Kapitel 118: Wahrheit - Teil 4
Sun Shimei fühlte sich in seinen Armen viel zu leicht an. Rin Verran ließ ihn erst zu Boden gleiten, als sie den Krähen-Palast durch das Haupttor verlassen und hinter der schwarzen Mauer Schutz gesucht hatten. Kar Moora war sofort an seiner Seite und stieß ihn weg. Sie hatte offenbar geweint und hatte versucht, sich die Tränen mit ihren blutigen Händen wegzuwischen. Jetzt zogen sich rote Streifen über ihre Wangen und ihr Kinn.
»Du hättest ihn nicht hierher schicken dürfen«, zischte sie mit unterdrücktem Zorn, sah ihn aber nicht an. »Er hat sich darauf eingelassen wie auf ein Abenteuer, aber alle verdammten Abenteuer enden mit dem Tod von jemandem.«
»Ich hätte schneller bei ihm sein müssen.«
»Und warum warst du es nicht, du Nichtsnutz!«
Rin Verran presste die Kiefer fest zusammen. Die Erzwächterin, die ihn aufgehalten hatte, war tot. Genauso wie der Erzwächter nach ihr. Und trotzdem war er zu spät gekommen. Zu spät, um Sun Shimei vor Dia Nemesis' Rache zu retten. Der Knoten in seiner Brust zog sich noch fester zusammen, während er zum Krähen-Palast hinter der hohen Mauer sah. Grelle Flammen schlugen bereits gen Himmel, aber immer noch strömten Menschen durch das Tor nach draußen. Er hoffte, dass einer von ihnen wenigstens Rin Veyveys Leiche mitnehmen würde, aber er wusste, dass niemand sich mehr freiwillig in die Versammlungshalle begeben würde.
Wo ist Kahna? Wo sind Arcalla und Ghan Edhor? Mit den Augen suchte er in der flüchtenden Menge nach diesen bekannten Gestalten, sah sie jedoch nicht. Eine leichte Panik kam in ihm auf und er ging auf das Tor zu, wurde jedoch von jemandem am Arm festgehalten.
»Wo gehst du hin?«, fragte Meister Jhe. Er hatte Weißer Habicht immer noch gezogen, während Schwarzer Falke wieder in der Scheide steckte. Von der Spitze der hellen Klinge tropfte immer noch Blut. Rin Verran hatte keine Ahnung, wie sein Kampf gegen Wez Yumaton ausgegangen war, aber offenbar war der finstere Leibwächter wenigstens verletzt worden.
»Es haben noch nicht alle den Krähen-Palast verlassen«, meinte Rin Verran. »Was, wenn jemand nicht aus seinem Zimmer kann, weil die Flammen ihm den Weg versperren?«
»Das ist nicht deine Aufgabe.« Meister Jhe warf einen Seitenblick zu den Anhängern der Ghan-Gilde. »Viele hier haben noch nicht ganz verstanden, was vorgefallen ist. Sie suchen einen Schuldigen und ich weiß nicht, ob ihnen die Drachenklauen reichen. Wenn du jetzt da rein gehst, kann es gut sein, dass du nicht wieder raus kommst.«
Rin Verran riss sich von seinem Meister los, blieb aber stehen. Erst jetzt fielen ihm die Erzwächter auf, die ganz in der Nähe standen und ihre Waffen leicht in seine Richtung gerichtet hatten. Fah Zaromo war unter ihnen und er war auch der einzige, der ihm unauffällig zunickte. Rin Raelin war nicht da. Er war verschwunden. Wohin auch immer.
Weiter hinten, zwischen mehreren Buchen, hatte sich ein Kreis um zwei Personen gebildet. Scharfe Klingen zeigten von allen Seiten auf Mehn Wudu und Ghan Leddan, die entwaffnet im Gras knieten. Letzterer hatte einen hässlichen Schnitt quer über das Gesicht, der stark blutete. Seine Augen richteten sich auf Ghan Shedor, der mit Todesgrund in der Hand vor ihn trat.
»Wie konntest du!«, schrie er seinen Onkel an und strich sich zitternd die schwarzen Haare aus dem Gesicht. »Elender Verräter! Ich hab dir vertraut! Alle haben dir vertraut!«
Ghan Leddan schwieg, was Ghan Shedor nur noch wütender machte, aber er riss sich zusammen und wandte sich stattdessen an einen Erzwächter neben sich. »Ist mein Sohn in Sicherheit?«
Der angesprochene Mann nahm Haltung an, wurde leicht bleich. »Er ist noch nicht unter den Geflüchteten. Euer Bruder...«
Ghan Shedor stieß einen Schrei der Verzweiflung aus und starrte über die Mauer hinweg auf den brennenden Krähen-Palast. »Schickt jemanden rein, der nach ihnen sucht!«, fuhr er den Erzwächter an, der sofort davon stolperte. Dann sah er ein letztes Mal hinüber zu seinem Onkel und dem Anführer der Drachenklauen neben ihm. »Irgendwelche letzten Worte, Abschaum?«
»Der Atem des Drachen ist nicht aufzuhalten«, grollte der letzte Anführer der Mehn-Gilde.
Ghan Leddan schwieg.
»Tötet sie«, befahl Ghan Shedor und wandte sich ab, als mehr als zwanzig Schwertklingen nach vorne stießen und Fleisch durchbohrten. Es gab keine Schreie. Nur zwei dumpfe Geräusche, als die Körper der Verräter zur Seite fielen. Sein Blick richtete sich wieder auf das Flammenmeer hinter der Mauer. Mein Zuhause, dachte er. Auch das habe ich jetzt noch verloren. Das Warten auf die Rückkehr der losgeschickten Erzwächter war eine Qual für sich.
Nicht weit entfernt schlich As Lesara dem Mann hinterher, der ihr gesamtes Leben zerstört hatte. Er suchte eigentlich nur nach einer Stelle, wo er in Ruhe Wasser lassen konnte, aber so weit würde es nicht kommen. Sie packte den Dolch fester, um den sie den jungen Mann gebeten hatte, der auch die Verrückte am Tor niedergestreckt hatte. Sie hatte nicht gesagt, wofür sie ihn brauchte. Aber irgendwie war es ihr vorgekommen, als hätte er auch so verstanden, was sie vorhatte. In der Versammlungshalle hatte ihr ekelhafter Ehemann sie unter dem Vorwand, Schutz zu suchen, einfach so unter einen der Tische gezerrt. Dass er ihr dabei an den Hintern, die Brüste und dann sogar zwischen die Beine gegriffen hatte, war für ihn anscheinend normal gewesen. Sie hasste ihn abgrundtief.
Kurz hielt As Lesara an, um möglichst leise durchzuatmen. Das Kind in ihrem Bauch, das nie hätte entstehen dürfen, bewegte sich leicht. Es würde bald keinen Vater mehr haben. Das war nur besser so. Sie hatte keine Ahnung, ob sie es schützen könnte, wenn es eine Tochter wäre. Als sie um den Baumstamm herumsah, erblickte sie ihn. As Hatan. Die größte Schande der Erzwächter. Er mochte es, wenn sie selbst zu ihm kam. Irgendwann hatte sie damit angefangen, weil es dann leichter zu ertragen war. Mit zitternden Händen rückte sie ihren Ausschnitt zurecht, bevor sie die Hand mit dem Dolch hinter ihrem Rücken versteckte und sich ihm näherte.
»L-L-Liebster«, säuselte sie.
As Hatan drehte sich um. Er hatte die Hose bereits runtergelassen und griff bei ihrem Anblick sogleich nach seinem besten Stück. Ein anzügliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Hast du Angst? Keine Sorge, die Mauern werden das Feuer vom Silbermistel-Wald fern halten. Soll ich dich trotzdem trösten?«
As Lesara nickte zögerlich und trat näher, ließ zu, dass er mit seiner freien Hand direkt unter ihr Kleid griff und über die Innenseite ihrer Schenkel strich. Sie hasste dieses Gefühl. Bevor seine Finger noch weiter nach oben wandern konnten, stieß sie zu. As Hatan gab ein überraschtes Grunzen von sich, doch mehr passierte nicht. Erschrocken zog sie den Dolch raus und stach nochmal zu. Endlich ließ er sie los, sodass sie zurückstolpern konnte, aber er fiel nicht um. Stattdessen blitzten seine Augen wütend auf.
»Du kleines Miststück!«, zischte er, schien die blutenden Wunden in seiner Brust gar nicht zu bemerken. Schwankend kam er auf sie zu, während sie immer weiter zurückwich. »Ich werd's dir zeigen! Du wirst mich darum anflehen, Gnade walten zu lassen!«
Panik machte sich in As Lesara breit. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, ging immer weiter rückwärts. Dann verfing sich ihr Fuß in einer Wurzel. Schreiend stürzte sie, landete zum Glück auf ihrem Rücken, aber dann war As Hatan über ihr und machte sich an ihrem Kleid zu schaffen. Mit der anderen Hand hielt er ihren Mund zu.
»Elendes Miststück!«, fluchte er und Speichelfäden troffen von seinen dicken Lippen.
As Lesara weinte verzweifelt. Der Dolch war ihr beim Sturz aus der Hand gefallen und lag jetzt irgendwo außer Reichweite im Unterholz. Sie wollte um sich schlagen und treten, wusste aber, dass das alles nur noch schlimmer machen würde. Also blieb sie still liegen, während As Hatan ihre Kleidung vollblutete. Und plötzlich war er weg.
Sie schrie auf, als der Kopf ihres Ehemannes sauber abgetrennt davonflog und noch mehr warmes Blut über ihren Körper strömte. Panisch trat sie mit den Füßen und fuchtelte mit den Armen, um von ihm weg zu kommen. Seine Arme und Beine zuckten noch und aus seinem Hals kam in regelmäßigen Abständen ein Schwall Blut, das nur langsam im Boden versickerte. Ungläubig starrte sie zu ihrem Retter, dessen Säbel zuvor wohl auch die Frau in dem roten Kleid getötet hatte, die leblos über seiner Schulter hing.
»R-R-R-«, stotterte As Lesara und brachte den Namen nicht heraus.
Rin Raelin starrte die kopflose Leiche wortlos an, bevor er seinen Säbel in die Scheide steckte und ihr die Hand hinhielt, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Er sah wirklich so aus wie sein Bruder, oder besser gesagt sein Halbbruder. As Lesara erinnerte sich noch genau an den Zatos, an dem er sie vor einem Sturz bewahrt hatte. Sie hatte sich an seinen Rat gehalten. Immer größere Schritte gemacht, wenn sie ein langes Kleid trug. Und sie hatte sein Gesicht nie vergessen.
»D-D-Danke«, sagte sie, als sie wieder auf den Beinen stand. Ihr gesamter Oberkörper und wahrscheinlich auch ihr Gesicht waren mit Blut durchtränkt. Sie sah Rin Raelin stumm an, erwartete irgendeine Art von Zurechtweisung oder wenigstens ein kurzes ›Bitte‹, aber er schwieg. Sobald sie stand, ging er einfach an ihr vorbei in die Richtung, wo die Überlebenden sich immer noch sammelten. As Lesara schaute ihm hinterher, dann nochmal an sich hinab und schließlich zu der Leiche von As Hatan. Ihr wurde schlecht. Schnell stolperte sie zu einem der Büsche und übergab sich.
Als Rin Raelin aus den Schatten des Silbermistel-Waldes trat, konnte Rin Verran seinen Augen erst nicht glauben. Über der Schulter seines Bruders lag Va Dalja, die anscheinend tot war. Jedenfalls atmete sie nicht mehr und ihr Arme und Beine hingen schlaff und leblos herab. Von einem ihrer Finger tropfte Blut. Sogleich durchflutete ihn eine Welle der Erleichterung. Also hatte Va Dalja sich doch nicht auf die Suche nach Rin Kahna begeben. Dennoch blieb die Sorge. Die Erzwächter, die Ghan Shedor in den brennenden Krähen-Palast geschickt hatte, hatten bisher nur einige Diener nach draußen gebracht.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Rin Raelin Va Daljas Leiche vor Ghan Shedor zu Boden warf. Der Gilden-Anführer fragte ihn etwas, doch er schüttelte den Kopf, woraufhin Ghan Shedors Gesicht sich verfinsterte. Er wandte sich an Fah Zaromo, der nach einem kurzen Wortwechsel mit zwei weiteren Erzwächtern im Silbermistel-Wald verschwand. Gleich darauf drehte Rin Raelin sich um und blickte Rin Verran direkt in die Augen, kam langsam auf ihn zu.
Rin Verran umfasste Habichtfeders Griff und machte sich bereit, sie zu ziehen, aber sein Bruder blieb in einiger Entfernung zu ihm stehen. »Die Motte ist entkommen«, sagte er emotionslos. »Wenn Fah Zaromo sie nicht findet, wirst du uns zeigen, wo sie sich verstecken könnte.«
»Raelin.« Rin Verran suchte in den Augen seines Bruders nach etwas, das ihn an die alten Zeiten erinnerte. Es kann doch nicht sein, dass er nur deswegen gekommen ist.
»Verran.« Erstaunlicherweise glühte tatsächlich ein alter Funken in seinen Augen auf. Wenn auch schwach und irgendwie verändert, aber es lag kein abgrundtiefer Hass mehr in seiner Stimme. »Ich bin es leid.«
»Was leid?«
»Zu töten«, sagte der Rote Phönix.
Rin Verran schwieg eine Weile, nickte dann. »Ich auch.«
Überrascht beobachtete er, wie Rin Raelin seinen Säbel zog und ihn zu Boden fallen ließ. Dann wandte er sich ab und machte Anstalten, in den Silbermistel-Wald zu gehen, aus dem er vor Kurzem erst aufgetaucht war.
»Wohin gehst du?«, rief Rin Verran ihm hinterher und tatsächlich blieb Rin Raelin stehen.
»Weg von hier.« Die Stimme seines Bruders klang heiser. »Vielleicht in die Asche meines Zuhauses.«
»Jadnas Tochter«, sagte Rin Verran schnell, bevor Rin Raelin einen weiteren Schritt tun konnte. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Seine Lippen zuckten. »Sie lebt. Ich habe sie in die Gämsen-Pagode gebracht, nachdem die Drachenklauen Jadna und Ghan Idos getötet haben.«
Ein Ausdruck der Trauer und des Schmerzes wanderte über Rin Raelins Gesicht. Er ballte seine Fäuste, presste die Kiefer zusammen und schloss die Augen, aber Rin Verran konnte die Tränen zwischen seinen Wimpern trotzdem sehen. Er beugte sich hinab, hob Roter Phönix auf und trat zu seinem Bruder, um ihm die Waffe wieder in die Hand zu drücken.
»Du solltest dein Herzstück nicht weggeben«, meinte er. »Das bringt nur Unglück.« Er senkte seine Stimme, damit die Umstehenden ihn nicht hören konnten und fügte hinzu. »Man hat Jadna und Ghan Idos mit dem Dolch getötet, der vorher Bao Jenkos Herzstück war. Spiegel. Du warst es, der ihn Ghan Idos geschenkt hat, oder?«
Rin Raelin erstarrte und spannte sich am ganzen Körper an. Er war kurz davor, Rin Verran wegzustoßen, doch dieser hielt ihn immer noch fest, nachdem er ihm Roter Phönix in die Hand gedrückt hatte.
»Warte ein wenig und ich bringe dich zu Jadnas und Ghan Idos' Tochter«, bat Rin Verran. »Die Tochter der zwei Personen, die du am meisten geliebt hast.«
»Was weißt du schon!«, explodierte Rin Raelin, stieß ihn jetzt doch noch weg und stampfte davon. Aber er blieb in der Nähe und ging nicht ganz weg. Mit brennenden Augen starrte er den Säbel in seinen Händen an, bevor er ihn mit viel zu viel Kraft zurück in die Scheide stieß.
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Wer von euch hat das mit Rin Raelin erraten oder geahnt? Es gab erstaunlich viele versteckte Hinweise und Andeutungen O.o
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