Kapitel 106: Narben - Teil 3
Als Rin Verran pünktlich zum Abend des zweiten Tages in das Versteck der Drachenklauen zurückkehrte, erwarteten Mehn Wudu, Ghan Leddan, Dia Nemesis und Jin Gajin ihn schon in der Haupthöhle. Das war nicht weiter verwunderlich, denn er hatte von Anfang an gewusst, dass jemand ihm folgen würde, um sicher zu gehen, dass er nicht floh. Dieser Jemand war natürlich vor ihm zurückgekehrt und hatte die anderen zusammengerufen. So, wie die Stiefel von Dia Nemesis aussahen, war wahrscheinlich sie es gewesen, die ihm bis nach Saresare gefolgt war.
Seine Theorie bestätigte sich, als sie ihn zwar ausdruckslos musterte, jedoch die Hand auf den Griff ihres Breitschwertes legte. »Du hast den Schlüssel nicht«, sagte sie hart.
»Doch«, widersprach Rin Verran ihr und musste fast auflachen. Natürlich ist sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen. Schließlich war ich die ganze Zeit unterwegs, wo sie mich beobachten konnte, und Saresare konnte sie dank Ghan Edhors Broschüre nicht betreten ohne das Risiko einzugehen, aufzufliegen. Er griff in seine Innentasche, woraufhin Jin Gajin sofort seine zwei Dolche zog und Dia Nemesis ihr Schwert auf ihn richtete.
»Langsam«, forderte Ghan Leddan in ruhiger Stimme. Er war der einzige, dem seine Anspannung nicht anzumerken war.
Wie gewollt holte Rin Verran langsam seine Hand raus und öffnete sie, sodass die anderen den kleinen Schlüssel sehen konnten. Sofort leuchteten Mehn Wudus Augen auf und er trat einen Schritt vor, um ihn sich zu holen, aber im selben Moment zog Rin Verran seine Hand weg.
»Was soll das?«, fragte Mehn Wudu leicht verärgert.
»Ich habe mein Versprechen gehalten und den Schlüssel besorgt«, antwortete Rin Verran. »Jetzt müsst ihr euer Versprechen halten und mir Habichtfeder zurückgeben.«
»Er versucht, zu verhandeln«, erkannte Dia Nemesis und sah zum Anführer der Drachenklauen. »Du darfst nicht darauf eingehen!«
»Lasst mich gegen ihn antreten«, grinste Jin Gajin und drehte gelangweilt einen seiner Dolche herum. »Ihm wird das Lachen schon vergehen und dann wird er uns den Schlüssel freiwillig geben.«
»Nein.« Mehn Wudus Stimme durchschnitt die Luft wie ein scharfes Messer und er musterte Rin Verran von oben bis unten. »Die Drachenklauen stehen für die Gerechtigkeit und deswegen sollten wir uns an unsere Versprechen halten. Dia Nemesis, hol sein Herzstück.«
Die hoch gewachsene Frau zögerte nur einen winzigen Augenblick, bevor sie gehorchte. Sie verschwand im linken Tunnel und kehrte wenig später wirklich mit Habichtfeder zurück, die sie Rin Verran mit dem Griff nach vorne hinhielt. Doch kaum hatte er das Leder berührt, erklang das Kreischen eines Schwertes, das mit einer heftigen Plötzlichkeit aus der Scheide gezogen wurde. Reflexartig hob Rin Verran Habichtfeder und schaffte es so gerade noch rechtzeitig, Dia Nemesis' Angriff abzuwehren. Sie ließ die Klinge ihres Schwertes abgleiten und stieß erneut vor. Rin Verran wich dieses Mal zur Seite aus und sprang zurück, um etwas Abstand zwischen sich und die Frau zu bringen. Er bereitete sich auf einen weiteren Hieb vor, doch da war Ghan Leddan schon nach vorne gestürzt. Nur zwei schnelle Handbewegungen seinerseits und Dia Nemesis ließ ihr Schwert mit einem Schmerzensschrei fallen.
»Mehn Wudu hat nicht erlaubt, dass wir ihn angreifen!«
Die Frau ließ nicht erkennen, ob sie sich schuldig fühlte oder nicht. Sie hob einfach nur ihr Schwert auf und verließ wortlos die Haupthöhle. Sobald sie weg war, gürtete Rin Verran sich Habichtfeder wieder um und fuhr mit Bedauern über die Kerbe, die Dia Nemesis auf der Scheide hinterlassen hatte.
»Jetzt der Schlüssel.« Als wäre soeben nichts passiert, streckte Mehn Wudu auffordernd die Hand aus.
Rin Verran drehte den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, zögerte. »Ich möchte die Kiste gerne selber aufschließen. Schließlich habe ich den Schlüssel gefunden und das Wasser der Wahrheit ist eine Erfindung meiner Mutter.«
Mehn Wudu sah nicht begeistert auf und wechselte einen Blick mit Ghan Leddan. Sie arbeiteten offenbar schon so lange zusammen, dass sie sich auch ohne Worte verstanden, denn kurz darauf nickten beide. Der Anführer der Drachenklauen befahl Jin Gajin mit einer Handbewegung, die Kiste zu holen. Als der ewig grinsende Mann zurückkehrte, hielt er die kleine Schatulle, die Rin Verran schonmal in der Bibliothek gesehen hatte. Fast wäre ihm ein erleichtertes Seufzen entwichen. Also ist meine Vermutung richtig gewesen.
Mit einem respektvollen Nicken nahm er Jin Gajin die Kiste ab, während Mehn Wudu und Ghan Leddan ein Stück näher rückten. Die Anspannung war ihnen anzusehen, obwohl sie versuchten, sie zu verbergen. Ihre Augen waren wie gebannt auf das Schloss gerichtet, in das Rin Verran jetzt den Schlüssel steckte. Sein eigenes Herz schlug wie verrückt.
Ich darf mir keinen Fehler erlauben. Ich habe nur diese eine Chance.
Seine linke Hand verkrampfte sich um die Unterkante der Kiste, um sie fester zu halten.
Ich darf mich nicht verraten.
Mit einem Klicken sprang das Schloss auf und der Deckel hob sich leicht an. Vorsichtig schob Rin Verran seine Finger in den Spalt und machte ihn größer. Dabei hielt er die Hand etwas senkrechter als es vielleicht nötig gewesen wäre. Das Glas des kleinen Fläschchens, das er in Naremas Schloss bekommen hatte, strich kalt über seine Haut, als es seinen Arm entlang bis zum Saum des Ärmels rutschte. Es war pures Glück gewesen, dass es bei Dia Nemesis' Angriff nicht zerbrochen war. Der Austausch fand blitzschnell statt. Noch bevor Mehn Wudu den Deckel vollständig aufklappte, befand sich das echte Wasser der Wahrheit in Rin Verrans Ärmel und die Fälschung in der Kiste.
Danke, Paat Jero, dachte er und erinnerte sich an die Kartentricks, die der ältere Erzwächter ihm beigebracht hatte, damit er nicht immer verlor.
Ehrfürchtig nahm Mehn Wudu das vermeintliche Wasser der Wahrheit an sich und gab Rin Verran so die Gelegenheit, das echte Fläschchen tiefer in den Ärmel zu schieben. Er hielt die Phiole ins Licht der bereits untergehenden Sonne, das das Wasser in ein helles Orange färbte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Wir sind fast am Ziel«, sagte er zu niemand Bestimmten. Nach einigen Sekunden der Bewunderung ließ er die Phiole sinken und wandte sich an Rin Verran. »Ich wusste, dass du mich nicht enttäuschen würdest.«
»Wann werden wir aufbrechen?«, fragte Jin Gajin, dessen Augen einen ungesunden Glanz angenommen hatten, der von Wahnsinn sprach.
»Je früher, desto besser«, meinte Ghan Leddan. »Zum Krähen-Palast ist es ein weiter Weg.«
»Werdet ihr den Krähen-Palast angreifen?«, fragte Rin Verran vorsichtig. Er hatte bis jetzt immer noch nicht ganz verstanden, wie die Drachenklauen Meister Val aus dem Kerker holen und ihm das Wasser der Wahrheit verabreichen wollten, damit er alles beichtete. Hatten sie wirklich vor, gegen alle Erzwächter der Ghan-Gilde zu kämpfen? Sie hatten es zwar geschafft, viele Dörfer und Städte zu verwüsten, aber dort hatten sie es nur mit einer Gruppe von Feuerwächtern aufnehmen müssen. Den Echsen-Tempel der Zen-Gilde hatte Ghan Leddan nur angreifen können, weil alle geschlafen hatten und die Zen-Gilde ohnehin schon geschwächt und am Ende gewesen war. Rin Verran fragte sich immer noch, was genau der Grund für diesen Massenmord gewesen war.
»Wir werden uns Ghan Shedor als Drachenklauen offenbaren und um ein Treffen mit allen Gilden bitten. Wenn sie sich versammelt haben, werden wir darum bitten, Meister Val aus dem Kerker zu holen und wenn er erst alles gebeichtet hat, werden wir den Krähen-Palast niederbrennen.« Mehn Wudu klang so ernst wie noch nie. »Und draußen werden wir auf alle warten, die zu fliehen versuchen.«
Rin Verran versuchte, das schadenfrohe Grinsen auf Jin Gajins Gesicht zu ignorieren und gleichzeitig Ruhe zu bewahren. »Wäre es nicht leichter, die Ghan-Gilde im Vorhinein schon zu schwächen?«
Mehn Wudu sah ihn überrascht an. »Wie meinst du das?«
»In Saresare habe ich erfahren, dass die Ghan-Gilde kurz davor ist, die Gämsen-Pagode ein letztes Mal anzugreifen«, hob er zu seiner Erklärung an. »Die Krieger der Sonne dort werden dem zum jetzigen Standpunkt aber nicht standhalten können. Die Ghan-Gilde wird bei diesem Angriff vielleicht einige Erzwächter verlieren, aber letztendlich wird sie siegen.«
»Was hat das mit uns zu tun?« Ghan Leddan kniff misstrauisch die Augen zusammen.
»Angenommen, ihr lasst mich mit dem Rezept für den Atem des Drachen zur Gämsen-Pagode... So könnten wir einen großen Teil der Ghan-Gilde schon direkt auslöschen und ihr Selbstbewusstsein untergraben. Sie werden wissen, dass die Drachenklauen noch am Leben sind oder dass wenigstens jemand herausgefunden hat, wie man den Atem des Drachen herstellt. Nachdem sie besiegt wurde, wird die Ghan-Gilde viele Bedenken bezüglich Ghan Shedor als Gilden-Anführer haben. Es wird zu zusätzlichen Konflikten kommen. Vielleicht werden sie sogar selbst nach einem Treffen mit euch verlangen, wo ihr das Wasser der Wahrheit dann an Meister Val verwenden könnt.«
Erwartungsvoll sah Rin Verran zu Mehn Wudu, der in ein nachdenkliches Schweigen verfallen war. Ghan Leddan ließ sich wie immer nichts anmerken, während Jin Gajins Grinsen sich in die Breite zog.
»Denkt Ihr wirklich, Gilden-Anführer Mehn würde es begrüßen, dass Ihr Euch mit so einer Lüge die Freiheit erkaufen wollt?«
»Ich lüge nicht.«
»Gut.« Ghan Leddan nahm Mehn Wudu das Glasfläschchen aus der Hand und entkorkte es. »Dann wird es dir keine Probleme bereiten, einen Tropfen zu trinken und das erneut zu sagen.«
Rin Verran zögerte, nahm die Phiole dann aber trotzdem entgegen und ließ einen Tropfen des Wassers auf seine Zunge fallen. Entschlossen blickte er die drei Männer an. »Ich habe nicht gelogen. Ich werde den Atem des Drachen zu den Kriegern der Sonne bringen, damit sie ihn beim Angriff der Ghan-Gilde benutzen können. Wenn das getan ist, werde ich euch eine Nachricht zukommen lassen.«
Ghan Leddan nickte zufrieden und schaute zu Mehn Wudu, der erst nach mehreren Sekunden meinte: »Ich werde das nochmal mit den anderen besprechen.« Ohne einen weiteren Kommentar nahm er Rin Verran die Kiste ab und verließ die Haupthöhle. Die anderen beiden Drachenklauen folgten ihm.
Kaum waren sie gegangen, atmete Rin Verran erleichtert aus und schob die Phiole mit dem echten Wasser der Wahrheit unauffällig noch ein weiteres Stück nach oben. Wenn alles so klappte, wie er es sich vorstellte, würde er nicht nur seine Rache bekommen, sondern auch den Krieg beenden und einen Frieden mit sich selbst machen.
Es war schon tiefe Nacht, als Schritte aus dem linken Tunnel das Kommen einer Drachenklaue ankündigten. Rin Verran stand schnell auf und trat einen Schritt von der Wand weg, an der er zuvor gesessen und gewartet hatte. Zu seiner Überraschung war es jedoch weder Mehn Wudu noch Ghan Leddan, der gekommen war, sondern Se Laf. In der Dunkelheit war sie wegen ihrer schwarzen Kleidung fast nicht zu erkennen. Sie blieb in einiger Entfernung zu ihm stehen.
»Du darfst gehen«, verkündete sie. »Aber ich werde dich begleiten. Wenn du versuchst, uns auf irgendeine Weise zu täuschen, werde ich dich töten.«
Besser als erwartet, dachte Rin Verran und nickte.
»Brechen wir auf.«
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Manchmal leben die Taten und Worte der Menschen länger als sie selbst. Was hätte Rin Verran bloß ohne Paat Jero gemacht?
Alternativer Titel für die ganzen nächsten Kapitel-Teile: Some sh*t is about to go down – Teil 3/4
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