Kapitel 21: Wiedersehen - Teil 1
Vier Monate später veranstaltete die Ghan-Gilde eine Zatos-Meisterschaft. Die erste, an der Rin Verran teilnehmen würde. Schon Wochen vorher hatten er und Rin Raelin damit angefangen, ihre Kampf- und Bogenschusstechniken aufzufrischen, während Rin Jadna unnachgiebig auf ihrer Flöte Traumfänger geübt hatte. Letztes Jahr, als die beiden Brüder auf dem Weg zum Krähen-Palast gewesen waren, hatte es ebenfalls einen Zatos gegeben, auf dem sie beinahe den ersten Platz im Musik-Wettkampf gewonnen hatte. Nur eine junge Frau aus einer kleineren Gilde war besser als sie gewesen, doch wenn die Gerüchte stimmten, hatte sie ihr Instrument aufgegeben, sodass Rin Jadna nun alle Chancen hatte, den Wettkampf endlich zu gewinnen.
Rin Baleron und Rin Narema waren anfangs erneut dagegen gewesen, Rin Verran mitzunehmen. Wer sie letztendlich doch noch überzeugen konnte, war unbekannt. Vielleicht lag es ganz einfach daran, dass er bei dem Vorfall im Rotkiefer-Hain dabei gewesen war und viele Gilden ihn und Rin Raelin sehen wollten. So oder so, Rin Baleron hatte die Vorbereitungen seiner Söhne sorgsam überwacht, wobei jedoch unklar gewesen war, ob er gut fand, was er sah, oder nicht. Manchmal hatte er auch sein eigenes Schwert Feuerkranz gezogen und damit einige Bewegungen vorgeführt, die die beiden dann versucht hatten, nachzuahmen. Feuerkranz war nicht sein Herzstück – das hatte er vor vielen Jahren verloren –, aber trotzdem war Rin Baleron eins mit seiner Waffe und hatte seinen Söhnen vieles zeigen können.
Da der Zatos im Silbermistel-Wald stattfand, hatte die Rin-Gilde einen langen Weg vor sich und reiste deshalb mit einer kleinen Wagenkolonne, die von Pferden gezogen wurde. Rin Raelin war im ersten Moment überhaupt nicht begeistert gewesen, hatte aber keine andere Wahl gehabt. Wenigstens musste er nicht auf einem der Pferde reiten.
Je näher sie dem Territorium der Ghan-Gilde und besonders dem Krähen-Palast kamen, desto nervöser wurden die beiden Brüder. Zum Glück konnten sie es aber auf ihre Aufregung wegen des Zatos schieben. Insgeheim fragten sie sich jedoch, ob Ghan Kedron vielleicht darauf gekommen war, wer ihm in Wirklichkeit den Brief untergeschoben hatte. Vielleicht würde er sie öffentlich zur Rede stellen. Vielleicht...
»Ihr seht so nervös aus«, bemerkte Rin Jadna, die mit ihnen im Wagen reiste. »Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen. Alle Wettbewerbe sind fair und selbst wenn ihr nicht so gute Plätze belegt, wie ihr es euch erhofft habt, solltet ihr nicht traurig sein. Der erste Zatos ist immer etwas Aufregendes.«
»Es ist nicht mein erster Zatos«, brummte Rin Raelin.
»Aber der erste, an dem du teilnimmst.« Rin Jadna zwinkerte ihm aufmunternd zu. Im selben Moment blieb der Wagen stehen und sie schob die Vorhänge etwas zur Seite, um nach draußen schauen zu können. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Wir sind da!«
Die drei Geschwister stiegen aus und wurden sofort von einer Reihe von Dienern empfangen, die sie mit höflichen Worten und vielen Verbeugungen in Richtung des Krähen-Palastes führten. Rin Verran schaute sich neugierig um. Sie waren wirklich auf die andere Seite der Mauern gekommen, die jetzt hinter ihnen hoch ragten. Über den schwarzen Steinen waren die hellgrünen Baumkronen zu sehen, die leicht rauschten, sobald ein Windstoß über sie fuhr. Vor ihm erhob sich hingegen der Krähen-Palast in all seiner Pracht.
Rin Verran hätte nicht gedacht, dass Menschen so etwas Riesiges bauen könnten, das auch noch so respekteinflößend aussah. Die Mauern und Dächer waren vollkommen schwarz und wirkten wie direkt aus einem Albtraum in die wirkliche Welt geholt. Als sie durch das Eingangstor traten, war davon jedoch nichts mehr zu sehen. Überall funkelte und glitzerte es als wäre der ganze Palast ein unglaublich teures Kunstwerk. Vielleicht war er das ja auch.
»Hier entlang, Gilden-Anführer«, sagte einer der Diener weiter vorne zu Rin Baleron und führte sie durch einen weiten Flur, der kein Ende zu haben schien. Die drei Geschwister folgten gehorsam und bald erreichten sie ein großes Tor, das wieder nach draußen führte. Schon von Weitem war das laute Gelächter und die angeregten Gespräche der anderen Gäste zu hören. Sie standen alle auf einem riesigen Platz, der bis an die hinterste Mauer des Krähen-Palastes reichte. Die Ghan-Gilde hatte sich wirklich Mühe gegeben, alles so bequem und hübsch wie möglich einzurichten. In regelmäßigen Abständen waren Tische und Stühle aufgestellt und an den Rändern befand sich ein großes Buffet, bei dessen Köstlichkeiten Rin Verran das Wasser im Mund zusammenlief.
Mit aller Macht riss er sich von dem Anblick los und betrachtete die Gäste. Es waren Anhänger der verschiedensten Gilden gekommen, groß und klein, alles Erzwächter. Die meisten gehörten jedoch eindeutig der Ghan-Gilde und der Mahr-Gilde an. Die dunkelgraue und rotbraune Kleidung war fast bei jedem Schritt anzutreffen. Aber es waren so unglaublich viele... Er hoffte insgeheim, eine ganz bestimmte Person zu sehen. Eine Person mit blonden Haaren, die hoffentlich noch die grüne Haarklammer trug, die er ihr einst geschenkt hatte, aber im selben Moment wurde er von Rin Raelin zum Buffet gezerrt. Rin Jadna war irgendwo in der Menge verschwunden – wahrscheinlich, um ihre Freundinnen aus der Gämsen-Pagode zu suchen – und Rin Baleron und Rin Narema hatten sich zu den anderen Gilden-Anführern gesellt, die an einem abgesonderten Tisch saßen und sich unterhielten.
»Teigtaschen«, sagte Rin Raelin und zeigte auf einen Teller, auf dem die Leckereien sich stapelten. »Die mochtest du doch so gerne. Hast am Phönix-Hof die ganze Zeit darum gebeten, dass man sie backt.«
Rin Verran schaute die besagten Teigtaschen an. Ja, weil Arcalla sie mir mal gemacht hat, dachte er. Und die hier sehen nicht so aus. Trotzdem ergriff er grinsend eine davon, legte sie sich auf einen Teller und ließ den Blick über das restliche Buffet schweifen. Am Phönix-Hof gab es zwar auch leckere Sachen zu essen, aber oft genug meinte Rin Narema, den Köchen vorschreiben zu müssen, was sie zu kochen hatten, und das waren meistens Gerichte, die normalerweise nur Bauern aßen. Angeblich waren sie gut für die Gesundheit, doch niemand – außer Rin Narema selbst scheinbar – mochte solche billigen Bauernmahlzeiten.
Nachdem Rin Verran und Rin Raelin sich weitere Sachen geholt hatten, machten sie sich auf die Suche nach einem freien Tisch, was sich als schwieriger herausstellte als erwartet. Letztendlich blieben sie irgendwo am Rand der Menge stehen, während sie aßen und die Leute beobachteten.
»Da ist Nan Fe«, sagte Rin Raelin auf einmal und fluchte gleich darauf. »Verdammt, sie kommt auf uns zu!«
»Hallo, ihr beiden!«, rief sie aus einigen Schritten Entfernung und blieb dann stehen. Sie hatte sich seit ihrer letzten Begegnung in Kothar nicht viel verändert. Nur waren ihre blonden Haare etwas länger geworden und sie trug jetzt ein orangenes Gewand, das an den Ärmeln zusätzlich mit weißen Schneeflocken verziert war – die Farben der Nan-Gilde. An ihrem Gürtel hing ihr Dolch, Geist, der genauso aussah wie früher der von Bao Jenko. »Wo ist Bao Jenko?«, fragte sie auch sofort. »Ist er nicht bei euch? Geht es ihm gut? Oder ist er krank und am Phönix-Hof geblieben? Ich kann ihn irgendwie nicht finden und auf meine Briefe hat er auch seit einiger Zeit nicht mehr geantwortet.«
»Er...«, hob Rin Raelin an, doch Rin Verran unterbrach ihn schnell, bevor er etwas von sich geben konnte, was Nan Fe verletzen könnte. Er hatte schon vermutet, dass Bao Jenko ihr nichts gesagt hatte, um sie nicht zu enttäuschen. Aber es war nicht ihre Aufgabe, der jungen Frau vom Verbot der Hochzeit zu erzählen.
»Er ist nicht mitgekommen, weil er sehr viel Papierkram zu tun hat«, erklärte Rin Verran, obwohl er wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war. Wahrscheinlich wollte Bao Jenko Nan Fe einfach nur nicht begegnen, weil er es nicht über sich bringen könnte, ihr die traurige Nachricht zu sagen. »Er ist ja jetzt der persönliche Diener von unserem Vater. Bestimmt weißt du das schon.«
Die junge Frau strahlte über das ganze Gesicht. »Ja! Ich bin so stolz auf ihn! Hat er euch vielleicht irgendeine Nachricht für mich mitgegeben?« Eine verzweifelte Hoffnung schimmerte in ihren blauen Augen.
»Leider nicht«, meinte Rin Verran.
Die Enttäuschung war ihr anzusehen. »Schade«, murmelte sie. »Richtet ihm meinen Gruß aus, wenn ihr zurück kommt.« Daraufhin drehte Nan Fe sich um und verschwand mit wehendem Gewand in der versammelten Menschenmenge.
»Warum hast du es ihr nicht gesagt?«, fuhr Rin Raelin seinen Bruder an, sobald sie außer Hörweite war. »Jetzt wird sie uns jedes Mal fragen, was mit Bao Jenko ist!«
»Er muss es ihr selbst sagen«, beharrte Rin Verran.
Rin Raelin schnaubte. »Der Kodex sagt, dass wir nicht lügen dürfen. Und was hast du eben gemacht?«
»Der Kodex sagt auch, dass wir niemanden willentlich verletzen sollen, sowohl körperlich als auch geistig«, hielt Rin Verran dagegen.
»Das hätte sie schon ausgehalten.«
»Da wäre ich mir ehrlich gesagt nicht so sicher.«
Auf einmal ertönte aus einer Ecke des Platzes lautes Geschrei. Wie auf ein Kommando hin teilte die Menge sich und gab den Blick auf Ghan Idos frei, der kochend vor Wut vor zwei Personen stand, die gelbe Kleidung trugen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Rin Verran Wrun Lilath und Wrun Tarebo. Letzterer hatte sich schützend vor seiner Schwester aufgebaut und hielt den anderen, schäumenden Mann auf Abstand.
»Was habe ich dir getan, dass du sowas machen musst!«, schrie Ghan Idos. Sein ganzes Gesicht war rot und seine zu Fäusten geballten Hände zitterten. Anklagend starrte er Wrun Lilath an, die ihn mindestens genauso wütend anschaute.
»Was habe ich gemacht? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest!«, fauchte sie. Es folgten mehrere Flüche, bei denen einige der Anwesenden erschrocken nach Luft schnappten. Rin Verran und Rin Raelin warfen einander einen kurzen Blick zu. Es geht um den Brief und die Auflösung der Verlobung.
»Tu nicht so scheinheilig!«, rief Ghan Idos. »Denkst du, ich wüsste nicht, dass du es warst! Denkst du, ich würde deine Schrift nicht erkennen? Ich saß in der Gämsen-Pagode jeden verdammten Tag neben dir! Für wie dumm hälst du mich?«
»Was fällt dir ein, meine Schwester so anzuschreien!«, brüllte nun Wrun Tarebo. »Sie hat schon gesagt, dass sie nicht weiß, wovon du redest!«
»Lügnerin!« Ghan Idos zeigte anklagend mit dem Finger auf sie. »Ich wünschte, ich hätte dich nie kennengelernt! Ich wünschte...«
»Das reicht!« Die donnernde Stimme gehörte Ghan Kedron. Der Anführer der Ghan-Gilde hatte sich von seinem Platz erhoben und funkelte seinen Sohn streng an. Er trug wieder den prächtigen Mantel über seiner Gildenkleidung, der Rin Verran schon bei seinem Besuch am Phönix-Hof aufgefallen war. Er bemerkte, dass einer der anderen Gilden-Anführer aus irgendeinem Grund einen genau gleichen Mantel trug, aber das war gerade nicht wichtig.
»Aber Vater, sie...«
»Ich habe dir gesagt, dass du als Strafe nicht am Zatos teilnehmen darfst, und dazu gehört auch dieses Fest!«, schnitt Ghan Kedron seinem Sohn das Wort ab. »Geh zurück auf dein Zimmer und hör auf, hier Chaos zu verursachen!«
Ghan Idos widersprach nicht, drehte sich abrupt um und verschwand stampfenden Schrittes im Krähen-Palast. Die Tür schlug so heftig hinter ihm zu, dass einige der Gäste erschrocken zusammenzuckten. Gleich darauf begannen sie, miteinander zu tuscheln und eine größere Traube versammelte sich um einen jungen Mann der Ghan-Gilde – wahrscheinlich Ghan Idos' älterer Bruder –, um ihn über den plötzlichen Streit von eben auszufragen. Währenddessen zogen sich Wrun Lilath und Wrun Tarebo in eine Ecke zurück, wo sie ungestört miteinander reden konnten, offensichtlich vollkommen verwirrt.
»Ist das arrogante Arschloch gerade wirklich mehr verärgert darüber gewesen, dass er nicht am Zatos teilnehmen darf, statt, dass seine Verlobung mit Jadna aufgelöst wurde?«, grollte Rin Raelin neben Rin Verran. »Was fällt ihm ein!«
»Ich mache mir eher Sorgen, dass jemand Jadna von der Verlobung erzählt«, murmelte Rin Verran so leise, dass keiner ihn hören konnte.
»Unwahrscheinlich«, brummte sein Bruder. »Schau, Ghan Shedor schickt alle weg, die etwas von ihm wissen wollen. Offenbar ist das immer noch ein Geheimnis.«
Rin Verran schaute hinüber zu dem jungen Mann, um die Leute sich zuvor versammelt hatten. Jetzt waren dort jedoch nur noch wenige, die er allerdings ebenfalls abwies. Einzig eine hübsche Frau in einem grellroten Kleid blieb zurück. Sie klammerte sich an Ghan Shedors Arm fest und sah ihn immer wieder mit klimpernden Augenlidern an. Ihr Gesicht war so sehr mit Schminke vollgekleistert, dass man ihre richtige Hautfarbe kaum sehen konnte. Auch ihre schwarzen Haare waren mit übertrieben großen und prächtigen Haarspangen geschmückt. Fast, als würde sie sich als eine Art Königin verkleiden, die sie eindeutig nicht war. Rin Verran bezweifelte auch sehr stark, dass sie überhaupt eine Erzwächterin war, geschweige denn die Gämsen-Pagode jemals von innen gesehen hatte.
»Wer ist das?«, fragte er.
Rin Raelin folgte seinem Blick und schnaubte. »Sieht aus wie eine Prostituierte.«
Rin Verran war geschockt. »Ghan Shedor ist doch... gar nicht so alt. Als ob er sowas nötig hätte. Die ganzen Mädchen himmeln ihn doch an.« Er deutete zu einer Gruppe junger Frauen, die dem ältesten Sohn des Schwarzen Pfaus aufgeregte Blicke zuwarfen und die Prostituierte an seiner Seite mit Verachtung straften.
»Was weiß ich«, blaffte Rin Raelin.
Im selben Moment trat eine junge Frau auf Ghan Shedor und seine Begleiterin zu. Zuerst erkannte Rin Verran sie nicht, aber dann fiel ihm ein, dass das Mahr Minue sein musste, eine der Bastardtöchter von Mahr Hefay und die Halbschwester von Mahr Xero. Sie sah immer noch so betrübt aus wie in der Gämsen-Pagode, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Die Augen zu Boden gerichtet, verbeugte sie sich vor Ghan Shedor und sagte offenbar etwas. Der junge Mann zog daraufhin die Augenbrauen zusammen und schickte sie mit einer barschen Handbewegung weg.
Was war das denn?, wunderte Rin Verran sich, konnte es jedoch nicht laut fragen, da Nan Fe plötzlich wieder auf sie zu kam. Sie sah jetzt etwas fröhlicher aus und als sie bei ihnen ankam, hielt sie ihnen jeweils eine Art Brötchen hin, das jedoch mit Honig oder etwas ähnlich Süßem durchtränkt zu sein schien.
»Eine Spezialität der Mahr-Gilde«, erklärte sie. »Die habe ich selbst gemacht. Ich dachte, ich könnte sie alle Bao Jenko mitgeben, aber er ist ja jetzt nicht da und es sind zu wenige, um sie auf das Buffet zu stellen. Ich dachte, dass ihr sie vielleicht mal probieren wollt.«
»Danke.« Rin Verran nahm seines entgegen und biss ab. Es war unglaublich süß und verklebte ihm fast den gesamten Mund. Trotzdem schmeckte es gut.
»Wir nennen sie Bärenschmauser«, sagte Nan Fe mit einem leichten Lächeln. »Es heißt ja, dass Bären gerne süße Sachen mögen.«
»Sag mal«, fragte Rin Verran, nachdem er das Gebäckstück aufgegessen hatte und die junge Frau immer noch bei ihnen stand, »weißt du zufällig, was mit Mahr Minue los ist?«
Nan Fe blinzelte überrascht. »Ihr kennt sie?«
»Bao Jenko hat uns von ihr erzählt. Sie ist doch Mahr Xeros Halbschwester, oder? Sie ist eben zu Ghan Shedor gegangen, aber er hat sie sofort wieder weg geschickt.«
»Ach ja.« Nan Fe seufzte und zwirbelte eine ihrer Haarsträhnen zwischen Zeigefinger und Daumen. »Kann sein, dass sie ihn gefragt hat, ob sie nachher bei der Jagd zusammenarbeiten wollen.«
»Sowas geht?«, fragte Rin Raelin überrascht.
»Natürlich!«
Rin Raelin runzelte die Stirn. »Bei dem Zatos, bei dem ich damals zugeschaut habe, gab es das nicht. Jeder war auf sich alleine gestellt.«
»So wird es auch meistens gemacht«, erklärte Nan Fe. »Wenn man zusammenarbeitet, wird man auch zusammen bewertet. Erlegt einer zum Beispiel nicht so viele Tiere, wird der andere mit runter gezogen. Eigentlich arbeiten nur Ehepartner oder Geliebte zusammen, um anderen ihren Zusammenhalt zu beweisen.«
»Warum hat Mahr Minue Ghan Shedor dann angeboten, zusammen zu arbeiten?«, wunderte Rin Verran sich.
»Die beiden sind miteinander verlobt.«
Rin Verran und Rin Raelin starrte sie verständnislos an. »Wie, verlobt? Ist sie nicht Mahr Hefays Bastardtochter?«
Nan Fe bedeutete ihnen, leiser zu sein, bevor sie antwortete: »Verlobt halt. Sogar vor einiger Zeit schon. Wenn ich mich nicht irre«, sie zählte schnell an den Fingern ab, »vor acht Jahren. Da war sie zehn und Ghan Shedor vierzehn. Gilden-Anführer Ghan wollte unbedingt ein Bündnis mit der Mahr-Gilde haben, weil sie ja am weitesten entfernt von seinem Territorium ist. Angeblich nur, um später besser zusammenarbeiten zu können, falls es so eine Angelegenheit wie jetzt die der Drachenklauen gibt, aber alle in der Mahr-Gilde wissen, dass es ihm nur um Kontrolle geht. Trotzdem konnte man so einen Vorschlag natürlich nicht leichtfertig ablehnen. Besonders, weil die Ghan-Gilde die mächtigste der fünf großen Gilden ist. Allerdings hatte Gilden-Anführer Mahr nur einen ehelichen Sohn, Mahr Xero, und alle anderen Kinder waren Bastarde. Wahrscheinlich dachte er sich, dass es so vielleicht sogar besser wäre, weil er notfalls einfach widerrufen könnte, dass er Mahr Minue als seine Tochter anerkannt hat. Damit hätte Gilden-Anführer Ghan seine Kontrolle über die Mahr-Gilde trotz der Heirat wieder verloren.«
»Und Ghan Shedor hat nichts dagegen oder was?«, schnaubte Rin Raelin.
»Was sein Vater sagt, ist Gesetz«, sagte Nan Fe. »Das hast du doch eben auch schon gesehen.« Sie spielte auf den Streit zwischen Ghan Idos und den Wrun-Geschwistern an.
»Und der Schwarze Pfau selbst?«
Nan Fe zuckte mit den Schultern. »Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass ihn die Gefühle seines Sohnes irgendwie kümmern. Außerdem...« Sie deutete unauffällig in Richtung des Tisches, an dem die Gilden-Anführer sich versammelt hatten. »Seht ihr, dass Ghan Kedron und Mahr Hefay denselben Mantel tragen?«
Rin Verran und Rin Raelin nickten. Beiden war es zuvor schon aufgefallen.
»Das waren Geschenke von ihren Frauen. Ghan Ilana und Mahr Ledja sind miteinander befreundet und haben diese Mäntel einst eigenhändig für ihre Ehemänner genäht und bestickt. Angeblich haben sie ein ganzes Jahr daran gesessen und niemand durfte zu ihnen gehen, weil es eine Überraschung werden sollte.« Nan Fes Augen nahmen einen verträumten Blick an. »So ein Liebesbeweis ist wirklich einzigartig. Jedenfalls würden die beiden Gilden-Anführer von ihren Frauen ordentlich was auf den Deckel bekommen, wenn sie die Verlobung zwischen Ghan Shedor und Mahr Minue einfach auflösen.«
»Ist Ghan Ilana die neben Ghan Kedron?«, fragte Rin Verran.
»Ja.«
»Sie sieht irgendwie... krank aus.« Ihm war schon vorher aufgefallen, dass die Frau in der dunkelgrauen Kleidung der Ghan-Gilde und mit der Krähenfeder im Haar etwas schwach aussah. Sie saß nicht aufrecht, sondern etwas gebeugt auf ihrem Stuhl und ihr Gesicht war seltsam blass. Die Frau neben ihr, wahrscheinlich ihre Freundin Mahr Ledja, schaute sie immer wieder besorgt an und stützte sie sogar manchmal, wenn sie sich zu sehr zur Seite neigte. Das auffälligste an Mahr Ledjas Erscheinung war der aufwendige, goldene Kopfschmuck, der wie eine Krone zwischen ihren blonden Haaren ruhte.
»Stimmt«, meinte Nan Fe, zuckte dann aber mit den Schultern. »Keine Ahnung, was mit ihr los ist. Vielleicht ist es nur eine leichte Erkältung.«
»Das sieht mir eher nicht nach einer leichten Erkältung aus.«
»Ist doch egal«, unterbrach Rin Raelin ihr Gespräch. »Sag uns besser, wer dieser Mann mit der Narbe ist.«
»Der etwas abseits steht?«
Rin Raelin nickte.
Nan Fe überlegte kurz. »Das müsste Ghan Leddan sein, der Bruder von Gilden-Anführer Ghan. Er begleitet ihn praktisch überall hin, ist aber eher schweigsam. Trotzdem behaupten viele, dass er das Gehirn hinter seinem Bruder ist. Kennt ihr ihn?«
»Wir haben ihn nur ein Mal gesehen, als er und der Schwarze Pfau bei uns am Phönix-Hof waren«, erklärte Rin Verran. »Woher hat er seine Narbe?«
Nan Fe lachte auf. »Da überforderst du mich! Ich habe absolut keine Ahnung!« Auf einmal drehte sie sich um. Anscheinend hatte jemand ihren Namen gerufen, denn sie verabschiedete sich hastig und verschwand wieder in der Menge.
»Kennst du diesen Ghan Leddan nicht von deinem letzten Zatos?«, fragte Rin Verran verwundert.
»Als ob ich mir alle Namen merke«, murmelte sein Bruder. »Und das ist auch schon eine ganze Weile her.« Er hob den Bärenschmauser hoch, den er nicht ganz zu Ende gegessen hatte. »Willst du? Mir ist das zu süß.« Rin Verran schüttelte den Kopf, woraufhin Rin Raelin das Gebäckstück auf einem herumstehenden Teller ablegte. »Wollen wir, wenn die Jagd losgeht, zusammenarbeiten?«, fragte er plötzlich.
Rin Verran schaute ihn überrascht an und grinste frech. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so für mich empfindest! Leider muss ich dich enttäuschen. Ich steh nicht auf Jungs. Und außerdem sind wir Brüder!«
»Mann, so habe ich das doch nicht gemeint, verdammt!«, blaffte Rin Raelin und schlug ihm von hinten gegen die Schulter. »Ich meine, es ist unser erster richtiger Zatos, wir sind beide ganz gut und wenn wir zusammenarbeiten, bekommen wir vielleicht sogar den ersten Platz bei der Jagd!«
»Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist«, wandte Rin Verran vorsichtig ein. »Was wird Vater davon halten?«
Sofort verfinsterte Rin Raelins Gesicht sich und er presste die Kiefer fest zusammen. »Hast recht«, gab er schließlich zu. »Vater war sowieso anfangs dagegen, dich überhaupt mitzunehmen. Er würde ausrasten, wenn wir jetzt auch noch zusammen bewertet werden.«
»Wann fängt die Jagd überhaupt an?«
Rin Raelin schaute hinüber zum Tisch der Gilden-Anführer. »Die Dul-Gilde fehlt noch.« An irgendeinem Zeitpunkt war Meister Jhe von der Val-Gilde auch noch angekommen und stand jetzt in der Nähe des Tisches der Gilden-Anführer. Wahrscheinlich war er nur als Vertreter der Val-Gilde hier, weil er als einziger der Meister keine Schüler hatte, um die er sich in der Gämsen-Pagode kümmern musste. Von den großen Gilden fehlte also wirklich nur noch die Dul-Gilde. Kein einziges blaues Kleidungsstück war in der Menge auszumachen, obwohl die Sonne schon fast ihren Zenit erreicht hatte.
Plötzlich ertönte ein lauter Gong und alle Blick richteten sich auf Ghan Kedron, der von seinem Platz aufgestanden war und einem Diener zunickte, welcher den Glockenschlägel sogleich zurücklegte und beiseite trat.
»Die Dul-Gilde verspätet sich und wird deswegen an der Eröffnungsjagd nicht teilnehmen können«, verkündete Ghan Kedron und hielt einen Brief hoch, den er anscheinend eben erst erhalten hatte. »Wir dürfen aber ohne sie beginnen. Daher erkläre ich die diesjährige Zatos-Meisterschaft im Territorium der Ghan-Gilde für eröffnet!«
Lauter Jubel brandete auf und die Leute klatschten wie wild, schrieen fast schon vor Begeisterung. Ghan Kedron hob eine Hand, um um Ruhe zu bitten und fuhr dann fort: »Wie jedes Jahr erwarten den Sieger der Jagd das Lob und die Bewunderung aller Anwesenden. Sie findet dieses Mal in einem dafür passenden Teil des Silbermistel-Waldes statt, der mit mehreren Zäunen eingegrenzt ist. Wir haben sehr viele Tiere freigelassen. Darunter«, er schaute auf eine Liste, die auf dem Tisch neben ihm lag, »ungefährliche wie Kaninchen, Rehe und Hirsche, aber auch solche wie Wildschweine, Luchse und sogar ein Bär ist dabei. Jedes Tier wird mit unterschiedlicher Punktzahl bewertet und muss sofort mit eurem persönlich gewählten Zeichen markiert werden, sonst wird es nicht eingerechnet. Die Jagd beginnt, sobald alle Teilnehmer das Jagdgebiet betreten haben – das werdet ihr an einem Lautsignal hören – und dauert dann eine Stunde.«
Zum Ende hin war das aufgeregte Gemurmel schon so laut geworden, dass Rin Verran die letzten Worte nur noch mit Mühe hören konnte. Wahrscheinlich wünschte Ghan Kedron allen auch noch viel Erfolg – das konnte er nur vermuten –, bevor einige aus der Menge sich in Bewegung setzten. Es waren weniger als Rin Verran es sich vorgestellt hatte. Dass Rin Jadna mit ihren Freundinnen zurückblieb, hatte er erwartet, aber auch Nan Fe bewegte sich nicht von der Stelle, ebenso wenig die Wrun-Geschwister, was ihn wirklich verwunderte, wo Wrun Lilath in der Gämsen-Pagode doch den ersten Platz in beiden Prüfungen erreicht hatte. Dafür kam die grell geschminkte Begleiterin, vermutlich Prostituierte, von Ghan Shedor mit, worin Rin Verran nun überhaupt keinen Sinn sah. Sie waren dicht gefolgt von Mahr Minue und, zu seiner großen Verärgerung, Mahr Xero, der so weit wie möglich von seiner Halbschwester entfernt voran ging. An seinem Gürtel hing immer noch sein Schwert Finsterlicht, mit dem er seine Kampf-Technik in der Falken-Festung der Jhe-Gilde angeblich vervollkommnet hatte. Nur würde ihm das bei der Jagd nicht viel nützen.
Es dauerte erstaunlich lange, bis die Gruppe nach Verlassen des Krähen-Palastes am Zaun ankame, der das Jagdgebiet vom restlichen Wald abgrenzte. Mehrere Anhänger der Ghan-Gilde standen bereit, um ihnen einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile auszuhändigen, wenn sie keine hatten. Außerdem wurde ihnen ein Jagdmesser gegeben, mit dem sie nachher auch ihre Beute markieren sollten. Rin Verran sah, wie die meisten der Erzwächter vor ihm ihre Herzstücke – sofern es Waffen waren, die stören konnten – ablegten, und gürtete Habichtfeder letztendlich ebenfalls ab.
»Viel Erfolg«, ertönte die Stimme von Rin Raelin neben ihm. In seiner Hand hielt er auch schon einen Bogen und auf seinen Rücken war ein Köcher mit Pfeilen geschnallt. Er sah aus wie ein richtiger Jäger, bereit, so viel Beute zu erlegen, wie nötig war, um den ersten Platz zu erlangen.
»Dir auch«, entgegnete Rin Verran und nickte ihm zu, bevor er sich den eigenen Köcher umschwang und sie in entgegengesetzte Richtungen davongingen. Unwillkürlich fühlte er sich an die Nacht erinnert, in der sie sich zum Krähen-Palast geschlichen hatten, um den Brief zu hinterlegen. Zwar war dies ein anderer Teil des Silbermistel-Walds, aber Bäume waren nunmal Bäume, egal wo. Schon nach wenigen Minuten lief ihm das erste Kaninchen über den Weg, aber kurz bevor er es abschießen konnte, fiel ihm ein, dass es das Lautsignal noch nicht gegeben hatte. Er blieb stehen und wartete ohne das Tier aus den Augen zu lassen, in der Hoffnung, es würde so lange nicht vor ihm fliehen. Aber natürlich hatte er nicht bedacht, dass das Signal sowieso alle Tiere aufscheuchen wurde. Bei dem lauten Knall floh das Kaninchen natürlich Hals über Kopf ins nächste Gebüsch.
Dann eben nicht, dachte Rin Verran. Dann eben ein anderes Tier. Mit geübten Bewegungen, die Meister Jhe ihm beigebracht hatte, schlich er sich zwischen den Bäumen hindurch und lauschte angestrengt nach irgendeinem Geräusch. Bei dem Gedanken daran, dass Arcalla vielleicht an dieser Jagd teilnehmen könnte, fing seine Kopfhaut an, wie verrückt zu kribbeln. Und selbst wenn sie es nicht tat und nur bei anderen Wettbewerben mitmachte – den Erstplatzierten der Jagd kannte jeder. Ich werde mein Bestes geben.
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Mal ein langes Kapitel mit vielen Informationen, die auch sehr wichtig sind. Allgemein sind die nächsten Kapitel unglaublich wichtig, also lest aufmerksam und ohne Eile ;)
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