmerksam geworden waren. Er hörte sie flüstern. Einige verächtlich, einige neidisch. Wenn er diesen Jungen jetzt als Schüler annahm, würden sie ihm bestimmt aus reiner Eifersucht das Leben schwer machen. Er sollte ihn wegschicken, so wie die anderen vor ihm, aber etwas hielt ihn davon ab. Die Tatsache, dass Sun Shimei niemandem vom wahren Absender des Briefes erzählt hatte und selbst jetzt noch vor ihm stand, zeigte sein gutes Herz und seinen Starrsinn. Zwei Sachen, die man schätzen sollte. Außerdem hatte seine Familie viel Geld bezahlt, damit er überhaupt hierher kommen konnte. Wie konnte er ihn jetzt einfach im Stich lassen?
Langsam nickte er dem Jungen zu, woraufhin dieser mit strahlenden Augen aufsprang. »Ich werde Euch nicht enttäuschen!« Begleitet von den ungläubigen Blicken der anderen Kinder rannte er in Richtung des Gebäudes, das in das Haus der Schüler umgebaut worden war.
Er hat nicht mal einen Reisebeutel dabei, dachte Rin Verran leicht belustigt. Es dauerte nicht lange, bis die restlichen Kinder sich unter den anderen drei Meistern aufgeteilt hatten. Mahr Xero war der erste, der kommentarlos weg ging, dicht gefolgt von Wrun Lilath, während Wrun Tarebo auf Rin Verran zu kam.
»Du sagst erst, dass du keine Schüler annimmst, und hast jetzt doch einen?«, fragte der Mann eher verwundert als vorwurfsvoll.
»Ich kenne ihn«, antwortete Rin Verran leichthin. Etwas sagte ihm, dass er damit eine gute Wahl getroffen hatte. »Er ist ein guter Junge.«
Wrun Tarebo zuckte nur mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. Innerlich dachte er jedoch: Soll er machen, was er will. Wenn er es für eine gute Idee hält, dem Vorbild von Meister Jhe zu folgen, nur zu. Er sollte nur wissen, dass alle bald von diesem angeblich besonderen Jungen erfahren werden. Sollte er sich als Nichtsnutz herausstellen... Nun, das ist nicht mein Problem. Er sollte eher froh darüber sein, dass sich unter den Schülern keine verkleideten Krieger der Sonne befunden hatten. Alles war so glatt und ruhig verlaufen wie sie es sich sehnsüchtig gewünscht hatten.
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