Kapitel 17: Briefe - Teil 1
Die Feuerkorn-Steppe war eine weite Landschaft aus trockenen Gräsern, die sich bei jedem Windstoß leicht hin und her wiegten. Sie lag direkt östlich des Windlinien-Hangs, an dem die Gämsen-Pagode gebaut war, aber die Flanke auf der Ostseite war zu steil, als dass man über sie zur Val-Gilde gelangen könnte. Wie auch schon bei ihrer Anreise mussten Rin Verran und Rin Raelin also einen Umweg nehmen, der sie über den Fernen Strom führte und von wo aus sie dann wieder nach Süden gingen, um beim Phönix-Hof anzukommen.
Je näher sie ihrer Heimat kamen, desto nervöser wurde sie. Wahrscheinlich war der Großteil der Anhänger der Rin-Gilde schon zurückgekehrt. Wenn sie beide die letzten waren, würden sie erstmal eine Standpauke bekommen, bevor sie überhaupt etwas sagen durften. Hinzu kam die Tatsache, dass sie Jhe Newin und nicht Val Zirro als Meister hatten, was ihrem Vater bestimmt nicht gefallen würde.
Wie nach einer stummen Absprache zögerten sie ihre Ankunft am Phönix-Hof immer weiter hinaus, aber irgendwann kreuzten die ersten Anhänger der Rin-Gilde trotzdem ihren Weg. Einer von ihnen war auf seinem Pferd wahrscheinlich sofort zu Rin Baleron geeilt und hatte ihm mitgeteilt, dass seine Söhne auf dem Weg zurück waren, denn noch am Abend desselben Tages kam eine berittene Eskorte auf sie zu. Rin Raelin hätte eigentlich liebend gerne abgelehnt, auf eines der Pferde zu steigen, aber er wollte sich keine Blöße geben, und so trabte er mit fest zusammengepressten Kiefern hinter den anderen her, bis sie am Phönix-Hof ankamen.
Der Wohnsitz der Rin-Gilde bestand aus mehreren Gebäuden, die teilweise so weit auseinander standen, dass es schon leichter wäre, stetig ein Pferd zu haben, um von Tür zu Tür zu reiten. Allerdings gab es hier nicht viele Pferde. Die einzigen, die da waren, wurden als Zugtiere benutzt oder gehörten den Anführern der Gilde und ihren wichtigsten Anhängern. In der Feuerkorn-Steppe war Wasser knapp. Der nächste Bach war etwa einen Tagesritt entfernt und das Grundwasser in den Brunnen stand manchmal so niedrig, dass man mehrere Anläufe brauchte, um einen Eimer voll hoch zu holen. Im Sommer war es besonders schlimm. Daher gab es einen eigenen Wasserspeicher, der in der großen Lagerhalle stand und immer wieder aufgefüllt wurde. Trotzdem wollte man dieses Wasser nicht für zu viele Pferde oder andere Nutztiere verschwenden. Das meiste Fleisch wurde deshalb von umliegenden Dörfern hierher transportiert.
In der Mitte des Phönix-Hofs befanden sich die zwei größten Gebäude. In dem einen, das Sonnen-Palast genannt wurde, wohnten die Gilden-Anführer und ihre Familie, während das andere dazu diente, Gäste unterzubringen und zu empfangen. Dies war die Flammen-Halle, in der Rin Baleron nun auf seine zwei Söhne wartete.
Rin Verran stieg als erster vom Pferd ab und blieb stehen, bis Rin Raelin es ihm gleich getan hatte. Sein Bruder tat zwar sein Bestes, um seine Furcht zu verbergen, doch Rin Verran kannte ihn so gut, dass er am leichten Zucken seiner Lippen seine Nervosität erkennen konnte. Zusammen stiegen sie die Stufen zur Flammen-Halle hoch, auf deren Dach das Zeichen der Rin-Gilde wehte: Gelbe Flammen auf schwarzem Grund. Bevor sie den Fernen Strom überquert hatten, hatten sie auch daran gedacht, ihre Kleidung zu wechseln, sodass sie nun nicht mehr das Grün der Val-Gilde, sondern das Schwarz der Rin-Gilde trugen.
Als das Tor aufschwang, traten sie ein und gingen bis nach hinten durch, wo ihr Vater und Rin Narema schon auf sie warteten. Rin Raelins Mutter hatte ein scharfkantiges Gesicht, eine spitze Nase und ein fast genauso spitzes Kinn. Die Augenbrauen waren fast immer zusammengezogen, sodass auf ihrer Stirn eine steile Falte erschien. Auch jetzt war diese Falte zu sehen, doch gleichzeitig leuchteten ihre Augen hell auf.
Tu nicht so, als würde es dich freuen, mich zu sehen, dachte Rin Verran, während er sich vor den beiden Gilden-Anführern verbeugte. Rin Narema hatte ihn noch nie ausstehen können. »Blut ist dicker als Wasser«, sagte sie immer wieder. »Familie ist wichtiger als Freundschaft.« Und er war nunmal nicht mit ihr verwandt. Dabei hielt sie sich selbst nicht an ihre Parole. Es wurde gemunkelt, dass sie nach der Hochzeit mit Rin Baleron kein Wort mehr mit ihren Eltern oder überhaupt mit irgendjemandem aus ihrer Heimat-Gilde gesprochen hatte. Aber man durfte das keinesfalls in ihrer Gegenwart erwähnen. Niemand konnte genau sagen, was einen dann erwartete und niemand wollte das herausfinden.
»Vater. Mutter«, sagte Rin Raelin neben ihm. »Wir sind zurückgekehrt.«
»Das sehe ich«, meinte Rin Baleron, als sie sich wieder aufgerichtet hatten. »Warum habt ihr so lange gebraucht? Die anderen sind schon viel früher eingetroffen.«
»Wir sind zu Fuß gegangen«, erklärte Rin Verran, bevor Rin Raelin irgendwas Unbedachtes von sich geben konnte. »Wir wollten unsere Ausdauer trainieren.«
»Ausdauer trainieren?« Rin Narema schlug mit der flachen Hand auf den Tisch vor ihr. »Glaubst du, wir würden dir das abkaufen? Denkst du, wir hätten nicht erfahren, dass Raelin Angst davor hat, auf Pferden zu reiten?« Ihr Blick schoss zu ihrem Sohn. »Angst macht dich schwach! Nur, wenn du deine Angst besiegst, kannst du stärker werden!«
»Ich habe keine Angst!«, presste Rin Raelin hervor. »Ich bin auf dem Pferd hierher geritten!«
»Ausreden!«, zischte Rin Narema. »Ich würde gerne stolz auf dich sein, aber du hast nichts vollbracht, was mich mit Stolz erfüllt! Du bist der nächste Anführer der Rin-Gilde! Warum warst du in der Gämsen-Pagode nie unter den besten Drei?«
»Ich habe mir Mühe ge...«
»Mühe geben reicht nicht!«, unterbrach Rin Narema ihn. »Ich möchte Ergebnisse sehen!«
Rin Verran sah besorgt, wie sein Bruder die Fäuste ballte und die Kiefer zusammen presste, aber zum Glück schwieg er und starrte seine Mutter nur mit wütend funkelnden Augen an. Diese seufzte auf einmal und lehnte sich ein Stück zurück.
»Was ist mit deiner Wunde?«, fragte sie ohne ihn anzusehen.
»Es ist nichts«, sagte Rin Raelin fest.
»Lass sie von einem Heiler untersuchen.«
»Es ist nichts!«, wiederholte Rin Raelin etwas lauter. Mutter und Sohn starrten sich eine Weile wütend an, bis er nachgab, sich auf dem Absatz umdrehte und mit geballten Fäusten die Flammen-Halle verließ.
»Was dich angeht...«, hob Rin Narema nun an, wurde jedoch von Rin Baleron unterbrochen.
»Wie kommt es, dass du in beiden Prüfungen besser warst als dein Bruder?«, fragte er und sah Rin Verran fast schon gleichgültig an.
Denk nach, denk nach. Ich darf nicht sagen, dass ich besser bin als er. Sie werden denken, dass ich mich über ihn stellen möchte.
»Ich hätte ihn nicht so oft ablenken dürfen«, erklärte er schließlich und senkte den Kopf. »Ich hätte ihn dazu bringen müssen, mehr zu lernen und zu üben.«
»Nichts anderes war von dir zu erwarten«, zischte Rin Narema. »Immer nur darauf aus, Schwierigkeiten zu bereiten und ungehorsam zu sein. War es auch deine Idee, Jhe Newin als Meister zu wählen?«
Rin Verran schloss die Augen. »Ja.« Genau genommen nicht, aber sie würde ihm sowieso nicht glauben, wenn er versuchte, die Wahrheit zu erzählen.
»Meister Jhe ist kein gutes Vorbild«, sagte nun Rin Baleron. »Er ist kalt und distanziert, als würde er die ganze Zeit etwas verbergen. Man weiß nie, was seine wirklichen Absichten sind. Ich hoffe, du und dein Bruder sind nicht genauso geworden.«
»Nein«, beeilte Rin Verran sich, zu sagen. Er fasste all seinen Mut zusammen und hob erneut den Kopf, richtete den Blick auf seinen Vater. »Deswegen werde ich auch geradeheraus etwas fragen, was mich beschäftigt, seit ich ein Buch in der Schriftensammlung der Gämsen-Pagode gelesen habe. Es geht um meine Mutter und... um die Auslöschung der Mehn-Gilde.«
Die Reaktion war heftiger als er erwartet hatte. Rin Narema sprang sofort auf, die Falte auf ihrer Stirn noch steiler als sonst und die Zähne fast schon gebleckt wie ein Hund. Sie schlug so heftig mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Gläser wackelten und eines davon umfiel. Es rollte bis zum Rand, fiel runter und zersplitterte mit einem lauten Scheppern. Gleichzeitig erhob Rin Baleron sich ebenfalls auf die Beine. Äußerlich wirkte er wie die Ruhe selbst, aber Rin Verran konnte deutlich sehen, dass er auch verärgert war.
»Deine Mutter ist schon lange tot!«, zischte Rin Narema, die nicht vor hatte, sich zu beruhigen, und stattdessen den Tisch umrundete. Schritt für Schritt stieg sie die Stufen hinab, bis sie direkt vor Rin Verran stehen blieb. »Warum interessierst du dich auf einmal für etwas, was völlig unwichtig für dein weiteres Leben ist!«
»Ich möchte wissen«, presste Rin Verran hervor und schaute stur an Rin Narema vorbei zu seinem Vater, »ob ich der Sohn eines Monsters bin oder nicht!«
»Wie hast du mich eben genannt?« Rin Baleron starrte ihn aus dunklen Augen an.
Rin Verran öffnete den Mund, um seinen Satz zu wiederholen, doch Rin Narema machte Anstalten, ihn am Kragen zu ergreifen, weswegen er stattdessen schnell einen Schritt zurückwich. »Ich möchte nur die Wahrheit wissen!« Er ließ die Hände von Rin Narema nicht aus den Augen. Als sie hinter dem Tisch gesessen hatte, hatte er nicht gesehen, dass sie tatsächlich ihr Schwert trug. Eine schmale Waffe mit dem Namen Silberstrahl, die auch gleichzeitig ihr Herzstück war. Sie hatte ihn zwar noch nie geschlagen oder irgendwie anders verletzt, aber jetzt hatte sie eindeutig ihre Fassung verloren und er hatte keine Ahnung, wozu sie dann fähig war.
»Die Wahrheit.« Rin Baleron schnaubte. Einige Sekunden vergingen, in denen niemand sich bewegte, bis er auf einmal verkündete: »In Ordnung. Ich werde sie dir sagen.«
»Du sagst es ihm?« Rin Narema fuhr mit wirbelnden Haaren zu ihrem Ehemann herum. »Die Geschichte ist schon lange vorbei und von den meisten vergessen! Warum musst du sie jetzt wieder aufrühren?« Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie auf Rin Verran. »Er ist doch bisher auch ohne dieses Wissen ausgekommen!«
»Er hat offenbar einen Bericht über die Auslöschung der Mehn-Gilde gelesen und hat dann die falschen Schlussfolgerungen gezogen«, entgegnete Rin Baleron hart. »Wenn du es dir nicht anhören möchtest, kannst du auch gehen.«
Rin Narema bleckte erneut die Zähne, zwang sich dann aber zu einem Nicken und wandte sich ab. Stampfenden Schrittes verließ sie die Flammen-Halle und schlug das Tor mit einem lauten Knall hinter sich zu. Rin Verran beruhigte seinen Atem und wagte einen Blick zu seinem Vater, der jetzt langsam um den Tisch herum ging und sich von vorne an die Holzplatte lehnte, während er zwei Gläser mit rotem Wein füllte. Eines davon hielt er Rin Verran entgegen.
»Waren die Peitschenschläge es wert?«, fragte Rin Baleron.
Rin Verran antwortete nicht, sondern nahm das Glas einfach entgegen und lehnte sich neben seinen Vater an den Tisch. Er hätte nicht gedacht, dass er so weit kommen würde. In den vielen Möglichkeiten, die er zuvor im Kopf durchgespielt hatte, war er mit mindestens einem von Geschrei tauben Ohr oder einem Hausarrest davongekommen. Warum reagiert Vater so ruhig? Bedeutet das, dass das, was im Buch stand, wirklich nur ausgedacht ist?
»Ich habe deiner Mutter nichts getan, das musst du mir glauben«, sagte Rin Baleron. »Wie bist du auf die Idee gekommen, so etwas auch nur zu denken?«
»In dem Buch steht, dass die Rin-Gilde sie gefangen genommen hat.« Rin Verran umklammerte das Glas in seiner Hand fester, um das Zittern zu unterdrücken. »Ihr wolltet wissen, wo die drei Gegenstände oder die Geheimnisse ihrer Herstellung sich befinden, aber sie hat es nicht verraten. Habt ihr sie...?« Er konnte das Wort nicht aussprechen.
»Gefoltert?«, hakte Rin Baleron nach. »Nein. Sie war stur. Selbst unter Folter hätte sie geschwiegen.«
»Aber wie...?« Er starrte auf den Wein im Glas, der leicht hin und her schwappte und dabei fast bis zum Rand kam. Vorsichtshalber stellte er es zurück auf den Tisch. »Wie bin ich dann entstanden? Hat sie dich geliebt? Du hast ihre Gilde zerstört! Und überhaupt!« Er ballte die Fäuste. »Was hat euch allen damals das Recht gegeben, einfach eine ganze Gilde auszulöschen!«
»Du warst damals noch nicht am Leben. Du kannst nicht wissen, in welcher Situation wir waren«, sagte Rin Baleron streng. »Die Mehn-Gilde behauptete, ihre Erfindungen wären vollkommen harmlos, aber das war keineswegs der Fall.« Er hob eine Hand und fing an, an den Fingern abzuzählen. »Es gab insgesamt drei Schätze. Der erste war der Schleier des Vergessens. Ein Pulver, das man auf seine Gegner pusten oder werfen konnte. Wenn man es einatmete, vergaß man, was in den letzten Stunden geschehen war. Diese Erinnerung konnte man auch nicht wiedererlangen. Sie war dann ganz verschwunden. Für immer. Der zweite Schatz hieß Atem des Drachen. Das war eine Flüssigkeit, die angezündet werden konnte und dann so lange brannte, bis es nichts mehr gab, wovon das Feuer sich ernähren konnte. Es war so heiß, dass selbst Steine unter dieser Hitze glühten. Stell dir vor, was passieren würde, wenn man den Atem des Drachen in einer Stadt anzündet. Nur ein Funke und sie ist vollständig zerstört. Und der dritte Schatz war das Wasser der Wahrheit. Eine Art Droge, die man jemandem ins Getränk mischen konnte. Derjenige war dann dazu gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Denn wenn er es nicht tat, hätte er das Gefühl, von innen zu verbrennen, bis er vor Schmerzen das Bewusstsein verlieren würde.«
Rin Verran war ehrlich geschockt. Diese drei Schätze waren überhaupt nicht, was er sich vorgestellt hatte. Zwar waren sie in dem Buch manchmal erwähnt worden, aber nie hatte es eine Erklärung gegeben, was sie genau waren. Wie sollen solche Sachen harmlos sein? Es sind doch eindeutig gefährliche Waffen! Ein schlechtes Gewissen kam in ihm hoch. Wenn meine Mutter die Tochter der Anführer der Mehn-Gilde war, war sie dann an der Herstellung dieser Schätze beteiligt?
»Ich sehe dein Entsetzen«, meinte Rin Baleron. »Genau so habe ich mich auch gefühlt, als meine Mutter mir damals erzählt hat, was die Mehn-Gilde auf einem Zatos vorgestellt hat. Ich war damals nicht dabei. Hatte mir den Arm gebrochen und musste den Zatos im Krankenzimmer verbringen, obwohl die Wettkämpfe sogar auf unserem Territorium stattfanden.« Er seufzte. »Die, die von der Mehn-Gilde gehört haben, nehmen alle direkt an, dass sie harmlos war, weil sie so klein war, aber das stimmt nicht ganz. Unter allen Gilden war sie die erfinderischste und ihre Erzwächter waren auch drei Jahre in der Gämsen-Pagode und haben geübt, mit Schwert, Pfeil und Bogen umzugehen. Deine Mutter war, kann man so sagen, ein Ausnahmetalent.« Er nippte an seinem Glas, bevor er fortfuhr. »Wir kannten uns schon, bevor ihre Gilde ausgelöscht wurde. Ich war bei ihrem ersten Zatos dabei, wo sie bei der Jagd unter den besten Fünf gewesen war, ich nur einen Platz hinter ihr. Alle waren beeindruckt von ihr und ich bin mir sicher, dass schon damals viele Heiratsanträge auf den Tischen ihrer Eltern gelandet sind, aber sie hat keinem von ihnen zugestimmt.«
Weil sie dich geliebt hat? Rin Verrans Herz klopfte wie verrückt. Bitte sag, weil sie dich geliebt hat.
»Ich hätte ihr auch einen Heiratsantrag geschickt, aber ich war damals schon mit Narema verlobt und kurz darauf heirateten wir. Wie du an ihrer Reaktion vorhin gesehen hast, mag sie es nicht, zu wissen, dass ich ihr einst untreu war.«
Rin Verran wagte es nicht, seinen Vater zu unterbrechen. Die Worte waren wie der eiskalte Strom eines Flusses. Konnten nicht aufgehalten werden, flossen immer weiter.
»Dann wurde die Mehn-Gilde ausgelöscht«, fuhr Rin Baleron fort. »Die Gründe kennst du und du weißt auch, wie es ausgegangen ist. Deine Mutter wurde gefangen genommen und befragt, aber sie schwieg. Nur auf meine Bitten hin wurde ihr Leben verschont. Ich bin kein Monster, Verran. Es war alles einvernehmlich. Vielleicht hat sie mich geliebt, vielleicht hat sie aber auch nur nach Trost gesucht. Ich weiß es nicht. Ich hatte genug damit zu tun, Narema von ihr fern zu halten, die deine Mutter am liebsten tot sehen wollte.«
»Aber sie ist bei meiner Geburt gestorben.«
»Ja.« Rin Baleron klopfte ihm auf die Schulter, bevor er sich von der Tischkante abstieß und ihn direkt ansah. »Narema hat nichts damit zu tun. Auch wenn ihr Hass wirklich groß war. Und immer noch ist.« Er runzelte die Stirn. »Man kann es ihr nicht verübeln.«
»Warum hat es sich dann im Buch so angehört als hättest du... als hättest...« Rin Verran verfluchte sich dafür, das Wort nicht aussprechen zu können.
»Die Rin-Gilde ist eine der fünf mächtigsten Gilden«, entgegnete Rin Baleron. »Es ist nichts Besonderes, dass die kleineren Gilden versuchen, uns schlecht dastehen zu lassen. Darum müssen wir umso besser sein.«
Die Jhe-Gilde hat es in diesem Buch also absichtlich so geschrieben, dachte Rin Verran bitter. Und Meister Jhe hat es bestimmt Freude bereitet, mich zu unterrichten. Wie grotesk. Wie herzlos kann man nur sein! Und mir auch noch absichtlich diese verdrehte Geschichte zu erzählen! Gut, dass ich Vater gefragt habe.
»Jetzt weißt du, was du wissen wolltest«, sagte Rin Baleron.
»Danke, Vater.« Rin Verran verbeugte sich etwas steif in seine Richtung und wandte sich zum Gehen.
»Deine Schwester ist irgendwo in der Nähe des Fuchsbaums«, rief Rin Baleron ihm hinterher. »Falls du sie sehen möchtest.«
Natürlich möchte ich sie sehen!
Der Fuchsbaum wuchs in einem verlassenen Teil des Phönix-Hofs, umgeben von hohen, trockenen Gräsern. Seinen Namen hatte er von einem Muster auf seiner Rinde, das aussah wie ein Fuchsgesicht. Rin Verran war ihn schon mehrmals hoch geklettert, hatte dabei jedoch darauf geachtet, dieses Gesicht nie zu berühren. Zwar glaubte er nicht an Märchen und uralte Legenden, aber trotzdem war ihm unwohl bei dem Gedanken daran, dass es irgendeine Art Geist sein könnte, der wütend sein würde, wenn er wortwörtlich mit Füßen getreten wurde.
Schon von Weitem konnte Rin Verran seine Schwester sehen – und hören. Sie saß im Schatten des Fuchsbaums auf einer Wurzel und spielte auf ihrer Flöte Traumfänger, die zugleich auch ihr Herzstück war. Rin Jadna konnte nicht als besonders schön oder besonders auffallend bezeichnet werden. Ihr Charakter war wie ein leise dahin fließender Bach. Sanft und leise, darauf bedacht, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber wenn man mit ihr redete, begriff man, dass sie eigentlich klüger war als sie es nach außen hin zeigte. Nicht im Sinne von Wissen, sondern im Sinne von Ratschlägen, die sie anderen auf den Weg gab. Sie hatte ein gutes Gespür für menschliche Gefühle und Bedürfnisse, war sehr emphatisch.
Rin Verran wusste nicht, ob sie ihn bemerkt hatte, also blieb er in einiger Entfernung stehen und wartete, bis sie ihr Stück zu Ende gespielt hatte. Die Melodie war fröhlich und lebendig, flog durch die Luft wie ein flatternder Spatz. Es war das erste Mal, dass er sie überhaupt etwas spielen hörte und es berührte sein Herz bis ins Innerste. Sie hatte sich verändert seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Und das war ganze fünf Jahre her, kurz bevor sie selbst zur Gämsen-Pagode aufgebrochen war. Ihre Haare waren länger geworden und ähnelten jetzt denen ihrer Mutter. Auch war sie ein ganzes Stück gewachsen, obwohl er das, wenn sie saß, nicht so gut beurteilen konnte. Allgemein wirkte sie viel erwachsener und irgendwie... eleganter und reifer.
»Verran!« Ihre Stimme hatte sich fast gar nicht verändert. Es lag immer noch dieselbe Fröhlichkeit und offene Ehrlichkeit darin wie vor fünf Jahren. Rin Jadna stand auf und stürmte auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Es war ihm vollkommen egal, dass ihm Tränen in die Augen traten. Als sie sich voneinander lösten, hielt seine Schwester ihn eine Armlänge von sich weg und betrachtete ihn von oben bis unten. »Du bist gewachsen!«
»Du auch.« Rin Verran grinste. »Eine richtige Frau bist du.«
Rin Jadna lachte und tippte ihm mit dem Finger auf die Nase. Sie war die einzige, die das durfte. »Und du bist ein richtiger Mann! Fast hätte ich nicht bemerkt, dass du gekommen bist! Wie lange stehst du schon hier?«
»Nicht so lange«, antwortete er. »Das Lied war so schön. Ich wollte dich nicht stören.«
»Das Lied hat mir die Musikerin beigebracht, bei der ich im dritten Jahr war.« Rin Jadna hielt die Flöte hoch, auf der sie zuvor gespielt hatte. »In meinem letzten Brief habe ich dir schon von Traumfänger erzählt. Das ist er. Habe ich ganz alleine aus Zedernholz geschnitzt.«
Rin Verran grinste und klopfte auf die Schwertscheide an seiner Seite. »Habichtfeder kennst du noch nicht.«
»Ein Schwert?«
Er holte Habichtfeder raus und zeigte sie ihr. Seine Schwester betrachtete sie neugierig, strich mit den Fingern vorsichtig über die Klinge und dann über die eingravierten Buchstaben, die den Namen darstellten. »Wirklich hübsch«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Denkst du, deine Bestimmung ist es, ein Schmied zu sein?«
»Bloß nicht!« Rin Verran steckte Habichtfeder wieder ein. »Ich möchte ein Krieger werden!«
Auf einmal stand ein Ausdruck von Sorge auf Rin Jadnas Gesicht. »Wirklich? Ich dachte, nach der Sache mit dem Arbeiterlager im Rotkiefer-Hain hättest du es dir vielleicht anders überlegt.«
»Nein«, entgegnete er entschlossen. »Ich habe gesehen, was passieren kann, wenn es niemanden gibt, der die kleinen Leute beschützt.« Er zögerte kurz. »Du weißt wahrscheinlich auch nicht, wer die Drachenklauen sind, oder?«
Rin Jadna schüttelte den Kopf. »Nein. Das weiß wahrscheinlich niemand. Aber lassen wir dieses unangenehme Thema. Wo ist Raelin? Wie geht es ihm? Wie steht es um seine Verletzung? Ich habe mir Sorgen um euch beide gemacht!«
»Rin Narema hat ihn zum Heiler geschickt«, sagte er.
Seine Schwester verstand und nickte ernst, doch dann hellte ihr Gesicht sich wieder auf. Ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie es um sie steht!«
»Um wen?« Rin Verran war im ersten Moment ehrlich verwirrt, bevor er begriff, was Rin Jadna wahrscheinlich meinte. Fast sofort fing sein Herz an, schneller zu klopfen und er tat sein Bestes, um seine Aufregung zu verbergen, was offenbar nicht so gut klappte.
»Du bist ganz rot geworden«, lachte Rin Jadna. »Also weißt du ganz genau, wen ich meine! Natürlich das Mädchen, dem du die Haarklammer geschenkt hast! Ich habe mir wirklich Mühe gegeben beim Aussuchen! Sie muss ihr einfach gefallen haben!« Als er nicht antwortete, hakte sie nochmal nach: »Du hast sie ihr doch gegeben, oder?«
»Ja«, gab Rin Verran zu. »Wahrscheinlich hat sie ihr gefallen. Ich weiß nicht.« Er seufzte. »Können wir über etwas Anderes reden?«
Seine Schwester sah ihn besorgt an. »So schlimm?«
»Ich habe sie danach nicht mehr gesehen«, sagte er.
Rin Jadna legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Das tut mir leid. Aber ich bin mir sicher, dass das Schicksal euch wieder zusammenführen wird.« Sie tippte ihm wieder auf die Nase. »Ich mag keine Liebesgeschichten, die tragisch ausgehen.«
»Kannst du bitte aufhören, davon zu reden?« Rin Verran schlug sich die Hände vors Gesicht, um sein verlegenes Grinsen zu verbergen. »Das ist peinlich!«
»Ich hör ja schon auf!«, lachte Rin Jadna. »Lass uns lieber schauen, wie es Raelin geht! Er war beim Heiler, hast du gesagt?«
Rin Verran folgte seiner Schwester, die fröhlich wie immer voranging und dabei mit den Fingern durch die hüfthohen Gräser strich, bis sie auf einem der Pfade ankamen, die von Gebäude zu Gebäude führten. Auf einem der Wege entdeckte er Bao Jenko, der schon vor längerer Zeit am Phönix-Hof angekommen zu sein schien. Auch er hatte wieder die schwarze Kleidung der Rin-Gilde angelegt. Als Rin Verran ihm zuwinkte, winkte sein Freund zurück und gestikulierte noch etwas mit den Händen, bevor er um die Ecke verschwand.
»Bao Jenko ist jetzt der persönliche Diener von Vater«, sagte Rin Jadna, die es offenbar auch gesehen hatte.
»So schnell?«, wunderte Rin Verran sich.
»Was erwartest du?«, lachte seine Schwester. »Bao Jenko war im ersten Jahr der Zweitbeste. Vater hat eigentlich keine andere Wahl gehabt, als ihn einzustellen. Alles andere hätte komisch ausgesehen.« Sie hielt kurz an, bevor sie die Tür zur Heilerhütte aufstieß, und drehte sich zu ihm um. »Wie hat Raelin es aufgenommen, dass er nicht der Bessere von euch beiden war?«, fragte sie im Flüsterton.
Rin Verran war überrascht von der Frage. »Wir sind Brüder«, meinte er. »Ich denke nicht, dass es wichtig ist, wer von uns der Bessere ist.«
Rin Jadna hob nur skeptisch die Augenbraue, fragte aber nicht weiter nach und betrat stattdessen die Hütte. Rin Raelin saß mit grimmigem Gesicht auf einer Liege weiter hinten, während der Heiler der Rin-Gilde – Dar Fobun – auf ihn einredete, was jedoch nicht viel zu bringen schien. Als er hörte, dass die Tür sich öffnete und sah, dass es Rin Verran und Rin Jadna waren, streckte Dar Fobun ihnen die Hände entgegen.
»Meine Erlöser!«, rief er und zeigte dann anklagend auf Rin Raelin. »Sagt ihm, dass er die Salbe mitnehmen soll, die ich ihm gegeben habe!«
»Ich brauche sie nicht!«, grollte Rin Raelin. »Die Wunde ist schon lange verheilt und tut auch nicht mehr weh!«
»Sie tut jetzt gerade nicht mehr weh, weil ich die Salbe vorhin aufgetragen habe! Bitte, sagt es ihm!«
Rin Jadna trat vor und setzte sich neben ihren Bruder auf die Liege, der aber weiterhin stur nach vorne sah, nicht mal den Kopf drehte. Dabei hatte er sie auch fünf Jahre lang nicht gesehen. Doch als seine Schwester ihn umarmte, schien in ihm etwas zu zerbrechen und ein Zittern lief durch seinen Körper, begleitet von einem unterdrückten Schluchzen. Tränen glitzerten in seinen Augen.
»Bitte, Raelin. Die Salbe wird dir nicht schaden. Dar Fobun meint es nur gut.« Rin Jadna ließ erst von ihm ab, als er stumm nickte.
»Danke, Fräulein Rin! Danke!«, flüsterte der Heiler und stellte das Fläschchen mit der Salbe auf den Tisch neben der Liege, bevor er aus der Hütte eilte und die drei Geschwister alleine ließ.
»Hatten Mutter und Vater für dich genauso viele freundliche Worte übrig wie für mich?«, fragte Rin Raelin auf einmal und schaute mit brennenden Augen zu seinem Bruder.
Rin Verran überlegte gerade, ob er ihm erzählen sollte, dass er Rin Baleron nach seiner Mutter und der Auslöschung der Mehn-Gilde gefragt hatte, als Rin Jadna ihm zuvor kam. »Sei nicht so wütend, Raelin«, sagte sie. »Du weißt, dass sie streng sind. Tief in ihrem Inneren sind sie immer stolz auf euch. Vater hat euch sogar in Schutz genommen, als jemand behauptet hat, ihr hättet euch die Geschichte mit dem Arbeiterlager nur ausgedacht.«
Rin Raelin schnaubte. »Natürlich hat er das. Er möchte doch nur nicht, dass sein Ruf schaden nimmt.«
Rin Jadna seufzte und schnippte ihm mit den Fingern gegen die Stirn. »Er hat euch trotzdem in Schutz genommen. Du brauchst keine Trübsal zu blasen, Raelin. Jeder wird mal verletzt. Ich bin mir sicher, dass viele dich dafür bewundern, dass du ein Zusammentreffen mit den Drachenklauen überlebt hast. Das schafft nicht jeder und erfordert sehr viel Mut! Wer weiß, wie viele Verehrerinnen du mittlerweile hast, hm?«
Rin Raelin schnaubte nur unwillig.
»Verran hat mir schon sein Herzstück gezeigt«, wechselte Rin Jadna geschickt das Thema. »Welches hast du?«
Rin Raelin schien sogleich viel besser gelaunt. Er griff neben den Tisch, auf dem die Salbe stand, und holte seinen Säbel hervor. »Das ist Roter Phönix«, erklärte er.
Seine Schwester sah ihn genauso beeindruckt an wie Habichtfeder. Behutsam fuhr sie über die Klinge und war gleichzeitig darauf bedacht, sich keineswegs zu schneiden. »Roter Phönix?«, fragte sie. »Warum...?« Sie unterbrach sich, als sie Rin Verrans ruckartige Geste über den Hals bemerkte, und änderte ihre Frage schnell ab. »Warum führst du uns nicht ein paar Züge vor? Draußen?«
Rin Raelin hatte das kurze Zögern offenbar nicht bemerkt, denn er nickte und stand auf, um voraus zu gehen. Seine Schritte waren fest und entschlossen, Roter Phönix von seiner Hand umklammert.
Ich sollte besser nicht fragen, warum er den Säbel ausgerechnet Roter Phönix genannt hat?, fragte Rin Jadna sich, während sie ihren zwei Brüdern nach draußen folgte. Im Weggehen steckte sie auch noch schnell die Salbe ein, die Rin Raelin wahrscheinlich absichtlich vergessen hatte. Warum möchte er nicht darüber reden?
....................................................................................................................................................................................
Endlich ist die Rin-Familie wieder vereint. Wie findet ihr Rin Narema und Rin Jadna? XD Ich würde sagen: Wenn die eine der Nordpol ist, ist die andere der Südpol.
Hiermit ist auch die Sammlung von Rin Naremas »Keine Widerrede«-Sprüchen offiziell eröffnet:
Spruch 1 (wurde in vorherigen Kapiteln schonmal erwähnt): Männer vergießen Blut, keine Tränen.
Spruch 2: Blut ist dicker als Wasser. Familie ist wichtiger als Freundschaft.
Spruch 3: Angst macht dich schwach. Nur, wenn du deine Angst besiegst, kannst du stärker werden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro