Kapitel 33: Feuer - Teil 3
Es erwies sich als noch schwerer als erwartet, alle geflohenen Bewohner Muwams in Kothar unterzubringen. Selbst nach drei Tagen saßen einige von ihnen immer noch auf der Straße oder stritten sich mit denen, die ein eigenes Bett bekommen hatten, um die Decken und Kissen. Rin Verran hatte sein Zimmer im Gasthaus einer Familie mit drei Kindern überlassen, die ihm dafür mit der Hälfte ihrer ohnehin schon wenigen Habseligkeiten danken wollten, aber er hatte abgelehnt. Er fragte sich, ob er auch so geendet hätte, wenn er Dul Nehmons Vorschlag abgelehnt hätte.
»Ab hier müsst Ihr alleine weiter«, sagte Paat Jero und blieb stehen. Die drei Erzwächter der Dul-Gilde, die ihn begleiteten, taten das ebenfalls. Der ältere Mann klopfte Rin Verran ermutigend auf die Schulter. »Denkt daran, was wir abgesprochen haben. Versucht, so viel wie möglich über die Drachenklauen herauszufinden. Lasst sie reden und merkt Euch ihre Stimmen und ihr Aussehen, falls sie nicht maskiert sind. Und kommt in einer Stunde wieder. Sonst kommen wir Euch holen.«
Rin Verran nickte entschlossen, atmete tief durch und setzte seinen Weg nach oben alleine fort. Den Rotapfel-Berg konnte man nicht wirklich als Berg bezeichnen. Er war eher ein sehr großer Hügel, auf dem einige Bauern ihre Apfelplantagen stehen hatten. So spät im Herbst waren die Früchte jedoch schon lange geerntet worden und die Blätter der Bäume waren eine Mischung aus braun und gelb. Das heruntergefallene Laub lag quer über den Pfad verstreut und raschelte bei jedem Schritt.
Von der alten Frau, die ihn auf den Angriff hingewiesen hatte, hatte er erfahren, dass die Apfelbäume ab einer gewissen Höhe weniger wurden. Vermutlich würden die Drachenklauen dort auf ihn warten, aber sicher war er sich nicht. Alle paar Schritte ließ er den Blick über die bunte Landschaft um sich herum schweifen. Auf der Suche nach schwarz gekleideten Gestalten, die sich irgendwo versteckten. Doch es war niemand da. Also ging er weiter.
Wie angekündigt kam irgendwann das Ende der Apfelplantage. Trotzdem wuchsen links und rechts des Weges aber noch einige Bäume. Rin Verran spürte, wie eine gewisse Anspannung in ihm aufstieg. Was, wenn der Brief nur dazu da war, um ihn in eine Falle zu locken? Wollten die Drachenklauen ihn töten? Warum? Unwillkürlich fasste er Habichtfeders Griff fester.
Plötzlich tauchte hinter der Eiche nur einige Schritte von ihm entfernt eine Gestalt auf. Schwarzer Stoff flatterte leicht im Wind, kräuselte sich als wäre er ein Teich mit kleinen Wellen. Rin Verran hielt sofort an. Eine Drachenklaue? Er wartete einige Sekunden, der ganze Körper angespannt und bereit, Habichtfeder jeden Moment zu ziehen. Aber die Gestalt rührte sich nicht von der Stelle, schien ihrerseits zu warten.
Schließlich presste Rin Verran die Kiefer zusammen und ging entschlossen zu der Gestalt hin. Aus der Ferne war er sich nicht sicher gewesen, doch jetzt erkannte er, dass die Person tatsächlich ein Trauergewand trug. Eine Art weites, schwarzes Kleid. Das Gesicht war mit einem Schleier verdeckt, der von einem breitkrempigen Hut herab hing. Die leichte Wölbung im Brustbereich deutete an, dass er vor einer Frau stand. Aber es war unmöglich zu sagen, wer sie war.
»Ihr seid der Einladung also gefolgt.« Ihre Stimme war ungewöhnlich tief für eine Frau und hatte gleichzeitig eine seltsam beruhigende Wirkung. Der Schleier vor ihrem Gesicht bewegte sich leicht bei jedem Atemzug.
»Einer Einladung, die mit einem Pfeil abgeschossen wurde, ist normalerweise nicht zu trauen«, entgegnete Rin Verran. »Wo sind die anderen Drachenklauen?«
»Sie haben mich geschickt, damit ich mit Euch rede.«
»Und wer seid Ihr?« Er bezweifelte zwar, dass er darauf eine Antwort bekommen würde, aber versuchen konnte er es.
»Ihr könnt mich die Motte nennen«, sagte die Frau ausweichend.
»Warum tragt Ihr diese Trauerkleidung?«, fragte Rin Verran spontan. »Ist bei dem Angriff auf Muwam einer Eurer Leute gestorben?«
Die Motte war kurz still und antwortete dann: »Ich sollte eher Euch fragen, warum Ihr keine Trauerkleidung tragt.«
»Wie meint Ihr das?«
»Ich meine es meistens so, wie ich es gesagt habe.«
Rin Verran runzelte leicht verärgert die Stirn. »Warum haben die Drachenklauen Muwam angegriffen und niedergebrannt? Ihr habt geschrieben, dass ihr gute Gründe dafür habt, aber mir würde kein einziger einfallen, der den Tod so vieler unschuldiger Menschen rechtfertigt. Ihr seid Mörder, nichts weiter. Was ist euer Ziel? Warum tut ihr das?« Als die Motte schwieg, fügte er hinzu: »Früher oder später werden die Gilden einen von euch erwischen und befragen und dann wird euer Unterschlupf sehr schnell gefunden werden. Besser, ihr hört jetzt damit auf und verschwindet für immer. Das ist gut für beide Seiten. Ihr müsst nicht mehr um den Tod fürchten und wir müssen uns nicht mehr darum bemühen, euch aufzuhalten.« Paat Jero hatte ihm eingeschärft, zuerst so anzufangen. Natürlich würden die Gilden die Drachenklauen nicht so leicht davonkommen lassen. Selbst, wenn sie mit den Angriffen aufhörten, würde man weiter nach ihnen suchen, um sie für ihre Taten hinzurichten.
»Eurem Wortlaut entnehme ich, dass Ihr Euch auf der Seite der Gilden seht«, sagte die Motte auf einmal. »Dabei hat Euer Vater Euch doch aus der Rin-Gilde verstoßen und jetzt werdet Ihr von der Dul-Gilde praktisch als Zuchthengst benutzt. Findet Ihr das nicht erniedrigend?«
Rin Verran umklammerte Habichtfeder so fest, dass es fast schmerzte. »Das ist in keinster Weise eine Antwort auf meine Fragen.«
»Ich sehe, dass Ihr wütend seid«, stellte die Frau richtig fest. »Also findet Ihr es erniedrigend. Warum lasst Ihr Euch sowas gefallen? Oder habt Ihr Angst, Euren Ruf zu verlieren, wenn die Wahrheit ans Licht kommt? Die Wahrheit über das, was am Phönix-Hof passiert ist. Nennen wir die Dinge beim Namen: Ihr habt versucht, die Tochter eines Gilden-Anführers zu vergewaltigen. Darauf steht normalerweise der Tod.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«, presste Rin Verran zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Wie wichtig ist Euch die Wahrheit? Und wie wichtig ist Euch die Gerechtigkeit?«
»Lüge nicht«, zitierte Rin Verran aus dem Kodex. »Aber ich habe nicht gelogen. Mein Vater und Gilden-Anführer Dul haben untereinander ausgemacht, dass diese Angelegenheit ein Geheimnis bleibt. Für alle anderen habe ich meinem Bruder einfach nur seine Verlobte ausgespannt.«
»Also ist Euch die Gerechtigkeit nicht wichtig?«
»Doch, natürlich. Gerecht zu urteilen war das erste, was mein Meister mir in der Gämsen-Pagode beigebracht hat.«
»Gerecht über andere zu urteilen ist etwas anderes, als sich selbst gerecht zu bestrafen«, entgegnete die Motte. »Die meisten trauen sich das nicht. Selbst, wenn sie ihre eigenen Fehler sehen, werden sie sie vor anderen abstreiten oder sie ignorieren. Sie werden alles tun, um ihre Sünden zu verheimlichen. Und irgendwann kann man die Wahrheit dann nicht mehr von der Lüge unterscheiden. Ihr habt gefragt, warum wir das tun, was wir tun. Wir tun es, um wieder Gerechtigkeit in die Welt zu bringen.«
»Eine Gerechtigkeit, in der unschuldige Menschen sterben?« Rin Verran musste sich zusammenreißen, um seiner Wut nicht Luft zu machen. »Welche Art von Gerechtigkeit ist das? Was haben die Kinder getan, die in den Flammen gestorben sind? Was haben die Familien getan, die ihre Häuser verloren haben? Was haben die Feuerwächter getan, denen ihr ein Grinsen ins Gesicht geritzt und die ihr aufgeknüpft habt?«
Die Motte schwieg.
»Wenn Ihr darauf keine Antwort wisst, dann gibt es sie nicht«, stellte Rin Verran klar. »Ihr habt ihnen Unrecht getan und das ist unverzeihlich. Eure Gerechtigkeit ist nicht echt. Ihr benutzt sie nur als Ausrede, um Eure Taten zu rechtfertigen.«
»Ihr werdet es noch verstehen«, behauptete die Motte.
»Da gibt es nichts zu verstehen«, grollte er. »Was habt Ihr Euch von diesem Treffen erhofft? Dass ich es gutheiße, eine Stadt um der Gerechtigkeit willen niederzubrennen, sodass unschuldige Menschen sterben und ihr Zuhause verlieren? Ich bin ein Erzwächter. Was Ihr tut, verstößt gegen den Kodex.«
»Wir haben uns erhofft, dass Ihr Euch uns anschließen würdet.«
Rin Verran starrte die verschleierte Frau fassungslos an. »Was soll der Scheiß? Warum sollte ich das tun!«
»Ihr wisst anscheinend nicht genug.«
»Was sollte ich wissen?«
Auf einmal griff die Motte an den Gürtel ihres Kleides und entknotete den Beutel, der daran hing. Mit spitzen Fingern öffnete sie ihn, während Rin Verran sie unter höchster Anspannung beobachtete. Als sie hineingriff, zog er in einer Bewegung Habichtfeder und richtete die Spitze auf ihre Brust.
»Lasst den Beutel sofort fallen«, forderte er im Befehlston.
Die Motte hielt tatsächlich inne und hob den Kopf, wobei der Stoff des schwarzen Schleiers heftig hin und her wogte, aber nichts von ihrem Gesicht preisgab. »Nein.«
Bevor Rin Verran reagieren konnte, hatte die Frau ihre Hand aus dem Beutel gezogen und warf etwas in seine Richtung. Er versuchte, auszuweichen, doch plötzlich war die Luft vor ihm mit einer Art Staub gefüllt. Seine Augen brannten und er atmete die winzigen Körner versehentlich ein, hustete unkontrolliert. Habichtfeder entglitt seinen Händen, während er versuchte, den Staub wegzuwedeln. Schwarzer Stoff strich an seinem Arm entlang.
»Macht Euch keine Sorgen«, hörte er eine beruhigende Stimme. »Es ist nichts Schlimmes. Ihr werdet nur vergessen, dass dieses Treffen je stattgefunden hat.«
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Und hiermit heiße ich Drachenklaue Nr.1 offiziell willkommen. Sie ist zwar nicht die einzige, die bisher aufgetaucht ist, aber jetzt kennt ihr ihren Rufnamen: Die Motte O.o Kleine Testfrage, ob ihr gut aufgepasst habt: Wie vielen Drachenklauen ist Rin Verran bisher (offiziell) über den Weg gelaufen? O.o
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