Kapitel 12: Entschlossenheit - Teil 1
Nach der Kälte des Winters kehrte die Frische des Frühlings ein und das zweite Jahr in der Gämsen-Pagode neigte sich dem Ende zu. Von den Räubern war nichts mehr gehört worden. Vielleicht waren sie endlich von einer anderen Gilde besiegt und eingekerkert worden. Vielleicht hatten sie sich aber auch einfach nur zurückgezogen und warteten nur darauf, dass man sie vergaß, um später erneut Dörfer zu überfallen.
So oder so, Rin Verran und Rin Raelin hatten unter den strengen Augen von Meister Jhe immer mehr Übungskämpfe ausgetragen. Mit und ohne Waffen, in verschiedenem Terrain und mit unterschiedlichen Gegnern, die er sich regelmäßig von den anderen Meistern ausgeliehen hatte. Zum Glück hatte Rin Verran nicht erneut gegen Mahr Xero kämpfen müssen. Vermutlich hatte Meister Jhe gefürchtet, dass der Kampf erneut außer Kontrolle geraten könnte.
Dann kam der Tag der Prüfung. Als Rin Verran und Rin Raelin auf dem Kampfplatz eintrafen, wartete Meister Jhe bereits auf sie. Im Gegensatz zu seiner üblichen grünen Kleidung der Val-Gilde trug er jetzt jedoch ein weißes Hemd und eine weiße Hose, an deren Säumen violette Blumen aufgestickt waren. Nur den Gürtel mit seinen zwei Schwertern hatte er nicht abgelegt.
»Ist das die Kleidung der Jhe-Gilde?«, fragte Rin Verran seinen Bruder im Flüsterton.
»Wen interessiert's«, brummte Rin Raelin schlecht gelaunt. Sein Blick wanderte zum Rand des Kampfplatzes, wo die anderen Schüler sich bereits versammelt hatten. Einige hatten die Prüfung schon hinter sich, andere würden noch dran kommen. Rin Raelin hätte zu gerne gewusst, wie man bewertet wurde. Es war unmöglich, gegen einen der Meister zu siegen, also wurde die Aufmerksamkeit wahrscheinlich eher auf das Anwenden der Techniken gelegt, die sie gelernt hatten. Andererseits hatte jeder Meister unterschiedliche Präferenzen und die Schüler konnten sich auch aussuchen, in welchem Kampf sie geprüft werden wollten. Die Brüder hatten beide den traditionellen Schwertkampf gewählt, so wie auch die Hälfte aller Schüler.
»Wer von euch möchte zuerst?«, fragte Meister Jhe mit kalter, distanzierter Stimme.
Rin Verran wechselte einen letzten Blick mit Rin Raelin und trat dann vor. »Ich«, verkündete er und verbeugte sich. Sie hatten abgesprochen, dass er zuerst antreten würde. In der Hoffnung, dass Meister Jhe beim zweiten Kampf einen Teil seiner Kräfte bereits eingebüßt hätte. Rin Verran wünschte sich, dass Rin Raelin besser abschneiden würde als er. Einerseits, weil sein Bruder es selbst angekündigt hatte und sonst nur frustriert und wütend auf sich selbst sein würde, und andererseits, weil sein Vater sonst furchtbar enttäuscht sein würde, was nie gut endete.
Jhe Newin nickte Rin Verran zu und wartete, bis der Junge sich ein Schwert aus der Halterung geholt hatte. Er bemerkte, wie mehrere Schüler dem Sohn von Rin Baleron aufmunternde Worte zu riefen. Seine Hand legte sich auf Weißer Habicht an seiner linken Seite. Er würde wieder nur mit seiner hellen Klinge kämpfen. Wie lange war es her, dass er Schwarzer Falke auch nur gezogen hatte? Schnell verdrängte er den Gedanken, umklammerte entschlossen den Griff von Weißer Habicht und zog die Waffe aus der Scheide.
Mit scharfem Blick beobachtete er Rin Verran, der sein Schwert kurz in der Hand wog, bevor er zum Angriff überging. Es war ein Leichtes für Jhe Newin, dem Hieb auszuweichen und gleichzeitig einen Gegenschlag anzusetzen. Ein Blick in das Gesicht des Jungen und plötzlich fühlte er eine ungeheure Wut in sich aufsteigen. Dieser Kampf hätte schon vor siebzehn Jahren stattfinden müssen. Aber nicht gegen ihn, sondern gegen Rin Baleron. Im letzten Moment schaffte er es, sich zurück in die Gegenwart zu zwingen.
Er ist nicht sein Vater. Er weiß nicht, was damals passiert ist. Niemand weiß das mit voller Sicherheit und niemand kann mit ganzer Gewissheit sagen, was Wahrheit und was Lüge ist. Ich habe eine Verantwortung als Meister. Ich darf mich nicht gehen lassen. Nicht so wie bei der Auspeitschung.
Die Klingen stießen klirrend zusammen. Jhe Newin legte nicht all seine Kraft in die Hiebe. Er wollte nur sehen, wie gut Rin Verran auf die verschiedenen Angriffe reagierte. Wie er sich verteidigte, wie er aus schwierigen und gefährlichen Situationen rauskam. Ob er innerhalb einer Zehntel Sekunde entscheiden konnte, was zu tun war. Dem Schlag nach seinen Füßen wich er mit einem leichten Hüpfer aus, die Hiebe auf seinen Oberkörper blockierte er direkt. Weißer Habicht wurde zur Seite abgelenkt. Jhe Newin ging mit der Bewegung mit, drehte sich um die eigene Achse und gab dem Jungen nun selbst die Gelegenheit, anzugreifen.
Tief in sich drinnen wünschte er sich, in Rin Verrans Bewegungen die von Mehn Shia zu erkennen. Ihre Leichtfüßigkeit, ihre Grazie. Fast sah er ihr fröhliches Gesicht vor sich, ihre schwarzen Haare, die wie ein Schleier im Wind um sie herumwirbelten, hörte ihr helles Lachen. Aber so war sie nie vor ihm gewesen. Er war für sie immer nur der ältere Junge aus der Jhe-Gilde gewesen, der ihr während einer Zatos-Meisterschaft die Beute streitig gemacht hatte. Und er war auch noch so dumm gewesen, ihr frech zu antworten.
»Ich kann nichts dafür, wenn du zu lange brauchst, um den Pfeil auf deinen Bogen zu legen«, hatte er gesagt. »Vielleicht solltest du erst noch ein paar Jahre warten, bis du dich überhaupt mit mir messen kannst. Du bist sowieso aus der Mehn-Gilde und verstehst nur etwas vom Heilen, nicht vom Jagen oder Kämpfen.«
Dann war sie wütend geworden, hatte ihren Bogen und Pfeilköcher zu Boden geschmissen und stattdessen ihr Schwert gezogen, das sie als einer der wenigen Teilnehmern mitgenommen und nicht abgelegt hatte. Es war ungewöhnlich groß und klobig für die Waffe einer Frau gewesen, aber sie hatte es mit einer solchen Leichtigkeit geführt, dass Jhe Newin völlig überrumpelt gewesen war. Sie hatte ihn besiegt wie einen dummen Schüler, der gerade erst die Gämsen-Pagode betreten hatte. Zusätzlich zu dem Schnitt, den sie ihm am Unterarm zugefügt hatte, hatte sie auch seinen Stolz verletzt. Doch das war das einzige Mal gewesen, wo er es zugelassen hatte.
»Ich bin vielleicht die Tochter zweier Heiler, aber ich bin nicht wehrlos«, hatte sie gesagt und die Spitze ihres Schwertes auf seine Brust gerichtet. »Schau zu, wie du diesen Schnitt alleine versorgst. Ich werde dir nicht helfen.«
Er hatte die Narbe immer noch.
Das Geräusch von reißendem Stoff riss Jhe Newin zurück in die Gegenwart. Er hatte sich doch gehen lassen. Sein Blick fiel auf den zerrissenen – eher zerschnittenen – Ärmel seines Hemdes, der seinen linken Unterarm frei legte. Rin Verran wirkte selbst überrascht von seinem plötzlichen Erfolg und blinzelte ungläubig. Mit zwei schnellen Bewegungen entwaffnete Jhe Newin seinen Schüler und schickte ihn mit einem Tritt zu Boden. Das Schwert flog durch die Luft und bohrte sich einige Schritte hinter ihm in den Boden.
»Du darfst in deiner Konzentration nicht nachlassen«, sagte er, die Stimme frostig wie immer. Gleichzeitig hielt er seinen linken Arm so, dass der zerschnittene Ärmel zwar zu sehen war, aber gleichzeitig die Narbe verdeckte, die sich dort über seine Haut zog.
Rin Verran stand mit einem leisen Stöhnen auf, verbeugte sich in seine Richtung und gesellte sich zu den anderen Schülern am Rand des Kampfplatzes. Währenddessen holte Rin Raelin sich das Schwert und machte sich für seine eigene Prüfung bereit. Er ist ungestümer und reizbarer als sein Bruder, dachte Jhe Newin. Er muss lernen, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Aber egal, was er tat, Rin Raelin lernte es nicht. Angeblich hatte er geschworen, in der Kampfprüfung der Beste zu sein. Das würde nicht passieren. Vielleicht lehrte diese Niederlage ihn Bescheidenheit und Zurückhaltung.
»Du hast es geschafft!«, hörte Rin Verran Bao Jenkos Stimme hinter sich, als er zwischen die Reihen der Schüler trat. »Du hast sogar seine Kleidung zerfetzt! Ich glaube nicht, dass irgendwer anderes das geschafft hätte! Selbst Mahr Xero nicht!«
Rin Verran grinste und sog kurz darauf scharf die Luft ein, als Bao Jenko ihm auf die Schulter klopfte. »Besser nicht anfassen«, zischte er. »Ich bin falsch hingefallen und mir tut jetzt alles weh. Schau lieber zu, wie Raelin sich schlägt. Er...«
Ungläubig starrte er auf den Kampfplatz, wo sein Bruder vor Wut schäumend bereits im Staub lag und das Schwert so heftig umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervor traten. Ein erschrockenes Schweigen legte sich über die Schüler.
»Hat er nicht gesagt, er würde der Beste sein?«, fragte ein Mädchen irgendwo weiter links. »Es ist zwar unwahrscheinlich, dass er Mahr Xero schlagen könnte, aber dass er so schlecht ist?«
Rin Verran machte die Unruhestifterin aus und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Kämpf doch selber gegen Meister Jhe, wenn du meinst, du könntest es besser!«
Das Mädchen schnappte erschrocken nach Luft und verzog sich irgendwo in die hinteren Reihen. Die anderen Schüler wagten es nicht mehr, irgendeinen Kommentar abzugeben. Zumal Rin Raelin wieder auf die Beine gekommen war und sich erneut auf Meister Jhe stürzte. Aber seine Angriffe waren unkontrolliert und chaotisch.
Reiß dich zusammen!, dachte Rin Verran besorgt. Du schaffst das! Zugleich fragte er sich, ob Meister Jhe seinen Bruder absichtlich härter dran nahm. Es konnte doch nicht sein, dass ausgerechnet Rin Raelin, der so viel geübt hatte, jetzt schlechter als er selbst abschnitt! Sie hatten sogar die Reihenfolge so festgelegt, dass er bessere Chancen hatte, gegen Meister Jhe zu bestehen!
»Das reicht«, sagte Meister Jhe auf einmal, trat zurück und ließ den letzten Angriff ins Leere gehen. Mit einer Bewegung steckte er Weißer Habicht zurück in die Scheide und musterte Rin Raelin, dem es offensichtlich Mühe bereitete, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Seine Augen funkelten und seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, aber er schaffte es, sich zu verbeugen und das Schwert zurück in die Halterung zu schlagen, bevor er stampfenden Schrittes den Kampfplatz verließ. Er kam jedoch nicht zu Rin Verran und Bao Jenko, sondern ging in Richtung Falkennest davon.
»Ich glaube, ich sollte ihm folgen«, sagte Rin Verran, der überhaupt kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache hatte. »Bevor er noch irgendwas macht, was er später bereuen wird.«
»Möchtest du nicht bleiben, bis ich meine Prüfung habe?«, fragte Bao Jenko und knetete nervös die Hände. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann! Wenn ihr beide nicht da seid...«
Rin Verran schloss niedergeschlagen die Augen. Hin und her gerissen zwischen dem Drang, seinen Bruder vor sich selbst zu beschützen, und der Bitte seines besten Freundes. »Gut, ich bleibe. Wann bist du dran?«
»Eigentlich...« Bao Jenko schluckte. »Ich kann mich auch als Erster melden.« Eigentlich hatte er erst abwarten wollen, bis Nan Fe dran war und mit ihren Freundinnen den Kampfplatz verlassen hatte, damit er sich nicht vor ihr blamieren musste, aber die Sorge, die auf Rin Verrans Gesichts stand, beunruhigte ihn.
Nachdem Meister Jhe für Meisterin Zha Platz gemacht hatte, trat Bao Jenko tatsächlich mit weichen Knien vor und bat darum, zuerst geprüft zu werden. Was er nicht sah, war der bewundernde Blick, den Nan Fe ihm zuwarf. Auch die anderen Schüler wirkten beeindruckt. Niemand hätte gedacht, dass ausgerechnet er sich als Erster trauen würde.
Rin Verran sah Bao Jenko zu, wie er den waffenlosen Kampf wählte und gegenüber von Meisterin Zha in den tiefen Stand ging, die Arme erhoben und den Blick konzentriert auf die Frau vor sich gerichtet. Der Schlagabtausch war schnell und präzise, erlaubte keine Fehler. Erstaunlicherweise hielt Bao Jenko sogar mehr als einer Minute stand, bevor er von Meisterin Zha von den Beinen gestoßen wurde. Sie blickte stolz auf ihn herab, als er sich verbeugte und zu Rin Verran zurückkehrte.
»Ist jetzt sowieso vorbei«, seufzte Bao Jenko. »Lass uns...«
Doch bevor er seinen Satz zu Ende sprechen konnte, ertönte auf einmal eine Stimme direkt neben ihm. »Das war toll! Kannst du nachher vielleicht etwas mit mir üben? Ich bringe dir dafür den besseren Umgang mit dem Dolch bei.«
Rin Verran verkniff sich ein Grinsen, als Bao Jenko sich mit hochrotem Kopf zu Nan Fe umdrehte, die ihn angesprochen hatte, und etwas Unverständliches stotterte. Er überließ ihn dem Mädchen mit den blonden Haaren und machte sich selbst schnellen Schrittes auf den Weg zurück zum Falkennest. Von Weitem konnte er zwar nichts hören, was darauf schließen ließ, dass Rin Raelin das Haus gerade zerstörte, aber vielleicht machte er gerade auch nur eine Pause.
»Raelin?«, fragte er, als er den Flur betrat. Zu seiner Überraschung war die Tür noch intakt und immer noch war nichts zu hören. »Raelin? Bist du da?« Vielleicht ist er auch in den Garten gegangen?
Doch als einen Blick in sein Zimmer warf, sah er seinen Bruder am Fenster stehen und hinausschauen. Rin Raelin stand zwar mit dem Rücken zu ihm, aber Rin Verran konnte erkennen, dass er vollkommen niedergeschlagen war. Sein Körper zitterte vor Wut und Enttäuschung, während seine Hände das Fensterbrett umklammerten.
»Warum ist alles so ungerecht?«, fragte Rin Raelin mit bebender Stimme. Rin Verran erschrak, als sein Bruder sich umdrehte. Seine Augen waren gerötet und auf seinen Wangen schimmerten frische Tränenspuren. Hat er wirklich geweint? »Ich bekomme Jhe Newin als Meister, obwohl ich ihn gar nicht wollte! Direkt am ersten Tag komme ich zu spät und muss Sachen abschreiben! Bei der ersten Prüfung habe ich auch versagt! Und jetzt wieder! Denkst du, ich hätte nicht gehört, was die anderen vorhin gesagt haben?«
»Sie haben danach ganz schnell die Klappe gehalten«, versuchte Rin Verran, ihn zu beruhigen, aber Rin Raelin schnitt ihm das Wort ab.
»Habe ich dich darum gebeten, mich in Schutz zu nehmen?«, schrie er wütend und ging mit geballten Fäusten auf ihn zu, stieß ihm den Finger vor die Brust. »Jetzt denken die anderen erst recht, dass ich schwach bin und nichts kann! Ich brauche niemanden, der mich in Schutz nimmt! Ich komme damit auch alleine klar!«
Rin Verrans Gesicht verfinsterte sich. »Wir sind Brüder. Ich werde immer zu dir halten, egal, was passiert! Wie hätte ich denn dagestanden, wenn ich sie einfach weiter reden gelassen hätte? So verhält sich kein Bruder!«
Rin Raelin drehte sich abrupt zur Seite und schwieg, runzelte die Stirn. »Was ändert das schon? So oder so habe ich versagt!«, sagte er schließlich. »Vater wird mich umbringen, wenn er davon erfährt!« Tief in seinem Inneren wusste er zwar, dass er vielleicht verärgert sein, ihn jedoch nie wirklich töten würde, aber dennoch hatte er Angst.
»Noch weißt du doch überhaupt nicht, wie die Ergebnisse aussehen!«, meinte Rin Verran. »Es heißt, dass Meister Jhe der Beste ist, was den Kampfunterricht angeht. Er wurde noch nie von jemandem besiegt. Vielleicht sind wir beide ja auf dem ersten und zweiten Platz.«
»Nie besiegt?« Rin Raelin lachte mit einer verzweifelten Hoffnungslosigkeit. »Hast du nicht die Narbe an seinem Unterarm gesehen, als du ihm den Ärmel aufgeschlitzt hast? Woher hat er die wenn nicht von einer feindlichen Klinge?«
»Vielleicht hat er sie sich auch woanders geholt«, wandte Rin Verran ein. »Ich denke trotzdem, dass wir beide gut abgeschnitten haben!«
Rin Raelin schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Mach dir nichts vor. Ich tue es auch nicht. Ich habe Glück, wenn ich überhaupt bestehe.«
»Du hast bestanden«, sagte Rin Verran fest. »Wenn es nicht so ist, dann... dann...«
»Halt die Klappe«, presste sein Bruder hervor. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst. Warum solltest du dich selbst bestrafen, wenn ich es doch bin, der versagt hat?«
»Wir sind Brüder.«
»Ich weiß«, seufzte Rin Raelin. »Ich weiß.«
»Wir werden immer zusammenhalten.«
Rin Verran wartete darauf, dass sein Bruder auch darauf antwortete, aber Rin Raelin ging wieder zurück zum Fenster und starrte hinaus. Was er dort beobachtete, konnte Rin Verran nichts sagen. Erst, als der Ast eines Baumes zitterte und ein Paar schwarzer Flügel irgendwohin verschwand, vermutete er, dass es die Krähe gewesen war.
Besser, ich lasse ihn jetzt alleine, dachte Rin Verran und verließ wortlos das Falkennest. Er sieht ausnahmsweise nicht so aus, als würde er etwas zerstören wollen. Vorsichtshalber kehrte er abends auch nicht zurück und übernachtete stattdessen in Bao Jenkos Zimmer im Sturmheim. Der untersetzte Junge schwärmte sehr lange über Nan Fe, mit der er morgen üben würde, und hörte erst auf, als seine restlichen Zimmergenossen auftauchten. Es waren alles Anhänger der Rin-Gilde, die bei ihrer Ankunft schnell das Weite gesucht hatten, nachdem Meister Jhe Rin Verran angesprochen hatte. Die meisten waren Kinder von Dienern des Phönix-Hofes oder gehörten zu kleineren Gilden, die mit der Rin-Gilde verbündet waren.
»Rin Verran?«, fragte einer von ihnen überrascht. »Du? Hier?«
»Voll krass, was du da mit Meister Jhe veranstaltet hast!«, rief ein anderer. »Ich hätte mich das nicht mal getraut.«
»Du bist auch nicht sein Schüler«, sagte Bao Jenko an den letzten Jungen gewandt. »Wie lief es bei den anderen?«
»Den ersten Platz wird wohl Wrun Lilath bekommen«, kam die Antwort. »Keine Ahnung, wie sie das gemacht hat, aber Meister Val hatte wirklich Schwierigkeiten, ihr standzuhalten!«
»Sie ist übrigens jetzt verschwunden«, sagte jemand.
»Verschwunden? Wohin?«
»Wohin, wohin?«, äffte der andere nach. »Irgendwo in den Garten. Übrigens zusammen mit Ghan Idos. Wahrscheinlich feiern sie. Auf ihre Art und Weise. Ich würde jedenfalls in nächster Zeit nicht in den Garten gehen, wenn ihr nicht wollt, dass euch die Augen ausfallen.«
»Sag nicht, die beiden...«
»Das hast du jetzt gesagt!«
»Und wie hat sich Mahr Xero geschlagen?«, fragte Rin Verran, der nichts weiter über das hören wollte, was vermutlich gerade im Garten vor sich ging.
»Wie immer«, sagte einer der Jungen. »Aber trotzdem nicht so gut wie Wrun Lilath. Um wieder auf die Sache mit ihr und Ghan Idos zurückzukommen...«
Rin Verran seufzte und hörte dem Gespräch nicht weiter zu. Zum Glück war das Thema bald erledigt und alle legten sich zum Schlafen hin. Am nächsten Morgen kehrte er direkt ins Falkennest zurück, um zu sehen, wie es Rin Raelin ging. Sein Bruder hatte anscheinend die ganze Nacht keine Auge zu getan, denn sein Gesicht war blass und er wirkte unglaublich müde.
»Wie geht es dir?«, fragte Rin Verran und versuchte, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen.
Rin Raelin sah ihn mit blauen Ringen unter den Augen an. »Ist das eine Scherzfrage?«
»Eigentlich nicht.« Er ging zu seinem Bruder und setzte sich neben ihn aufs Bett. »Das Wichtigste ist doch, dass du bestanden hast und nicht, welchen Platz du bekommen hast.«
»Das sagen alle, aber sie meinen es nie so«, schnaubte Rin Raelin. »Bei den Zatos-Meisterschaften ist es doch genauso. Alle sagen, dass allein die Teilnahme wichtig ist und dass man Spaß hat, aber letztendlich dreht sich alles nur darum, wer der Beste ist.«
Darauf hatte Rin Verran keine Antwort. Stattdessen versuchte er, ihn mit Scherzen aufzumuntern, doch auch das half nicht wirklich. Erst, als von draußen laute Rufe ertönten, zuckte Rin Raelins Kopf hoch.
»Die Ergebnisse! Die Ergebnisse sind da!« Hastige Schritte erklangen auf dem Flur, bis Bao Jenko keuchend im Türrahmen stehen blieb. »Die Ergebnisse sind da!«, wiederholte er.
»So schnell?«, wunderte Rin Verran sich.
Rin Raelin sagte gar nichts, sondern stürmte direkt hinaus und die beiden anderen mussten sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Vor der Gämsen-Pagode hatte sich bereits eine große Gruppe von Schülern versammelt und einige liefen weg, um ihre Freunde zu holen, die wahrscheinlich noch schliefen. Rin Verran drängte sich zusammen mit seinem Bruder und Bao Jenko nach vorne, bis sie die aufgehängten Listen sahen. Wie erwartet waren die Namen von Wrun Lilath und Mahr Xero rot umkreist. Auf dem dritten Platz befand sich zu aller Erstaunen Ghan Idos, was Rin Raelin ein »arrogantes Arschloch« ausstoßen ließ. Dann machten sie sich daran, die Punkte der restlichen Schüler zu vergleichen.
Immer noch wusste niemand, wie genau die Meister sie bewertet hatten. Einige Schüler, die eigentlich schon nach wenigen Sekunden am Boden gelegen hatten, hatten manchmal mehr Punkte als die, die länger durchgehalten hatten. Auch schien es Unterschiede in den Kampfarten zu geben, wenn auch nur minimale. Allgemein waren die Ergebnisse im Großen und Ganzen aber so, wie sie es erwartet hatten, wenn auch mit einigen Ausnahmen.
»Was?«, keuchte Bao Jenko erstaunt. »Ich bin nicht unter den letzten zehn?«
Rin Verran klopfte ihm auf die Schulter. »Warum wunderst du dich darüber? Im waffenlosen Kampf bist du doch ganz gut.«
Ein breites Lächeln breitete sich auf Bao Jenkos Gesicht aus. Dann fiel ihm ein, dass er sich doch mit Nan Fe verabredet hatte, und sagte den zwei Brüdern schnell Bescheid, bevor er wegging.
»Warum sehe ich meinen Namen nicht?«, hörte Rin Verran auf einmal die leise Stimme von Rin Raelin. Ihm gefror das Blut in den Adern und er fing an, zusammen mit ihm nach seinem Namen zu suchen. Wenn er nicht bestanden hat, was soll ich dann machen? Und vor allem, was wird er dann tun? Obwohl er seinen Bruder gut kannte, konnte er überhaupt nicht einschätzen, was passieren würde, wenn er richtig wütend und enttäuscht war.
»Da!«, rief Rin Verran und atmete erleichtert aus. Mit dem Finger deutete er auf den Namen und die Punktzahl daneben. »Du müsstest«, er zählte kurz nach, »unter den ersten zwanzig sein!«
Trotzdem war auf Rin Raelins Gesicht kein Lächeln zu sehen. »Achtzehn Leute sind besser als ich«, sagte er bitter. »Einige von denen kenne ich nicht mal.«
»Ich bin nur drei Plätze über dir«, meinte Rin Verran. »Und die Punktzahlen unterscheiden sich sowieso nicht so stark.«
Rin Raelin brummte nur und wandte sich zum Gehen. Rin Verran konnte nicht sagen, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Zwar hatte sein Bruder seine Ankündigung nicht wahr werden lassen, aber er war immer noch so gut, dass die meisten in der Gämsen-Pagode seinen Namen kannten. Seufzend folgte er ihm, bis er sich doch dazu entschied, ihn besser in Ruhe zu lassen und stattdessen nachzuschauen, wie es Bao Jenko und Nan Fe auf dem Kampfplatz ging.
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Jetzt habt ihr sowohl Meister Jhes als auch Rin Raelins innere Welt etwas besser kennengelernt. Ich muss mich gerade davon abhalten, mehr zu sagen, da ich sonst spoilern könnte, haha XD Jedenfalls gibt es in diesem Kapitel etwas Foreshadowing. Solltet ihr das Buch irgendwann ein zweites Mal lesen, werdet ihr verstehen, was ich meine.
Abgesehen davon: Wie findet ihr Bao Jenko und Nan Fe? Ich finde sie voll süß, auch wenn ihr noch nicht so viel über sie erfahren habt XD
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