Kapitel 49: Krieg - Teil 4
Alle Blicke waren auf Mahr Xero gerichtet, der in den Armen zweier Erzwächtern zusammengesunken war. Würden sie ihn nicht festhalten, würde er wahrscheinlich zu Boden stürzen. Die rotbraune Kleidung seiner Gilde, die er immer noch trug, war an den Ärmeln zerfetzt und eingerissen und zusätzlich zog sich ein blutverkrusteter Schlitz über seine rechte Seite. Offenbar hatte ihn dort ein übereifriger Krieger verletzt. Den Blick hatte er nach unten gerichtet, sodass von seinem Gesicht nur die Stirn zu sehen war, an der trockener Schorf klebte.
Rin Verran hätte eigentlich sowas wie Genugtuung fühlen müssen, aber er fühlte absolut gar nichts. Es war vollkommen leer in seinem Inneren. Zu oft hatte er den Berichten der Boten zugehört, die von der Front zum Krähen-Palast geschickt worden waren. Sein Vater war tot, gestorben durch einen Pfeil in die Brust, nachdem er sich geweigert hatte, sich zu ergeben. Rin Raelin war im Kerker eingesperrt und wütete dort jeden Tag. Man hatte ihm zwar Ketten angelegt, aber das hielt ihn nicht davon ab, Todesdrohungen auszustoßen. Rin Verran war nicht zu ihm hinab gestiegen. Er wusste nicht, was sein Bruder tun würde, wenn er ihn sah. Wenigstens war Ghan Jadna nach der Eroberung des Phönix-Hofes freigelassen worden. Allerdings hatte alle Fröhlichkeit sie verlassen. Dass Rin Narema geflohen war, heiterte sie nicht im Mindesten auf. Was mit Bao Jenko passiert war, konnte Rin Verran keiner sagen. Er hatte nur erfahren, dass Zha Elto nicht zurückkehren würde. Das schlechte Gewissen hatte ihn von innen heraus aufgefressen, bis der Schmerz zu seinem täglichen Begleiter geworden war.
»Mahr Xero«, erhob Ghan Shedor die Stimme. »Weißt du, warum wir dich hierher geholt haben?«
Der Erzwächter vor ihm antwortete nicht und hob nicht mal den Kopf.
»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«
Auf eine Handbewegung hin packte einer der Männer Mahr Xero an den Haaren und zwang ihn so dazu, zum Gilden-Anführer zu sehen. Sein Blick war seltsam leer und voller Hoffnungslosigkeit. Rin Verran zwang sich dazu, völlig regungslos zu bleiben. Was ist im Rothirsch-Turm bloß passiert? Er hätte nie gedacht, Mahr Xero jemals in so einem Zustand zu sehen. Gebrochen und so sehr von allen verlassen, dass er überhaupt keinen Widerstand mehr leistete.
»So also sieht der Weiße Tiger in Wirklichkeit aus«, spottete Ghan Shedor. »Wenn man ihn gut genug zähmt, wird er zu einem flauschigen Kätzchen. Was meinst du, sollte ich meiner Frau so ein Kätzchen kaufen? Denkst du, das würde sie beruhigen? Sie trösten?« Er stand auf und ging die Stufen runter. Rin Verran folgte ihm wie ein leiser Schatten. Als Ghan Shedor vor Mahr Xero stand, ergriff er ihn am Kinn und presste die Finger in seine Wangen, bis Blutstropfen unter seinen Fingernägeln hervor quollen. »Weißt du, was dein Vater mir angetan hat!«, schrie er ihm ins Gesicht. Seine Hand zitterte leicht, als er Mahr Xero losließ. »Wegen deines Halbbruders ist mein Sohn nicht so gesund geboren worden wie er sein sollte!«
»Mein Vater hat niemanden geschickt.« Es waren die ersten Worte, die Mahr Xero in der Versammlungshalle sprach und beinahe hätten alle sie überhört, so leise waren sie.
Ghan Shedor starrte ihn wütend an. »Es bringt jetzt nichts mehr, alles abzustreiten! Du verlierst nur noch den Rest deiner Ehre, wenn du weiterhin lügst!«
Mahr Xero schwieg.
»Wo ist dein Vater hin?«, fragte Ghan Shedor mit gepresster Stimme. »Er kann nicht erwarten, dass ich ihn so leicht davonkommen lasse! Seine gerechte Strafe wartet noch auf ihn! Meinetwegen kann er wie ein Feigling fliehen, aber früher oder später werden meine Leute ihn finden und töten! Du kannst mir viele Scherereien ersparen, wenn du mir jetzt gleich sagst, wo er hingegangen ist!«
»Ich weiß es nicht.«
Ein harter Schlag traf Mahr Xero ins Gesicht und sein Kopf wurde brutal nach hinten geschleudert. Blut tropfte aus seinen Nasenlöchern und von seiner aufgeplatzten Unterlippe. Ghan Shedor schüttelte seine Hand aus und starrte ihn wütend an. »Ich glaube dir nicht! Du warst noch im Rothirsch-Turm, als er geflohen ist! Er muss dir doch wohl gesagt haben, wo er hin wollte!«
»Ich weiß es nicht.« Weiteres Blut quoll aus seinem Mund und rann sein Kinn hinab.
Ghan Shedor sah ihn unzufrieden an. Es war offensichtlich, dass Mahr Xero, selbst wenn er es wirklich wusste, nichts sagen würde. Sein Vater war sein größtes Vorbild und er würde ihn nie im Leben verraten. Doch auf einmal kam Ghan Shedor eine Idee. Er beugte sich ein Stück zu Mahr Xero hinunter und sah ihm in die blutunterlaufenen, aber leeren Augen.
»Du wärst tot, wenn einige meiner Erzwächter nicht entschieden hätten, dass du lebendig mehr leiden würdest«, sprach er klar und deutlich, sodass alle Anwesenden es hören konnten. »Aber ich weiß, dass es nichts auf der Welt gibt, wovor man sich mehr fürchtet, als der eigene Tod.« Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er das Schwert, das an seinem Gürtel hing, und richtete seine Spitze auf Mahr Xeros Brust. Die Waffe war sein Herzstück, eine gerade und schmale Klinge, die so scharf war, dass sie Blätter in der Luft zerteilen konnte. Ihr Name war Todesgrund, was die Todesursache der Opfer des Schwertes zu einem grotesken Wortspiel werden ließ.
»Ich biete dir einen Handel an, Mahr Xero«, verkündete Ghan Shedor. »Du wirst für mich nach deinem Vater suchen und mir seinen Kopf bringen. Wenn du weißt, wo er ist, sollte das kein Problem für dich sein. Wenn nicht, wirst du ihn trotzdem schneller finden können, weil du ihn kennst. Außerdem vertraut er dir. Versuche nicht, zu fliehen. Sonst werde ich nicht nur deinen Vater, sondern auch dich jagen. Was denkst du?«
Mahr Xero antwortete nicht.
»Wenn du ablehnst, beende ich dein Leben hier und jetzt«, fügte Ghan Shedor grimmig hinzu. »Auf der Stelle.«
Rin Verran wusste nicht genau, was in Mahr Xero vorging, aber er konnte es sich denken. Er war in einer ausweglosen Situation, die nur in einem Fall nicht mit seinem Tod endete. Nämlich, wenn er die Person auslieferte, die ihm von allen am meisten bedeutete. Sein Vater, sein großes Vorbild, sein großer Held. Vielleicht begriff er in genau diesem Moment, dass Mahr Hefay doch kein Heiliger war, sondern ein Feigling, der alleine geflohen war und seine Ehefrau und seinen Sohn zurückgelassen hatte. Er musste sich so fühlen wie Rin Verran, als er erfahren hatte, dass Rin Raelin für all sein Unglück verantwortlich war.
»Er sieht nicht aus, als würde er zustimmen«, flüsterte jemand aus der versammelten Menge. Die meisten Erzwächter waren immer noch im Territorium der Rin-Gilde oder der Mahr-Gilde, weswegen nur die Anhänger der Ghan-Gilde anwesend waren, die zurückgeschickt oder verletzt worden waren und hier versorgt wurden. Der, der gesprochen war, war einer der Männer, der für seine Vergehen an Mahr Lesara so schwer ausgepeitscht worden war, dass er sich kaum auf den Beinen hatte halten können, als er hier angekommen war. Warum er überhaupt noch seinen Status als Erzwächter behalten durfte, war Rin Verran ein Rätsel.
»Er hat so einen Tod nicht verdient«, raunte eine Frau. »Ich habe gehört, dass er eigentlich Dul Arcalla geheiratet hätte und jetzt hat er nicht mal das erreicht.«
Rin Verran ließ sich nichts anmerken. Jetzt war nicht die Zeit, um über sowas nachzudenken. Er beobachtete, wie Mahr Xero langsam wieder den Kopf hob. Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske des Schmerzes und der Qual. Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als würde er sich nach vorne werfen wollen, um von Todesgrund aufgespießt zu werden, doch dann sackte er einfach nur in sich zusammen. Seine Knie schlugen hart auf den Boden, während er seine Arme nach vorne streckte, um seinen Oberkörper abzustützen. Ghan Shedor schwenkte sein Schwert zur Seite.
»Ich werde es tun.« Mahr Xeros Stimme war ein heiseres Krächzen.
Ein grimmiges Lächeln wanderte über Ghan Shedors Lippen und er steckte sein Herzstück wieder ein. Begleitet mit einer Handbewegung in Richtung der zwei Erzwächter befahl er: »Bringt ihn mit einem Wagen zum Rand des Schwarzgras-Berges. Von dort aus wird er wahrscheinlich den kürzesten Weg zum Versteck seines Vaters haben.« An Mahr Xero gewandt fügte er hinzu: »Ich gebe dir sechs Monate Zeit. Danach eröffne ich die Jagd auf dich.«
Es blieb unklar, ob Mahr Xero ihn gehört hatte. Er wurde von den zwei Erzwächtern auf die Beine gezerrt und aus der Versammlungshalle geschleppt. Seine Stiefel hinterließen zwei rote Spuren auf dem Boden.
Ghan Shedor hat sich verändert, dachte Rin Verran. Er erinnerte sich an den verantwortungsvollen jungen Mann, der nicht verraten wollte, warum sein kleiner Bruder nicht an seinem ersten Zatos teilnehmen durfte. Er erinnerte sich auch an die Prostituierte, die er damals an seiner Seite hatte, und wie er Ghan Minue abgewiesen hatte. Und jetzt? Es kam ihm vor, als hätte der Tod seines Vaters ihn dazu gebracht, das Gegenteil von dem zu sein, was er eigentlich sein wollte. Ghan Kedron hatte sich streng an den Kodex gehalten. Jetzt wurde jedoch getötet und niedergebrannt und zusammengeschlagen. Selbst in den Wänden des Krähen-Palastes. Und es gab niemanden, der Ghan Shedor daran hindern konnte. Er war der Gilden-Anführer. Er wurde von allen für seinen Mut und seine Entschlossenheit bewundert.
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