Kapitel 29: Pflicht - Teil 2
Während der nächsten Tage und Wochen waren die Vorbereitungen für die Hochzeit in vollem Gange. Der Forellen-Pavillon wurde von Dul Caitha – mittlerweile hatte er sich an ihren richtigen Namen erinnert – persönlich geschmückt. Sie war in ihrer Heimat offenbar eine berühmte Künstlerin gewesen und die Wände im Muschel-Saal waren von oben bis unten mit Wandgemälden von ihr bedeckt.
Da Rin Verran der »Alternative« zugestimmt hatte, wurde er auch aus dem Gebäudeteil, in dem er gefangen gehalten worden war, in einen anderen verlegt. Genauer gesagt in denselben, in dem Dul Veyvey wohnte. Er spiegelte sein früheres Gefängnis genau wieder, bis auf die Anordnung der Möbel vielleicht und es gab auch keine Bibliothek, sondern ein Zimmer, das nur der Lagerung der Kleider und Schminksachen gewidmet war, die die junge Frau haufenweise hatte. Der Eingangsbereich war jedoch durch einen Wandschirm in der Mitte geteilt worden, sodass Rin Verran und Dul Veyvey theoretisch im selben Gebäudeteil waren – wie es sich für Ehemann und Ehefrau gehörte –, sich aber durch die Trennung trotzdem in unterschiedlichen Räumen aufhielten. Dennoch begegnete er Dul Veyvey oft genug, die ihm jedes Mal einen vernichtenden Blick zuwarf und ihre Dienerin Lai Vatani am Arm wegzog, während sie ihr lauthals erklärte, wie scheiße und unmöglich ihr Verlobter doch war. Rin Verran fand das mittlerweile schon so normal, dass es ihn nicht weiter kümmerte.
Das einzige, was ihm Sorgen machte, war, dass er selbst bei seiner eigenen Hochzeit wahrscheinlich ohne Familie da stehen würde. Oft, wenn er alleine im Bett gelegen und versucht hatte, sich Arcallas Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, hatte er sich ihre gemeinsame Hochzeit am Phönix-Hof vorgestellt. Wie sie in prächtigen Gewändern den Teppich entlang zur Treppe gehen würden, sich vor ihren Eltern verneigten und um ihren Segen baten. Tanzende Blütenblätter in der Luft, fröhliche Musik und Tänze. Bestimmt würde Rin Jadna ein eigenes Stück für seine Hochzeit schreiben und Rin Raelin würde vielleicht leise fluchen, aber später zu ihm kommen und ihm aufmunternd auf die Schulter klopfen. Und er selbst? Er würde Arcalla in seinen Armen halten und sie nie wieder loslassen.
Aber das war alles nur ein Traum, ein Wunschtraum, der jetzt nie in Erfüllung gehen würde.
Sein Vater und Rin Narema würden genauso wenig da sein wie Rin Raelin und Rin Jadna. Er hatte wenigstens seiner Schwester einen Brief geschrieben, aber sie hatte geantwortet, dass keiner von ihnen kommen würde, da er offiziell nicht mehr zu ihrer Familie gehörte. Und dass sie den Brief aus ihrer Musikschule in Ridike hatte schicken müssen, weil ihr Vater ihr und allen anderen verboten hatte, auf seine Nachricht zu antworten. Er hatte an ihrer Schrift und der teils verwischten Tinte gesehen, dass sie beim Schreiben gezittert hatte. Wenn ein Herz weinen könnte, wäre das von Rin Verran wahrscheinlich schon lange ausgetrocknet.
Am Tag der Hochzeit wurde er schon früh morgens von einem Diener geweckt und aus dem Gebäudeteil geschmissen, da Dul Veyvey jetzt anfangen würde, sich auf die Zeremonie vorzubereiten. Es brachte angeblich Unglück, wenn der Mann seine zukünftige Frau vorher im Hochzeitsgewand sah. Daher musste Rin Verran zurück in sein früheres Gefängnis, wo eine ältere Frau auf ihn wartete, die etwa Mitte fünfzig sein musste.
»Guten Morgen, Junger Herr Rin«, begrüßte sie ihn mit einer angedeuteten Verbeugung. »Gilden-Anführerin Dul hat mich für den heutigen Tag eingestellt, um Eure Eltern zu vertreten.«
»Meine Eltern zu vertreten?«, fragte er verständnislos, immer noch etwas müde vom frühen Aufstehen. »Mein Vater hat mich verstoßen und meine Mutter ist tot.«
»Deswegen bin ich ihre Stellvertretung.« Die Frau lächelte und zeigte dabei ihre krummen, wenn auch erstaunlich weißen, Zähne. »Eure Mutter hieß Mehn Shia, nicht wahr? Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich bei der Zeremonie mit Frau Mehn ansprechen.«
»Nein!«, sagte Rin Verran schon etwas zu laut. »Nein«, wiederholte er etwas leiser.
»Dann könnt Ihr mich Frau Kleeblatt nennen«, meinte die alte Frau. »Das tun alle, denn ich bringe Glück – so wie alle Kleeblätter. Besonders, wenn es eine so tolle Hochzeit in so einer großen Gilde ist, wie sie hier stattfinden wird!« Als er nicht antwortete, räusperte sie sich kurz und fragte: »Seid Ihr mit der Zeremonie bekannt, Junger Herr Rin?«
Rin Verran nickte wortlos. Als Rin Raelin noch mit Dul Veyvey verlobt gewesen war, hatte er gehört, wie Rin Narema ihm alles erklärt hatte. Dabei hatten die beiden sich so laut angeschrien, dass der ganze Phönix-Hof nun jede Einzelheit der Zeremonie kennen musste.
»Sehr gut. Ihr wisst also, was Ihr zu tun habt, sobald der letzte Sonnenstrahl untergeht?«
Rin Verran wollte nicht daran denken, nickte aber erneut.
»Dann folgt mir bitte in den Nebenraum.«
Frau Kleeblatt führte ihn ins Schlafzimmer, in dessen Mitte ein riesiger Spiegel aufgestellt worden war. Auf dem Bett lag das Hochzeitsgewand, das für ihn angefertigt worden war. Er hatte es noch nie zuvor gesehen und nur einige maßgeschneiderte Kopien mit billigem Stoff anprobiert. Aber der Stoff jetzt hatte eine andere Farbe.
»Warum blau?«, fragte er, obwohl er fürchtete, die Antwort schon zu wissen. »Warum nicht schwarz? Die Rin-Gilde trägt schwarze Kleidung mit aufgestickten, gelben Flammen. Keine blaue.«
»Richtig«, sagte Frau Kleeblatt. »Normalerweise trägt der Ehemann die Farben seiner eigenen Gilde und die Frau heiratet in seine Familie ein. Aber die heutige Hochzeit ist eine Ausnahme. Da Ihr aus Eurer Gilde verstoßen worden seid, habt Ihr kein Recht darauf, das Schwarz mit gelben Flammen zu tragen. Daher heiratet Ihr also in die Dul-Gilde ein und Euer Hochzeitsgewand ist entsprechend blau.«
»Er sollte froh sein, dass er seinen Nachnamen überhaupt behalten darf«, zischte einer der Diener gerade so laut, dass Rin Verran es noch hören konnte. Er kümmerte sich nicht darum. War zu sehr damit beschäftigt, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen. Das ist so verdammt erniedrigend... Allmählich verstand er, was Dul Caitha damit gemeint hatte, er könnte Selbstmord begehen, wenn sie ihn auch noch dazu zwangen, seinen Nachnamen abzulegen. Er wünschte sich, er würde einfach aufhören, zu existieren.
Als Frau Kleeblatt merkte, dass Rin Verran offenbar nicht vorhatte, irgendwas zu entgegnen, klatschte sie in die Hände und gab den Dienern einige Anweisungen. Daraufhin wurde er zuerst in ein Bad geführt, ordentlich gewaschen und mit Ölen und Duftwassern förmlich überschüttet. Dann halfen die Bediensteten ihm, sich anzukleiden. Das traditionelle Hochzeitsgewand bestand aus mehreren Teilen und wurde auch nicht umsonst »Gewand« genannt. Es gab zwar eine Hose, aber darüber wurde noch eine Art Waffenrock geworfen – nur dass er viel leichter war und es auch keinen Gürtel gab, an dem zum Beispiel ein Schwert befestigt werden konnte. Stattdessen wurde eine breite Stoffbahn um die Taille geschlungen und zwischen jede Lage steckte Frau Kleeblatt mit gemurmelten Worten einige Amulette oder kleine Steine.
»Für Eure Gesundheit und die Gesundheit Eurer Frau«, hörte er sie sagen.
»Für gesunde Nachkommen.«
»Für viel Erfolg im Leben.«
»Für einen klaren und vernünftigen Geist.«
»Für – gehst du wohl rein – ein langes Leben.«
Am Ende fühlte Rin Verran sich wie ein Fass, in das man unzählige Steine geworfen hatte. Er konnte seinen Oberkörper kaum nach vorne oder zur Seite beugen, weil er fürchtete, dann eines der Amulette zu zerbrechen. Der blaue Stoff war so fest gewickelt, dass er sich beunruhigt fragte, ob er überhaupt noch Luft bekommen würde, wenn er etwas gegessen hatte. Und davon würde es heute bestimmt reichlich geben.
Zuletzt hängte einer der Diener ihm einen Umhang um die Schultern, der sein gesamtes Gewicht mit einem Mal nach hinten verlagerte. Der Stoff schleifte auf dem Boden, aber das sollte wohl so sein. Jedenfalls wirkte Frau Kleeblatt vollauf zufrieden, als er etwa um zehn Uhr alles angelegt hatte, was man für ihn vorbereitet hatte.
»Eine Sache fehlt noch«, meinte die alte Frau jedoch plötzlich und schaute in Richtung Tür, als würde sie auf jemanden warten. Im selben Moment tauchte tatsächlich ein Diener auf. In seinen Händen trug er...
»Habichtfeder?«, fragte Rin Verran ungläubig. Fast von allein streckte er sich nach seinem Schwert aus, doch Frau Kleeblatt stellte sich ihm in den Weg. Natürlich. Das wäre auch zu leicht gewesen.
»Ihr bekommt Euer Herzstück morgen wieder«, erklärte sie. »Ihr solltet es nur sehen, um zu wissen, dass Gilden-Anführer Dul gut darauf Acht gegeben hat.«
Rin Verran nickte, halb erleichtert und halb enttäuscht. »Danke.«
»In einer Stunde beginnt die Zeremonie«, verkündete Frau Kleeblatt. »Bis dahin könnt Ihr Euch noch ausruhen. Aber setzt Euch auf keinen Fall hin, sonst zerknittert der Stoff. Und geht auch nicht raus, sonst wird der Saum Eures Umhangs schmutzig. Bleibt am besten einfach hier stehen.«
Hier stehen bleiben. Eine Stunde lang. Rin Verran fühlte sich jetzt schon elend genug, aber auch noch eine Stunde rumstehen? Unter den wachsamen Augen der Dienerschaft blieb ihm allerdings keine Wahl. Ich darf nicht raus, aber ich darf doch bestimmt im Gebäude bleiben. Probehalber machte er einen Schritt aus dem Schlafzimmer hinaus und als man ihn nicht aufhielt, durchquerte er den Eingangsbereich. Er wusste nicht, warum, aber seine Füße trugen ihn zu der kleinen Bibliothek auf der anderen Seite. Ich mag keine Bücher, dachte er, während er den Blick trotzdem über die Schriften gleiten ließ. Es waren ziemlich viele Sachbücher über Medizin dabei, die glatt aus der Gämsen-Pagode kommen könnten. Insgeheim fragte er sich, wer wohl normalerweise in diesem Gebäudeteil wohnte. Und warum war derjenige gerade nicht da? Aus Langeweile fuhr er mit den Fingern die verschiedenen Buchrücken entlang, zog einen der Wälzer heraus und begann lustlos, darin herumzublättern.
Etwa eine Stunde später rief ein Diener nach ihm. »Folgt mir jetzt in den Muschel-Saal«, sagte er. »Die Zeremonie fängt an.«
Als Rin Verran in Begleitung des jungen Mannes und einer ganzen Dienerschaft hinter ihm den Gebäudeteil verließ, hörte er schon von Weitem die Musik und die lauten Stimme der eingeladenen Gäste. Sein Blick huschte zur Seite gegenüber, wo gleichzeitig Dul Veyvey ihr Zimmer verlassen hatte. Sie trug ein traditionelles Hochzeitskleid, ebenfalls vollständig blau und mit aufgestickten Wellenmustern und Fischen verziert. An einigen Stellen zogen sich Gold- und Silberfäden durch den Stoff, die bei jeder Bewegung schillerten wie Fischschuppen. Wie sein Umhang schleifte auch ihr Saum am Boden. Ihr Gesicht hatte sie mit einem hellblauen, fast weißen Schleier verdeckt. Darüber hinaus ragte ein hoher Kopfschmuck aus purem Silber, von dem allerlei Perlen und Muscheln an Fäden herab hingen. Anhand ihres kurzen Stockens konnte Rin Verran erahnen, dass sie ihn gerade ebenfalls gesehen hatte.
Vor dem Eingang des Muschel-Saals trafen sie zusammen. Wie die Tradition es verlangte, hielt Rin Verran ihr seine Hand hin, damit sie Seite an Seite vor ihre Eltern – in seinem Fall nur Frau Kleeblatt – traten, um ihren Segen zu erbitten. Dul Veyvey ergriff sie auch, aber mit so einem Druck, dass es fast schon schmerzte. Ihre Fingernägel, die sie sich vielleicht sogar absichtlich spitz gefeilt hatte, bohrten sich in seine Haut. Er presste die Kiefer zusammen und ließ sich nichts anmerken. Sie durften nicht miteinander reden. Noch nicht.
Im Muschel-Saal war es so voller Menschen, dass die Wände, die Dul Caitha noch Tage zuvor so hübsch geschmückt hatte, nicht zu sehen waren. Die Dul-Gilde hatte sich offenbar alle Mühe gegeben, möglichst viele der verbündeten Gilden zum Forellen-Pavillon einzuladen. Er kannte nur sehr wenige davon, nämlich die, die auch beim Zatos dabei gewesen waren. Von allen Seiten wurde ihnen zugejubelt und einige der Gäste streuten ihnen Blütenblätter auf den Weg. Ein paar von ihnen blieben in Dul Veyveys Haaren hängen, aber weder sie noch Rin Verran machten Anstalten, sie zu entfernen. Erstere nicht, weil sie sich wahrscheinlich nicht darum kümmerte, und letzterer nicht, weil er fürchtete, sie würde ihm ihre Klauen noch tiefer in die Haut bohren. Am Ende des Teppichs blieben sie stehen und knieten sich im Gleichklang vor Dul Nehmon, Dul Caitha und Frau Kleeblatt hin, die als einzige neben den Gilden-Anführern stehen durfte.
»Was ist dein Begehr, meine Tochter?«, fragte Dul Nehmon und alle Anwesenden verstummten. Normalerweise war es der Vater des Bräutigams, der diese Frage zuerst stellte, gefolgt von der Mutter der Braut, aber anscheinend hatte die Dul-Gilde auch das verändert.
»Ich möchte dich um deinen Segen für diese Ehe bitten, Dul Nehmon, Vater«, sagte Dul Veyvey viel zu laut und riss Rin Verrans Hand fast schon ruckartig hoch. »Segne meinen Bund mit Rin Verran.«
»Du bekommst meinen Segen«, erwiderte Dul Nehmon und legte seiner Tochter die Hand auf den Kopf. Dann drehte er sich zu Dul Caitha, um das Weinglas zu nehmen, das sie ihm hinhielt. Er reichte es an Dul Veyvey weiter. »Nimm dies als Zeichen meines Einverständnisses.«
»Was ist dein Begehr, mein Sohn?«, fragte nun Frau Kleeblatt.
»Ich möchte dich um deinen Segen für diese Ehe bitten, Frau Kleeblatt«, antwortete Rin Verran. Ihm entging keineswegs, dass einige der Gäste untereinander zu tuscheln anfingen, aber er wollte es einfach nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. Auch er hob die Hand, in der er noch die von Dul Veyvey hielt. »Segne meinen Bund mit Dul Veyvey.«
»Du bekommst meinen Segen«, sagte Frau Kleeblatt und legte ihm ebenfalls kurz die Hand auf den Kopf, bevor sie ihm ein weiteres Weinglas reichte. »Nimm dies als Zeichen meines Einverständnisses.«
Rin Verran und Dul Veyvey verneigten sich noch auf Knien vor den zwei Gilden-Anführern und Frau Kleeblatt, bevor sie aufstanden und sich einander zuwandten. Ihm entwich fast ein erleichtertes Seufzen, als Dul Veyvey seine Hand losließ, damit er ihr den Schleier entfernen konnte. Er warf das dünne Stück Stoff hoch, wo es von einem leichten Luftzug in Richtung der Gäste getrieben wurde. Irgendwo brach ein kleiner Tumult aus, bis eine junge Frau freudig quietschte, weil sie den Schleier gefangen hatte. Angeblich brachte das Glück.
Währenddessen verschränkten Rin Verran und Dul Veyvey die Arme miteinander und tranken auf diese Weise aus dem Weinglas. Der Wein schmeckte bitter, fast so bitter wie der, den er in der Gämsen-Pagode probiert hatte, aber er verzog sein Gesicht nicht. Dul Veyvey würde sich bestimmt auf jedes noch so kleine Anzeichen von Schwäche stürzen. Dabei rümpfte sie selbst kurz die Nase, bevor sie schluckte. Dann nahmen sie sich wieder bei den Händen – eher gesagt verkrallte Dul Veyvey sich erneut in seiner Handfläche – und drehten sich ein letztes Mal ihren Eltern zu.
»Rin Veyvey und Rin Verran«, sagten die drei Menschen gleichzeitig. »Vereint im Leben, vereint im Tod, vereint bis in die Ewigkeit!«
Daraufhin brandete lauter Jubel auf, unter dem Ehemann und Ehefrau die Treppe hoch stiegen und sich an den Tisch setzten, der neben dem der Gilden-Anführer stand. Es war eine Ausnahme, die nur während einer Hochzeit stattfand. Der Tisch war bereits reich gedeckt. Rin Verrans Blick fiel sofort auf die Weinkaraffe. Angeblich ließ sich vieles leichter ertragen, wenn man trank. Als die Musik wieder einsetzte und der Großteil der Gäste mit sich selbst oder den Köstlichkeiten auf ihren eigenen Tischen beschäftigt war, griff Rin Verran sogleich nach dem Wein, wurde jedoch auf halbem Weg von Rin Veyvey aufgehalten. Sie schlug seine Hand platt auf den Tisch und bohrte gleichzeitig ihre Fingernägel in seine Haut.
»Es ist noch zu früh, um sich zu betrinken, Liebster«, sagte sie mit einem so künstlichen Lächeln, dass Rin Verran für einen Moment glaubte, ihr Gesicht müsse gleich zerspringen.
Er musste erstaunlich viel Kraft aufwenden, um seine Hand unter der von Rin Veyvey wegzuziehen, wobei ihre Fingernägel auch noch rote Kratzer hinterließen. »Ich danke dir, dass du dir solche Sorgen über mein Wohlbefinden machst, aber ich weiß sehr wohl, was gut für mich ist und was nicht«, meinte er mit einem genauso aufgesetzten Grinsen.
»Wer weiß, was passieren wird, wenn du dich betrinkst. Vielleicht gehst du dann wieder auf die Suche nach Abenteuern wie du es am Phönix-Hof gemacht hast. Denkst du, ich hätte deine Alkohol-Fahne damals nicht bemerkt?« Sie zeigte ihre strahlend weißen Zähne. »Mein Vater wird dich umbringen, wenn du mir untreu bist. Er wird es nicht ertragen, mich mit einem gebrochenen Herzen zu sehen.«
»Dein Herz bricht also nur, wenn Menschen sterben, die du hasst? Was passiert denn mit ihm, wenn es jemand ist, der dir etwas bedeutet?«
»Wer sagt denn, dass ich dich hasse, Liebster? Wie könnte ich dich hassen, wenn wir doch jetzt Mann und Frau sind, vereint bis in alle Ewigkeit.«
»Eine Ewigkeit ist sehr lange.«
»Ach was.«
»Du könntest dich erlösen, indem du Selbstmord begehst.«
Rin Veyveys Lächeln gefror für einen kurzen Augenblick. Er bemerkte, wie ihre rechte Hand kurz zuckte, bevor sie sie zu einer Faust ballte. »Dasselbe könnte ich dir vorschlagen, Liebster«, sagte sie schließlich. »Nur schade, dass du dein Herzstück erst nach der Hochzeit bekommst.«
»Ich könnte...« Rin Verran stockte mitten im Satz. Ihm fiel auf, dass sich auf dem Tisch kein einziges Messer befand und die Speisen waren auch nur welche, die man mit den Händen oder mit einer Gabel essen konnte, deren Zinken so stumpf waren, als hätte man sie mehrmals gegen eine Mauer geschlagen.
»Du könntest zurzeit gar nichts«, sagte Rin Veyvey, während sie selbst nach der Weinkaraffe griff und sich zuerst etwas einschenkte. »Außer gehorsam mitspielen und lächeln. Immerhin bist du sowas wie eine Berühmtheit. Was für eine Ehre. Ein Schüler von Meister Jhe, der auch noch indirekt den Anstoß dazu gegeben hat, die Dörfer mit den Feuerwächtern gegen die Drachenklauen zu schützen.« Sie stürzte den Wein mit einem Schluck runter und verzog kurz das Gesicht. »Wenn sie wüssten, was der wirkliche Grund für diese Hochzeit ist... Sie würden nicht so fröhlich jubeln und klatschen, tanzen und singen. Sie würden mit dem Finger auf dich zeigen und dich verfluchen.«
Rin Verran schwieg, obwohl ihm eine scharfe Bemerkung auf der Zunge lag.
»Du versuchst nicht mal, es abzustreiten«, lachte Dul Veyvey neben ihm. »Du weißt, dass es die Wahrheit ist.«
»Wenn wir schon in so einer Situation sind, sollten wir das beste daraus machen«, schlug Rin Verran zögerlich vor. »Wir sind nicht die einzigen, deren Ehe allein durch Bündnisse und politische Vorteile zustande gekommen ist.« Er dachte an Ghan Shedor, der Mahr Minue beim Zatos so unfreundlich abgewiesen hatte und musste fast mitleidig lächeln. »Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist. Für mich auch nicht. Ich liebe dich nicht, du mich auch nicht und ich bezweifle, dass wir nach dem, was zwischen uns passiert ist, jemals Gefühle füreinander entwickeln werden. Ich werde dich nicht berühren, wenn du es nicht möchtest. Ich werde dich auch zu nichts zwingen oder dich irgendwie bedrängen. Du wirst alle Freiheiten haben, die du dir wünschst. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Ich habe keine Angst«, sagte Rin Veyvey sofort und funkelte ihn von der Seite her an. »Solange mein Vater lebt, wird er nicht zulassen, dass du mir etwas antust. Ich könnte genau jetzt anfangen zu schreien und behaupten, du hättest mich unangemessen berührt, und er würde dich mit einem einzigen Peitschenhieb von Elmsfeuer töten.«
»Warum tust du es dann nicht?«
Rin Veyvey rümpfte die Nase. »Wenn du tot ist, wird er mich wahrscheinlich mit jemand anderem verloben, der schlimmer ist als du.«
Rin Verrans Lippen zuckten kurz belustigt. Seufzend streckte er die Hand in einem zweiten Versuch nach der Weinkaraffe aus. Dieses Mal hielt Rin Veyvey ihn nicht auf und es gelang ihm, sich ein Glas einzuschütten. Der Wein schmeckte genauso bitter wie bei der Zeremonie. Ekelhaft. Aber mit jedem Schluck wurde die Feier ein Stück erträglicher. Er schaffte es sogar, den Leuten zuzulächeln, die bei ihnen vorbei kamen, um ihnen zu gratulieren und ein Geschenk zu übergeben. Die ganzen Kisten, Schachteln und Beutel wurden von den Dienern sofort weggebracht, wahrscheinlich in Rin Veyveys Gebäudeteil, wo sie sie später auspacken und sortieren würden. Rin Verran war ehrlich beeindruckt, als Dul Nehmon einem Bediensteten tatsächlich Habichtfeder in die Hand drückte und ihm befahl, das Schwert ebenfalls dorthin zu bringen.
»Dein Herzstück?«, fragte Rin Veyvey auf einmal ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Ja«, antwortete er. »Es heißt Habichtfeder.«
»Das passt. Hässliches Schwert, hässlicher Name.«
»Und deines ist besser oder was?«
»Natürlich!«
»Dann zeig her!«
Rin Veyvey spießte ein Stück Fleisch mit der Gabel so heftig auf, dass Rin Verran kurzzeitig das Gefühl hatte, sie würde die Zinken in Wirklichkeit in seine Hand rammen. »Nein.« Bevor er etwas Unfreundliches erwidern konnte, hellte ihr Gesicht sich plötzlich auf. Er folgte ihrem Blick, konnte aber nicht herausfinden, auf wen genau sie schaute.
»Wer ist da?«, fragte er schlecht gelaunt.
»Das hat dich nicht zu interessieren!«, antwortete Rin Veyvey barsch und seufzte im nächsten Moment, gab nach: »Meine Schwester. Sie hat bei der Ghan-Gilde gearbeitet und wollte eigentlich rechtzeitig zur Zeremonie kommen. Wahrscheinlich wurde sie aufgehalten. Arcalla!«
Während Rin Veyvey mit der Hand winkte, gefror Rin Verrans gesamter Körper innerhalb einer Sekunde, nachdem er diesen Namen gehört hatte. Er konnte fast nicht atmen, saß steif auf seinem Stuhl und dachte, er hätte sich verhört. Das Blut in seinen Ohren rauschte so laut, dass es alles andere übertönte. Sein Sichtfeld wurde irgendwie dunkler und auch verschwommen. Undeutlich sah er, wie sich eine Gestalt in der grauen Kleidung der Ghan-Gilde aus der Menge löste und die Treppe zu ihnen hoch ging. Die blonden Haare waren mit einer grünen Haarklammer hochgesteckt. Der Blick der blaugrünen Augen bohrte sich in ihn wie die vergiftete Klinge eines Messers, direkt ins Herz. Fast hätte er sich an die Brust gegriffen. Der Schmerz war beinahe unerträglich. Seine Kehle war trocken.
»Das ist das Schwein, von dem ich dir geschrieben habe«, hörte er Rin Veyveys Stimme wie aus weiter Ferne. »Du brauchst ihn gar nicht zu beachten. Er hat sowieso gerade beschlossen, sich zu betrinken. Warum schaust du ihn so an?«
»Ich kenne ihn.«
Die drei Worte waren drei schmerzhafte Stiche in sein Herz. Es ist wirklich Arcalla. Nein. Wie kann das sein? Wie ist das möglich? Warum habe ich nicht mitbekommen, dass sie, ausgerechnet sie, die Schwester ist? Warum... Warum... Das Wort hallte unaufhörlich in seinem Kopf wieder. Ein nicht enden wollendes Echo. Wenn er jetzt jedoch genauer darüber nachdachte, war es so offensichtlich gewesen. Er wusste, dass Dul Caithas Wandgemälde ihn an irgendwas erinnerten. Das von Arcalla mit den Rehen und den Pfirsichzweigen war auf eine ähnliche Art gemalt worden. Dann die unglaubliche Ähnlichkeit der zwei Schwestern. Hatte er nicht sogar noch gedacht, dass Rin Veyvey fast wie Arcalla aussah? Beide hatten blonde Haare, wobei die von Rin Veyvey jedoch mit einem leichten Orangestich versetzt waren. Und... Er dachte an den Gebäudeteil, in dem er gefangen gewesen war. Die Medizinbücher in der Bibliothek, die er sich doch noch vor der Zeremonie angeschaut hatte! Gehörten sie wirklich Arcalla? Hatte er die ganze Zeit in ihrem Zimmer geschlafen? Seine Finger krallten sich schmerzhaft in die Tischplatte, während er versuchte, ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen. Es klappte nicht.
»Du kennst ihn?«, fragte Rin Veyvey überrascht, die seine Reaktion entweder ignorierte oder nicht gesehen hatte.
»Ja.« Arcalla nickte. »Aus der Gämsen-Pagode. Ich habe damals seine Wunden behandelt. Und beim letzten Zatos habe ich auch seinen gebrochenen Arm versorgt.«
Sie erinnert sich, schoss es Rin Verran durch den Kopf. Aber sie weiß es nicht. Sie weiß nicht, was das für mich bedeutet. Warum habe ich nicht auf Jadna gehört und ihr damals schon alles gesagt? Es quälte ihn, war reinste Folter. Noch schlimmer war die Tatsache, dass Rin Veyvey ihrer Schwester offenbar erzählt hatte, was am Phönix-Hof passiert war. Fast von alleine schob seine Hand sich in Richtung Dul Arcalla, wie sie wohl mit vollem Namen hieß. Er wollte ihre Hand nehmen, ihr in die Augen sehen und sie um Vergebung anflehen. Erst im letzten Moment schaffte er es, das zu verhindern und ergriff stattdessen die Weinkaraffe, goss sich ein weiteres Glas ein. Er wollte das alles nicht hören, nicht sehen, einfach nicht mitbekommen. Wollte vergessen.
»Warum hast du mir nicht geschrieben, dass du ihn kennst?«, fragte Rin Veyvey leicht vorwurfsvoll.
»Du hast seinen Namen nie erwähnt«, sagte Dul Arcalla. »Nicht mal, aus welcher Gilde er stammt. Du hast es vergessen.« Ihre Augen waren fest auf Rin Verran geheftet, der das nächste Glas hinunter kippte. In ihrem Blick lag so etwas wie Mitleid und vielleicht, ganz vielleicht, so etwas wie Bedauern. »So, wie du ihn im Brief beschrieben hast, wäre ich nie im Leben darauf gekommen, dass er es ist.«
»Wirklich nicht?« Rin Veyvey lachte. »Auf gewisse Weise stimmt das. Alle Männer sind gleich!«
Dul Arcalla riss den Blick von Rin Verran los und richtete ihn auf ihre Schwester. »Einige sind anders.«
»Das sagst du jetzt«, entgegnete Rin Veyvey. »Aber wenn Vater dir ebenfalls ein Schwein als Ehemann aussucht, wirst du genauso reden wie ich.« Als ihre Schwester schwieg, legte sich ein neckisches Lächeln auf ihre roten Lippen. »Oder hast du selbst schon jemanden im Blick?«
Dul Arcalla schüttelte den Kopf. »Nein.« Dann seufzte sie und hielt sich zwei Finger an die Schläfe. »Tut mir leid. Ich habe gerade nicht so gute Laune und bin unglaublich müde.«
Rin Veyvey wirkte etwas enttäuscht. »Was ist denn passiert? Haben irgendwelche Vollpfosten dich auf deiner Reise hierher aufgehalten? Sag Vater Bescheid und er wird nach ihnen suchen und sie bestrafen lassen.«
»Nein. An dem Tag, an dem ich eigentlich aufbrechen wollte, ist Gilden-Anführerin Ghan gestorben«, erklärte Dul Arcalla. »Ich habe mich so lange um sie gekümmert und... Ich konnte nichts tun. Sie ist einfach gestorben. Nach der Hochzeit von Ghan Shedor und Mahr Minue ging es ihr immer schlechter. Als hätte sie allen Sinn zu leben verloren. Nichts hat geholfen. Sogar ihr Verstand hat gelitten. Sie hat Sachen behauptet... Ich glaube, sie wusste selbst nicht, was sie da sagt.«
Rin Veyvey nahm die Hand ihrer Schwester und streichelte sie tröstend. »Du kannst nichts dafür. Jeder hat gewusst, dass Ghan Ilana krank war. Ohne dich wäre sie wahrscheinlich sogar noch früher gestorben.«
Dul Arcalla nickte langsam. »Ich weiß. Als Heilerin sollte ich eigentlich wissen, dass so etwas jederzeit passieren kann, aber... Es ist das erste Mal und es fühlt sich nicht so an, wie ich es mir vorgestellt habe. Es ist schrecklich.«
»Ich verstehe«, sagte Rin Veyvey. »Möchtest du dich zu uns setzen? Wir können über andere Sachen reden, damit du auf bessere Gedanken kommst.«
»Ich denke nicht, dass das angemessen ist«, gab Dul Arcalla zu. »Immerhin ist das deine Hochzeit. Und außerdem habe ich mich noch nicht umgezogen.«
»Ist doch egal. Komm, setz dich.« Sie rückte ein Stück zur Seite und winkte einem Diener zu, damit er ihnen einen weiteren Stuhl brachte. Auf einmal schien Rin Verran etwas zu murmeln, was Rin Veyvey jedoch nicht verstand. Sie schob ihm die nur noch zur Hälfte gefüllte Weinkaraffe näher hin – vielleicht war es sogar besser, wenn er sich betrank – und winkte ab, während sie sich ihrer Schwester zuwandte. »Ignorier ihn einfach. Er wird in ein paar Stunden sowieso nur noch Gemüse sein, wenn er weiter trinkt. Der Frostwein der Verr-Gilde schmeckt wirklich ekelhaft, ist aber sehr stark.«
»Schenk mir auch ein«, sagte Dul Arcalla auf einmal. »Nur ein Glas.«
Rin Veyvey sah sie verwundert an, bevor sie einen leisen Pfiff ausstieß. »Hat die Ghan-Gilde dir etwa beigebracht, zu trinken? Ich muss sagen, ich bin beeindruckt!«
»Nur ein Glas«, wiederholte Dul Arcalla und prostete ihrer Schwester kurz zu. »Auf dein Wohl und das von Rin Verran.«
»Das Wohl von diesem Schwein kannst du weglassen.« Sie warf Rin Verran einen abfälligen Blick zu, der mit trübem Blick auf den leeren Teller vor sich starrte. »Wenn er sich irgendwie falsch verhält, wird er meinen Goldenen Fuchs zu spüren bekommen.« Fast beiläufig tippte sie die goldene Spange in ihren Haaren an.
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Ein langes Kapitel mit einer entscheidenden Erkenntnis. Rin Verran, es tut mir echt leid :(
Die Hochzeitszeremonie habe ich mir aus allerlei Hochzeitsbräuchen und Co. aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammengewürfelt. Das mit dem Schleier kennt man vermutlich. Das mit dem »die Braut vor der Zeremonie zu sehen bringt Unglück« vermutlich auch. Das mit dem Schleier, der gefangen wird und dann Glück bringt ist das Äquivalent zum Blumenstraußfangen. Das mit den Amuletten und Steinen habe ich mir von den Mumien der Pharaonen abgeguckt XD Ich fand es einfach cool und bestimmt wird das irgendwo auf der Welt auch wirklich bei einer Hochzeit gemacht.
Das nächste Kapitel wird zusammen mit einem Überblick über die wichtigsten Gilden und Figuren kommen. Jetzt wisst ihr ja endlich, wer Arcalla wirklich ist und zu welcher Gilde sie gehört.
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