Kapitel 117: Wahrheit - Teil 3
Dia Nemesis war die erste, die aus der Schreckensstarre hochfuhr. Mit hassverzerrtem Gesicht zog sie ihr Breitschwert und schwang es auf Rin Verran zu, der nur mit Mühe und Not ausweichen konnte, indem er die Dachschräge hinunter schlitterte. Mehrere der Schieferplatten fielen mit ihm runter, als er auf dem Boden aufkam, sich abrollte, wieder auf die Beine sprang und Habichtfeder zog.
»Verräter!«, schrie Dia Nemesis von oben hinab und folgte ihm nach unten, während die anderen Drachenklauen sich gerade erst auf die Beine erhoben.
»Zünd den Atem des Drachen an«, zischte Mehn Wudu Se Laf zu, die bereits nach ihrem Gürtel griff. »Bevor sie aus der Versammlungshalle fliehen können.«
Rin Verran konnte nur einen kurzen Blick zu ihnen hoch werfen, bevor Dia Nemesis mit dem Schwert auf ihn losging. Sie war stärker, viel stärker als er gedacht hatte, und sie legte diese Stärke in jeden ihrer Hiebe. Sein einziger Vorteil war, dass ihre Wut sie unbedacht werden ließ. Doch das würde nicht lange halten.
Verdammte Scheiße, fluchte er innerlich. Er würde nicht lange gegen sie durchhalten. Hinzu kam das Problem mit dem Atem des Drachen. Se Laf brauchte nur ein Streichholz anzuzünden und es hinunter ins Gras werfen, damit alles sich in einen wütenden Feuersturm verwandelte. Und wo waren die anderen hin? Er hörte das Splittern von Glas und vermutete, dass sie eines der Fenster eingeschlagen hatten, um in die Versammlungshalle zu kommen und Ghan Leddan da raus zu holen.
»Ich wusste, dass es ein Fehler war, dir zu trauen«, zischte Dia Nemesis vor ihm. Sie packte ihn auf einmal am Kragen, wirbelte ihn wie einen Sack herum und stieß ihn ins Gras. Eine klebrige Flüssigkeit benetzte die Halme unter seiner Hand. Doch er hatte keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken. Rin Verran rollte sich zur Seite, um dem nächsten Hieb auszuweichen und schlug dabei selbst mit Habichtfeder nach Dia Nemesis' Beinen, aber die Klinge kratzte nur über das dicke Leder ihrer Stiefel.
Verdammte Scheiße, dachte er ein zweites Mal und im selben Augenblick ertönte ein lautes Sirren. Ein einzelner Pfeil flog durch die Luft und bohrte sich in die Kniekehle der Frau, die sogleich mit einem dumpfen Grunzen wegknickte. Während sie mit der freien Hand nach dem Schaft tastete, um ihn rauszuziehen, schoss ein weiterer Pfeil vorbei. Rin Verran hörte einen spitzen Schrei und sah nach oben. Se Laf stand immer noch auf dem Dach, doch jetzt hatte ein Pfeil ihre Hand durchbohrt, in der sie wohl zuvor das brennende Streichholz gehalten hatte, das nun auf einer der Schieferplatten erlosch. Bevor ein weiterer Pfeil sie treffen konnte, duckte sie sich und schlitterte auf der anderen Seite des Daches hinunter.
Rin Verrans Blick huschte zu den Büschen, in denen der Schütze sich offenbar versteckt hielt und atmete erleichtert aus, als die Zweige sich teilten und drei ihm bekannte Gestalten heraustraten. In der Mitte ging Meister Jhe, links von ihm Wen Irdan und rechts Kar Moora, die mit einem grimmigen Gesichtsausdruck gerade einen weiteren Pfeil auf die Sehne ihres Bogens legte.
»Verabschiede dich vom Leben, du beschissene Schlampe!«, fauchte sie Dia Nemesis an und ließ den Pfeil davon schnellen, aber die andere Frau tat einen Schritt zur Seite, sodass er ins Nichts ging, bevor sie zu dem eingeschlagenen Fenster der Versammlungshalle zurückwich und darin verschwand.
»Deine Spuren waren nicht gerade gut lesbar«, sagte Meister Jhe, während er auf Rin Verran zuging und vor ihm stehen blieb.
»Nicht gerade gut lesbar«, schnaubte Kar Moora. »Wir haben gedacht, ein sehr großer Vogel wäre nahe der Mauer gelandet und nicht, dass da der geheime Zugang ist. Du hattest Glück, dass wir den durchgebrochenen Ast gesehen und dann die verdammte Mauer abgesucht haben!«
»Kar Moora, du gehst aufs Dach«, befahl Meister Jhe, bevor Rin Verran etwas Bissiges erwidern konnte. »Schau zu, ob du eine von ihnen erwischen kannst.«
Die junge Frau protestierte erstaunlicherweise nicht, sondern klemmte sich den Bogen auf den Rücken und begann, hochzuklettern, während Meister Jhe auf das zerstörte Fenster zuging und gleichzeitig seine zwei Schwerter zog. Weißer Habicht und Schwarzer Falke. Die Glasscherben knirschten unter seinen Stiefeln, als er den Boden der Versammlungshalle berührte, der an einigen Stellen bereits mit Blut besprenkelt war. Schreie, überall Schreie und Waffengeklirr.
Rin Verran und Wen Irdan kamen gleichzeitig an, doch der schweigsame Mann eilte sofort in eine andere Richtung davon. Wo ist Arcalla?, fuhr es Rin Verran durch den Kopf, denn er konnte sie inmitten des Chaos nirgendwo entdecken. Aber genauso wenig konnte er Ghan Edhor sehen. Vermutlich hatten sie es irgendwie geschafft, die Versammlungshalle zu verlassen, bevor Mehn Zairda das Tor versperrt hatte.
Die Frau mit den wilden, orangenen Locken war erneut ganz bei Sinnen. Und auch wieder nicht. Die Abwesenheit des Schleiers des Vergessens schien sie zu einer ungestümen Bestie gemacht zu haben. Wer auch immer sich ihr näherte, bekam ihre lange Peitsche zu spüren, die auf ganzer Länge mit Dornen bestückt war. Sie riss Haut und Fleisch auf, hinterließ tiefe Wunden. Und Mehn Zairdas Augen leuchteten, während sie lachend nach ihren Feinden schlug, niemanden an ihr vorbei ließ.
Zur gleichen Zeit kämpfte Ghan Leddan gegen Ghan Shedor. Irgendwie war es ihm gelungen, an Wez Yumaton und Rin Raelin vorbei zu kommen, die beide nicht zu sehen waren. In seinen Händen blitzte das Langschwert eines Erzwächters, der neben ihm tot am Boden lag, und prallte gegen Todesgrund. Der Hass in den Augen der beiden Männer war unübersehbar. Etwas in Rin Verran weigerte sich, Ghan Shedor zu Hilfe zu kommen, aber ein Schrei voller Angst nahm ihm die Entscheidung ab, ob er es nicht doch tun sollte.
In der Nähe der Treppe stand Va Dalja über Rin Veyvey, der sie den Hut mit dem schwarzen Schleier vom Kopf gerissen hatte und nun einen Dolch auf die Kehle richtete. Das Weiß ihres Kleides war wegen des vergossenen Blutes kaum mehr vorhanden. Ihr schönes Gesicht hatte sich in eine harte Maske verwandelt.
»Wo ist sie?«, fuhr Va Dalja Rin Veyvey an. »Wo ist sie? Wo ist deine Tochter?«
Rin Veyvey starrte die Frau nur verständnislos und voller Angst an. Ihre weit aufgerissenen Augen wanderten immer wieder hinüber zu der Leiche ihrer Dienerin Lai Vatani, deren Blut noch an dem Dolch klebte, der jetzt auf sie gerichtet war. »Was willst du von meiner Tochter?«
Dieselbe Frage schoss durch Rin Verrans Kopf, bis er begriff, was Va Dalja vor hatte. Wegen mir ist ihr Sohn gestorben. Jetzt möchte sie Rache nehmen. Nein! Nein, nein, nein! So schnell er konnte, rannte er zwischen den Kämpfenden und Fliehenden hindurch in Richtung Treppe. Rin Veyvey hatte angefangen, die Stufen rückwärts nach oben zu kriechen, doch die Trauerkleidung war zu lang und sie verfing sich immer wieder mit den Füßen im Saum des schwarzen Kleides.
»Wo ist deine Tochter?«, zischte die Frau vor ihr, die sie noch nie im Leben gesehen hatte. Bis wenige Tage vor diesem Fest hatte sie noch gedacht, sowieso nicht mehr lange zu leben zu haben, und sich schon mit dem Tod abgefunden. Nach der misslungenen Rückeroberung der Gämsen-Pagode hatte Ghan Shedor sie als Druckmittel benutzen wollen, um Rin Verran dazu zu bringen, die Krieger der Sonne von einer Kapitulation zu überzeugen. Sie hatte all ihre Redekünste aufbringen müssen, um ihn verstehen zu lassen, dass es Rin Verran in Wirklichkeit nicht kümmern würde, ob sie starb oder nicht. Er empfand nichts für sie. Warum sollte er für sie etwas aufgeben? Sie hatte alles so lange in die Länge gezogen, bis wie durch ein Wunder Ghan Leddan aufgetaucht war. Und jetzt das...
»Was willst du von meiner Tochter!«, schrie Rin Veyvey der Frau ins Gesicht, während ihre Hand sich nach Goldener Fuchs ausstreckte, der ihre Haare schon seit dem dritten Jahr in der Gämsen-Pagode schmückte. Doch gleich darauf spürte sie die kalte Berührung der Dolchklinge an ihrer Kehle. Sie hielt den Atem an, fürchtete, jeden Moment einen stechenden Schmerz und dann gar nichts mehr zu spüren. Doch stattdessen wirbelte die fremde Frau auf einmal herum, stellte sich hinter sie auf eine Stufe und zog Rin Veyvey auf die Beine, die Klinge immer noch dicht an ihrem Hals. Goldener Fuchs entglitt ihren Fingern, prallte auf die Stufen und schlitterte davon, wo er von den Stiefeln eines Erzwächters zertreten wurde.
»Keinen Schritt weiter«, zischte die Frau und da erst begriff Rin Veyvey, dass sie mit dem Krieger redete, der auf sie zukam. Ein grüner Umhang hing um seine Schultern und schwang bei jedem Schritt hin und her. In der Hand hielt er ein Schwert, das Rin Veyvey schon mehr als zehn Mal verflucht hatte, doch jetzt fluteten so viele widersprüchliche Gefühle durch ihren Körper, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Lass sie los!«, rief Rin Verran und sah Va Dalja fest in die Augen, aber diese weigerte sich weiterhin, Rin Veyvey freizugeben. Ein rotes Rinnsal floss bereits ihren Hals hinab und sie zitterte unkontrolliert. Er konnte sehen, dass sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, aber die Klinge des Dolches schnitt ihr nur weiter ins Fleisch, sodass sie ihn wieder schloss.
»Sie hat nichts damit zu tun«, beschwor Rin Verran Va Dalja erneut. »Lass sie gehen und wir klären das unter uns.«
»Ich dachte, ich müsste erst deine Tochter finden«, sagte die Frau langsam, »doch wie es aussieht, kann ich mir das auch sparen.«
Bevor Rin Verran begreifen konnte, was diese Worte bedeuteten, zog Va Dalja Rin Veyvey den Dolch mit einem Ruck über die Kehle. Im selben Moment bohrte sich ein Pfeil in ihre Schulter, doch es war schon zu spät.
»Nein!« Rin Verran stürzte nach vorne, um Rin Veyveys Fall aufzuhalten, während Va Dalja das Gleichgewicht verlor und die Treppe hinab fiel, an deren Ende sie aber wieder auf die Beine kam, und in der kämpfenden Menge verschwand.
»Veyvey!« Rin Verran versuchte verzweifelt, den Blutschwall aufzuhalten, der bei jedem Herzschlag aus ihrer Kehle quoll. Ihr Mund öffnete und schloss sich, doch heraus kam nur ein schreckliches Gurgeln. Irgendwie fingen ihre Augen seinen Blick ein und hielten ihn fest. Tränen hingen an ihren Wimpern und er wusste nicht, ob es Tränen der Trauer und Angst oder der Freude waren. Wahrscheinlich beides.
»Es tut mir leid«, flüsterte Rin Verran leise und strich ihr über die nasse Wange. Dann beugte er sich vor und küsste ihre Stirn. Als er sich wieder zurücklehnte, waren ihre Augen trüb. Als wäre das Eis der blaugrünen Teiche zugefroren. Sie war tot. Nur noch ein toter Körper in seinen Armen und seine Hände mit Blut befleckt.
Dann kam die Wut. Die Hand fest um Habichtfeders Griff geklammert stand er auf und ließ seinen Blick über die Versammlungshalle schweifen. Ein großer Teil der Gäste, der nicht kämpfen konnte, hatte sich unter den Tischen versteckt. Der Rest lag entweder tot am Boden oder kämpfte zusammen mit den Erzwächtern gegen die Drachenklauen und teilweise auch gegeneinander. Er entdeckte einen Mann in der Kleidung der Zha-Gilde, der mit einer Langaxt auf einen Mann der Ghan-Gilde losging. Von Va Dalja keine Spur.
Stattdessen entdeckte er Jin Gajin, der mit gezückten Dolchen auf einen gefallenen Erzwächter zuging und sich über ihn beugte, um ihm das ewige Grinsen einzuritzen. Doch plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne, schwankte. Fassungslos starrte er auf die eiserne Klinge, die in seinen Rücken eingedrungen und aus seiner Brust wieder herausgetreten war. Hinter ihm stand Wrun Lilath, die ihr Schwert Fluch nun wieder rauszog und mit hassverzerrtem Gesicht zusah, wie Jin Gajin vor ihr zusammenbrach. Sie zischte etwas, stellte einen Fuß auf die Brust des Grinsegeistes und setzte die Spitze ihres Herzstücks dann an seinem Mundwinkel an.
Rin Verran ließ seinen Blick weiter wandern. Über Ghan Leddan und Ghan Shedor, die immer noch verbissen gegeneinander kämpften. Dem jungen Gilden-Anführer lief bereits Blut aus einem Schnitt auf seiner Stirn über das Gesicht. Weiter hinten fuhren die Schwerter von Meister Jhe auf Wez Yumaton nieder, der jedoch jeden seiner Schläge abwehrte und sogar selbst angriff. Ein Tanz der Klingen, der Rin Verran an seinen eigenen Kampf gegen Meister Jhe auf der Brücke vor der Gämsen-Pagode erinnerte. Er vermutete, dass sein Meister noch eine alte Rechnung mit Wez Yumaton zu begleichen hatte. Immerhin hatte dieser laut eigener Behauptung seinen eigenen Bruder umgebracht, der einst Meister Jhes Schüler gewesen war.
Wo bist du, Va Dalja? Die Frau mit dem roten Kleid war einfach nirgendwo zu sehen. Hatte Mehn Zairda sie etwa aus der Versammlungshalle gelassen? Wanderte sie jetzt gemächlich durch den Krähen-Palast auf der Suche nach Rin Kahna? Rin Verrans Augen zuckten hinüber zu der Verrückten mit der Peitsche, die weiterhin das Tor bewachte und niemanden hindurch ließ. Und dann sah er Sun Shimei.
Der Junge hatte es irgendwie geschafft, Val Zirro von der Treppe bis zur Wand neben dem Tor zu schleifen, wo er einen Tisch umgestoßen hatte, hinter dem er zusammen mit dem alten Mann Schutz gesucht hatte. Jetzt war er jedoch aus seiner Deckung herausgekommen. Er eilte zu einem der toten Erzwächter der Ghan-Gilde, nahm ihm das Schwert ab und stellte sich breitbeinig hin. Offenbar entschlossen, sich ebenfalls in den Kampf zu stürzen.
»Sei nicht dumm und bleib in Deckung«, fluchte Rin Verran, obwohl er wusste, dass sein Schüler ihn nicht hören konnte. Sein Blick fiel auf Dia Nemesis, die trotz ihres blutenden Beines an Mehn Wudus Seite gegen mehrere Erzwächter kämpfte. Sie schien Sun Shimei ebenfalls entdeckt zu haben, denn ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und mit einem heftigen Tritt beförderte sie einen ihrer Gegner zu Boden, um den Weg zu dem jungen Mann frei zu haben, der sie allerdings nicht sah.
»Sun Shimei!«, schrie Rin Verran über den Kampflärm hinweg und wollte noch eine Warnung hinterher rufen, als plötzlich ein brennender Schmerz an seinem Oberarm ihn herumfahren ließ. Er blickte in dunkelbraune Augen, in denen ein unbändiger Hass und Zorn brannte. Das Feuer eines Roten Phönix. Blitzschnell riss Rin Verran Habichtfeder hoch, um den Schlag seines Bruders zu parieren.
Rin Raelin warf dieses Mal nicht mit Beschuldigungen um sich, sondern kämpfte schweigend. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben hatte er seine Wut unter Kontrolle und führte seinen Säbel so, wie er es schon die ganze Zeit hätte tun sollen. Metall traf auf Metall, unangenehmes Kreischen, als die Klingen aneinander vorbeifuhren. Er drängte Rin Verran immer weiter die Stufen runter. Wer oben war, hatte einen klaren Vorteil. Roter Phönix sauste hin und her, sang ein blutiges Lied, aber ohne mehr Blut zu bekommen als das vom Oberarm.
»Raelin«, sagte Rin Verran zögerlich. Er spürte, dass etwas sich verändert hatte, konnte aber nicht genau sagen, was es war. »Raelin, hör auf! Es ist sinnlos! Du hast doch alles mit angehört! Du kennst die Wahrheit!«
Aber Rin Raelin hörte nicht auf. Er konnte nicht aufhören. Was man angefangen hat, sollte man auch zu Ende bringen. Nur dieser eine Gedanke pochte in ihm. Hell und unauslöschlich und gleichzeitig voller Verzweiflung. Wenn alles verloren war, wenn alles sich als Lüge herausgestellt hatte, dann klammerte man sich an das letzte Bisschen, was man noch sicher wusste. Und Rin Raelin wusste sicher, dass er sich irgendwann geschworen hatte, es zu Ende zu bringen. Er nahm nicht wahr, was um ihn herum passierte. Sah nicht die Flammen, die außerhalb der Versammlungshalle plötzlich gen Himmel loderten. Spürte keine Hitze. Nur diese Kälte in sich drin, als wäre alles tot.
»Raelin!«
Auf einmal waren da zwei Arme, die sich um ihn schlangen und ihn fest an einen anderen Körper drückten. Er konnte nicht mehr ausholen. Roter Phönix war nutzlos geworden. So wie er vielleicht auch nutzlos geworden war. Der Säbel entglitt seiner Hand und das Scheppern des Aufpralls war wie ein Pfeilschuss direkt in sein Herz. Jetzt hörte er die panischen Schreie um sich herum. Aber gedämpft, wie durch eine Wand aus Nebel.
»Raelin, hör auf«, wiederholte Rin Verran seine Worte und ließ ihn langsam los, als er sich sicher war, dass sein Bruder die plötzliche Ruhe nicht nur vortäuschte. Vorsichtshalber gab er Roter Phönix einen Tritt, damit der Säbel außerhalb seiner Reichweite war. Rin Raelin stand wie eine steinerne Statue vor ihm. Er regte sich nicht, blinzelte nicht mal, sondern starrte ihn nur mit Augen an, in denen Feuer und Eis gegeneinander kämpften. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Umgeben von der Hitze des Atem des Drachen, der nun doch noch entzündet worden war, ging er zu Roter Phönix hinüber und hob ihn auf. Rin Verran fasste Habichtfeder fester, aber sein Bruder steckte den Säbel einfach wieder zurück in die Scheide, wandte sich ab und ging davon.
Was haben sie nur mit ihm gemacht? Rin Verran erinnerte sich noch genau an ihren letzten Kampf, in dem Rin Raelin versucht hatte, ihn zu töten. Damals hatte er gedacht, die Krieger der Sonne wären Schuld an Ghan Jadnas Tod. Aber nach den letzten Ereignissen musste er begriffen haben, dass die Drachenklauen dahinter steckten. Nur wusste er noch nicht, dass Rin Verran ihren Tod doch mit zu verantworten hatte.
Er hatte keine Zeit, um Rin Raelin zu folgen, geschweige denn zu sehen, wohin er denn ging. Gehetzt schaute er sich um, suchte nach Sun Shimei, der zuvor in das Visier von Dia Nemesis geraten war. Und tatsächlich entdeckte er den jungen Mann auf der anderen Seite der Versammlungshalle, wo er von ihr in Bedrängnis gebracht worden war. Hinter ihm war die festlich geschmückte Wand, deren Tücher jetzt zerrissen waren und blutbefleckt herabhingen. Er hatte das Schwert zur Verteidigung gehoben, aber es war offensichtlich, dass er Dia Nemesis nicht standhalten könnte. Die muskulöse Frau zischte ihm etwas zu und ließ ihre Waffe auf ihn herab sausen. Gleichzeitig ertönte ein lauter Schrei und ein Pfeil flog knapp an ihrem Kopf vorbei, traf jedoch nur das Glasfenster neben ihr, das leichte Sprünge bekam.
Rin Verran folgte dem Blick von Dia Nemesis und entdeckte Kar Moora, die immer noch auf dem Dach saß und Pfeile verschoss, obwohl die Flammen sie bald erreichen würden. Auf ihrem Gesicht stand purer Hass geschrieben, während sie ein weiteres Geschoss auf die Sehne legte und schoss. Trotz der schmerzenden Muskeln riss Rin Verran sich zusammen und bahnte sich einen Weg durch die kämpfende Menge, die von der drohenden Gefahr außerhalb der Versammlungshalle nichts zu wissen schien. Er musste so schnell wie möglich bei Sun Shimei sein, doch er war kaum drei Schritte gegangen, als eine Erzwächterin der Ghan-Gilde sich ihm in den Weg stellte, ihr Langschwert hoch erhoben. An einem ihrer Finger glänzte ein eiserner Ring.
»Du bist Schuld!«, schleuderte sie ihm entgegen.
Ich weiß nicht mal, wer du bist!, wollte er antworten, doch da trafen ihre Klingen schon aufeinander.
Im hinteren Teil der Versammlungshalle schaffte Sun Shimei es nur, einen einzigen Schlag abzuwehren, bevor sein Schwert klappernd zu Boden fiel. Alle seine Sinne schrieen danach, die Flucht zu ergreifen, doch er war wie erstarrt. Er konnte nicht fliehen. Es gab nur die Wand hinter ihm, die sich allmählich aufheizte, und die riesige Frau vor ihm, die offenbar vorhatte, ihn zu töten.
»Du bist genau so ein Verräter wie dein Meister«, zischte die Drachenklaue und stach zu.
Der Schmerz kam mit einer leichten Verzögerung. Sun Shimei wusste nicht recht, ob er schreien sollte oder nicht, bis er begriff, dass seine Kehle bereits für ihn entschieden hatte. Als die Frau ihm das Schwert aus der Brust riss, sank er einfach zu Boden. Irgendwas Warmes breitete sich dort aus, verklebte seine Kleidung. Über ihm war die Decke, beleuchtet von zuckenden Flammen. In seinen Ohren rauschte es. Lag das an dem Feuer draußen?
Auf einmal fiel etwas halb auf seine Beine drauf und wurde dann weggezogen. Sun Shimei wollte den Kopf heben, um zu schauen, was das war, aber aus irgendeinem Grund hatte er keine Kraft mehr. Erst, als ein eckiges Gesicht, umrahmt von kurzen, rabenschwarzen Haaren, über ihm auftauchte, brachte er ein schwaches Lächeln zustande.
»Scheiße«, fluchten die schmalen Lippen. Hände legten sich auf seine Brust und drückten zu. Es tat so furchtbar weh.
»Kar Moora«, presste Sun Shimei hervor. Etwas quoll aus seinem Mund, was entsetzlich nach Eisen schmeckte.
»Ich hab dir gesagt, dass du mein verschissenes Schwert mitnehmen sollst!«, zischte sie.
»Kar Moora...«
»Halt die Klappe!«
»Moora, es tut weh.«
Die Worte ließen sie innehalten. Mit aller Macht versuchte sie die Tränen zurückzudrängen, die in ihr aufkamen. Mir tut es auch weh, wollte sie am liebsten sagen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich am Knöchel verletzt hatte, als sie vom Dach in die Versammlungshalle runtergesprungen war, um das Leben der elenden Schlampe mit eigenen Händen auszulöschen. Die lag jetzt zwar mit einem Pfeil in der Schulter und Nordwind im Rücken tot am Boden, aber das Blut aus Sun Shimeis Brust wollte nicht aufhören zu fließen.
»Es tut weh«, murmelte der Junge nochmal.
Dieses Mal konnte Kar Moora die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie kannte diese Art von Wunde. Sie wusste, was unweigerlich geschehen würde und doch konnte sie es nicht akzeptieren. Mit aller Macht presste sie ihre Hände auf die Verletzung, aber das Blut quoll einfach an ihnen vorbei. Irgendwann bemerkte sie, dass der Fluss nachließ und wollte schon erleichtert aufatmen, als sie begriff, was das in Wirklichkeit bedeutete.
»Nein!« Ihr Blick zuckte zu Sun Shimeis Gesicht. Er sah so friedlich aus. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen. »Nein!« Kar Moora rutschte ein Stück näher zur Wand, ignorierte den Schmerz in ihrem Knöchel, und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. Ihre Finger hinterließen blutige Spuren. »Du darfst nicht gehen!«, presste sie hervor. »Ich erlaube es nicht! Du... hast mir noch nicht alles erzählt!« Aber es war sinnlos.
Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern stieg ein Schluchzen in ihr auf. Sie sank mit dem Rücken gegen die Wand, deren Hitze sie fast verbrannte, bettete Sun Shimeis Kopf in ihren Schoß und weinte. Dann explodierte das Fenster neben ihr. Glassplitter schossen durch die Luft, gefolgt von heißen Flammenzungen, die ihre Haarspitzen ansengten. Kar Moora starrte auf die Scherben, die in ihrem Unterarm steckten, nachdem sie ihn als Schutzschild gehoben hatte. Betäubt. Und plötzlich stand Meister Jhe vor ihr.
»Verlasse sofort die Versammlungshalle, wenn du nicht im Atem des Drachen sterben möchtest«, befahl er. Die Stimme eisig, der Blick finster.
Kar Moora starrte ihn teils verständnislos, teils wütend an, doch da hatte Meister Jhe sich bereits abgewandt. In ihr Sichtfeld kam nun Rin Verran, der verdammte Grüne Habicht, in dessen Augen ein unerträglicher Schmerz stand. Sie hätte ihn am liebsten angebrüllt und mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen, aber das kam ihr jetzt so sinnlos vor. Schweigend ließ sie zu, dass Rin Verran Sun Shimeis Körper vorsichtig aufhob. Er sah sie abwartend an, bis sie selbst aufstand und ihm aus der Versammlungshalle hinaus folgte. Ihr Unterarm schmerzte, als sie Nordwind aus Dia Nemesis' Rücken zog und der Frau noch einen abschließenden Tritt versetzte. Sie wusste nicht, ob sie getroffen hatte. Ihr Blick war zu verschwommen. Aber nicht so verschwommen, dass sie die vielen Toten übersehen könnte. Und das Feuer, das bereits die Fenster durchbrochen und die Tücher an den Wänden versengt hatte. Von der Decke tropfte flüssiges Gold und Silber, das sich an einigen Stellen in ihre Lederrüstung brannte.
Während die letzten Erzwächter und Gäste aus der Versammlungshalle flohen und sich durch die Flure kämpften, um auch den Krähen-Palast zu verlassen, wurde die Halle selbst vom Atem des Drachen erobert. Stichflammen schossen empor, sobald er auf etwas Brennbares traf. Dunkelgrauer Stoff mit Krähenfedern kräuselte sich, bevor er zu Asche zerfiel. In der Nähe des Tores lag eine Frau mit orangenen Locken am Boden, das Ende einer dornenbesetzten Peitsche noch in ihren Händen. Und vor ihr hockte ein Mann, der ihre Sehnen durchtrennt hatte, damit sie nicht davonlaufen konnte.
»Du kennst mich nicht«, sagte er mit einer tiefen Stimme, »aber ich kenne dich und ich weiß, was deine Peitsche meinem Vater angetan hat. Ich habe gehört, wie du in der Gämsen-Pagode darüber geredet hast.«
Die Frau verzog ihre Lippen zu einem unheimlichen Grinsen und lachte aus voller Kehle. Ihre Hand mit der Peitsche bewegte sich, doch der Mann hielt sie fest.
»Du hast ihn gefoltert, bevor du ihn getötet hast. Ihm den Kopf abgeschlagen hast.«
»Er hat es verdient«, spuckte die Frau aus und richtete ihren Blick auf das Feuer hinter ihm. Wieder kam ein Lachen in ihrer Kehle hoch und brach heraus. »Er hat es verdient!« Und plötzlich schluchzte sie auf. »Lass mich in Ruhe. Bitte, lass mich in Ruhe. Lass mich in Ruhe.«
Der Mann stand auf und sah von oben auf sie hinab. Er wirkte traurig, doch trotzdem ging er einfach an der Frau vorbei und verließ die Versammlungshalle. Als die ersten Flammen an der Haut der Frau leckten, schrie sie. Ihre Schreie wurden immer lauter und lauter, bis sie abrupt abbrachen.
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Danke für den plötzlichen Sprung in der Anzahl der Leser O.o Gestern waren es noch 3,94 k und heute schon 4,06k! Damit haben wir die 4.000 Leser geknackt! Vielen, vielen Dank!
Und wieder back to business: Wirklich ausdrückliche Trigger-Warnung fürs nächste Kapitel!
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