Kapitel 36: Inseln - Teil 2
Rin Verran war einer der letzten, der am Ufer ankam, und fast alle Boote waren schon auf dem Wasser. Nicht weit entfernt sah er Nan Fe – jetzt wahrscheinlich Tar Fe –, die zusammen mit ihrem Ehemann in das letzte Gefährt einstieg. Tar Shano stieß es mit einem Ruder vom Ufer ab und stakte dann weiter, bis es tief genug war.
Ich hätte mich nicht so lange mit Mahr Lesara aufhalten dürfen, dachte Rin Verran verärgert über sich selbst. Trotzdem war es noch nicht zu spät, um auf eine der anderen Inseln zu kommen, bevor das Lautsignal kam, das den Beginn der Jagd ankündigte. Nach einer ziemlich weiten Strecke am Ufer entlang entdeckte er tatsächlich ein Boot, das übrig gelassen worden war. Allerdings war bereits jemand dort, der leise fluchend versuchte, es alleine aufs Wasser zu bringen, was natürlich nicht klappen würde. Die rotbraune Kleidung ließ erkennen, dass derjenige aus der Mahr-Gilde stammte.
»Man kann nur zu zweit mit dem Boot fahren«, rief Rin Verran der Person rüber, die gleichzeitig den Kopf hob. Sofort blieb er stehen, fluchte innerlich. Von allen Erzwächtern der Mahr-Gilde musste ich unbedingt ihn erwischen!
»Weil du das sagst oder weil es wirklich so ist?«, fragte Mahr Xero und richtete sich auf. Bevor Rin Verran antworten konnte, lachte er jedoch auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Natürlich musst du ja jetzt alles über Boote wissen. Schließlich hat dein Vater dich aus deiner Gilde verstoßen und du hast wie eine Frau in die Dul-Gilde eingeheiratet.«
Rin Verran presste die Kiefer fest zusammen und ballte die Fäuste, fühlte eine heftige Wut in sich aufsteigen. Er wollte ihm irgendwas ähnlich Beleidigendes entgegen schleudern, aber ihm fiel einfach nichts ein. Plötzlich gab es einen lauten Knall, bei dem die Vögel in den Bäumen erschrocken in die Luft flogen. Mahr Xero griff sofort nach seinem Bogen, legte einen Pfeil auf und schoss auf eines der Tiere. Zu Rin Verrans Überraschung traf er tatsächlich und die Krähe schlug mehrere Schritte neben ihm am Ufer auf. Rin Verran war ehrlich beeindruckt.
»Steh nicht rum und hilf mir, das Boot ins Wasser zu schieben«, sagte Mahr Xero auf einmal.
»Du wirst die Krähe nicht markieren?«
»Warum sollte ich. Die gibt sowieso wenig Punkte. Ich lasse sie lieber für die liegen, die schlechter sind als ich. Jetzt beweg dich hier rüber! Die Jagd hat schon angefangen und ich habe nicht ewig Zeit!«
Rin Verran wollte im ersten Moment antworten, dass er sich zu gewissen ungemütlichen Orten scheren sollte, aber in nächster Nähe sah er weder ein weiteres Boot noch eine weitere Person, mit der er eines lenken konnte, weswegen er seinen Ärger herunterschluckte. Während er Mahr Xero im Stillen ein Schimpfwort nach dem anderen entgegen warf, half er ihm, das Boot aufs Wasser zu bringen, bevor sie beide einstiegen.
»Ich lenke!«, bestimmte Mahr Xero sofort und drückte ihm entsprechend das Ruder in die Hand.
»Zurück fahre ich mit jemand anderem«, grollte Rin Verran, setzte sich aber auf die Ruderbank und fing an, das Boot vorwärts zu bewegen. Die Strömung war hier zwar nicht so stark, trieb sie aber trotzdem weiter nach rechts als es wahrscheinlich geplant war. »Möchtest du in die Mitte des Stillwasser-Sees, oder was? Du weißt schon, dass die Jagd nur auf den Inseln und nicht auf dem Grund des Sees stattfindet?«
»Halt die Klappe«, stieß Mahr Xero nur hervor, hängte sich aber stärker in das Steuerruder und schaffte es so, sie wieder auf Kurs zu bringen. Nach einiger Zeit kamen sie endlich am Ufer an. Rin Verran sprang aufs Trockene und zog das Boot an Land, während Mahr Xero gleichzeitig mit dem Ruder nachhalf. Dann stieg auch er aus.
»Ich muss sagen, ich bin beeindruckt, dass du mich nicht ins Wasser gestoßen hast«, sagte er, während er die Arme vor der Brust verschränkte.
»Warum hätte ich das tun sollen?«, presste Rin Verran hervor. »Wir sind keine Feinde oder sowas. In der Gämsen-Pagode waren wir viel jünger und da macht man manchmal unanständige Sachen.«
Mahr Xero sah ihn mit erhobener Augenbraue an. »Seit wann sind wir keine Feinde?«
»Sind wir denn welche?«
Mahr Xero lachte wieder auf. »Für wie dumm hältst du mich? Denkst du wirklich, ich hätte nicht bemerkt, wie du hinter Arcalla her spioniert hast, als wir in der Gämsen-Pagode waren? Du wolltest ihr einmal sogar Blumen schenken. Oder was waren diese zerfallenen Zweige, die du kurz darauf aus Frust weggeschmissen hast?«
Rin Verran war für einen Moment sprachlos. »Halt du dich da raus!«, fuhr er ihn an.
»Habe ich dich etwa wütend gemacht?«, spottete Mahr Xero. »Aber warum führst du dich so auf? Bist du jetzt nicht mit Rin Veyvey verheiratet? Hast sie sogar deinem Bruder abgejagt! Oder liegt es daran, dass sie ihrer Schwester so ähnlich sieht? Hat Arcalla dir etwa eine Abfuhr erteilt, sodass du auf eine zweite Wahl zurückgreifen musstest?«
»Nenn sie nicht so!« Es brachte ihn zur Weißglut, dass er ihren Namen so vertraulich aussprach.
»Oh?« Mahr Xero tat einen auf überrascht. »Hast du gedacht, du wärst der einzige, dem sie angeboten hat, sie ohne Nachnamen anzusprechen? Sie ist wirklich etwas Besonderes. Wie gut, dass du jetzt nicht mehr zwischen uns stehst. Ich werde den ersten Platz bei der Jagd belegen und meinen Vater dann darum bitten, einen Antrag an Gilden-Anführer Dul zu schreiben, um mich mit ihr zu verloben. Er wird nicht ablehnen können. Immerhin bin ich kein Bastard wie du!«
Vor Wut kochend griff Rin Verran reflexartig nach Habichtfeder, aber da war nichts. Er hatte sein Schwert auf der Lichtung zurückgelassen und hatte nichts, womit er auf Mahr Xero losgehen konnte. Und das würde er zurzeit liebend gerne tun! Ihm das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht wischen.
»Hat jemand etwa vergessen, dass er bei der Jagd nur Pfeil und Bogen dabei hat?«, lachte Mahr Xero gehässig. »Wenn du willst, können wir das nachher untereinander austragen. Aber denk dran: Schon in der Gämsen-Pagode konntest du mich nicht besiegen! Und in meinem dritten Jahr bin ich zur Falken-Festung gegangen! Du hast keine Ahnung, gegen wen du kämpfen wirst!«
»Ich nehme die Herausforderung an!«, grollte Rin Verran. »Ist mir egal, wie gut du bist!«
»Ich freue mich schon!« Damit kehrte Mahr Xero ihm den Rücken zu und ging in Richtung Waldrand davon. Rin Verran spielte ernsthaft mit dem Gedanken, einfach einen Pfeil auf den Bogen zu legen und... Aber nein, das konnte er nicht machen. Im Nachhinein war es wahrscheinlich sowieso ein Fehler gewesen, sich auf diesen Kampf einzulassen. Jetzt kann ich aber keinen Rückzieher mehr machen!
Frustriert stampfte er mit dem Fuß auf. Ich hätte mich besser unter Kontrolle haben müssen. Ausdruckslos bleiben müssen. Jetzt habe ich ihm bestätigt, dass ich immer noch Gefühle für Arcalla habe, obwohl ich mit ihrer Schwester verheiratet bin. Wenn er das weitererzählt, was wird dann passieren?
Das Blut rauschte in seinen Ohren, während er sich ebenfalls vom Ufer entfernte und den Wald betrat. Irgendwie war seine ganze Motivation, bei der Jagd gut abzuschneiden, mit einem Mal verpufft. Selbst wenn er sich anstrengte und besser als Mahr Xero war, würde es ihm nichts bringen. Vielleicht sollte er das einfach geschehen lassen. Dann würde Dul Arcalla Mahr Xero heiraten und den Forellen-Pavillon verlassen, um mit ihm im Rothirsch-Turm zu wohnen. Ja, das wäre besser. Außerdem hatte sie ihm gegenüber nie gezeigt, dass sie das gleiche für ihn empfand wie er für sie. Wenn sie mit Mahr Xero zusammen war, hatte sie jedoch oft gelacht und war allgemein fröhlich gewesen. Liebte sie ihn? Der Gedanke schmerzte Rin Verran, aber wenn das wirklich stimmte, sollte er sie einfach loslassen. Sie sollte glücklich sein. Nur das wünschte er sich für sie.
Er blieb stehen, als er feststellte, dass er in einen Bereich der Insel gekommen war, in dem das Gestrüpp zwischen den Bäumen so dicht beieinander wuchs, dass es fast kein Durchkommen gab. Hier würde er bestimmt auf keines der Tiere treffen, das Dul Nehmon für die Jagd freigelassen hatte. Gerade wollte er sich in eine andere Richtung wenden, als er ein leises Kichern und das Rascheln von Blättern hörte. Dann eine Frauenstimme.
»Lass das! Uns könnte jemand sehen!« Es klang allerdings nicht so, als würde die Frau es ernst meinen.
Rin Verran vermutete, dass es irgendein Pärchen war, das bei der Jagd zusammenarbeitete, und wollte verschwinden, bevor sie ihn bemerkten, als er unerwartet durch eine Lücke zwischen zwei Ästen einen Blick auf die Personen erhaschte. Der Mann trug die graue Kleidung, der Ghan-Gilde, die zurzeit jedoch von den geschickten Fingern der Frau ausgezogen wurde. Rin Verran fühlte eine heftige Wut in sich aufsteigen. Ist es Ghan Idos? Das ist nicht Jadna, die vor ihm steht! Wie kann er es wagen! Kurz bevor er aus seinem Versteck stürmte, um den Mann niederzuschlagen und zur Rede zu stellen, drehte dieser jedoch leicht den Kopf, sodass sein Gesicht zu sehen war. Es war nicht Ghan Idos, sondern sein älterer Bruder Ghan Shedor. Jetzt sah Rin Verran auch, dass die Frau die Prostituierte war, die ihn schonmal bei einem Zatos begleitet hatte.
Beschämt drehte Rin Verran sich zur Seite, als die zwei sich auf eine Art küssten, die unmissverständlich andeutete, was bald folgen würde. Hastig, aber ohne ein verräterisches Geräusch zu machen, entfernte er sich von Ghan Shedor und der Prostituierten. Nach einer Weile blieb er stehen. Eigentlich ist er mit Ghan Minue verheiratet. Sie ist schon so ganz alleine und wenn jetzt auch noch ihr Mann fremdgeht... Aber ich kann da doch jetzt nicht einfach so reinplatzen! Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Ich hätte das nicht sehen dürfen. Ich gehe nie wieder in so dichtes Gestrüpp!
Die Insel, auf der er sich befand, war neben der mittleren eine der größten. Also gab es genug andere Stellen, an denen er nach Beute suchen konnte. Nach einer Weile hatte er sich so weit beruhigt, dass er sich endlich auf die Jagd konzentrieren konnte, auch wenn wahrscheinlich bereits die Hälfte der Zeit vorüber war. Gerade hatte er einen Hirsch ins Auge gefasst, der ahnungslos aus einer Pfütze trank, als er plötzlich einen leisen, scheinbar weit entfernten Schrei hörte, der vom Wind zu ihm rüber getragen wurde.
Rin Verran hielt inne und richtete sich auf. Der Hirsch hörte das Rascheln und floh, aber das kümmerte ihn zurzeit nicht. Er lauschte. War sich unsicher, ob er richtig gehört hatte. Dann kam es wieder.
»Hilfe! Ist da jemand!«
Sofort stürmte Rin Verran in die Richtung los, aus der der Schrei gekommen war. Er kannte diese Stimme. Sie gehörte Rin Raelin. Und wenn selbst er um Hilfe rief, musste etwas Schreckliches passiert sein.
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