Kapitel 103: Erinnerung - Teil 3
In den nächsten Tagen zeigte Se Laf ihm die Bibliothek der Schriften, die sie aus ihrer Erinnerung aufgeschrieben hatte. Aus Tagen wurden Wochen. Rin Verran machte sich allmählich Sorgen, dass die Drachenklauen – insbesondere Dia Nemesis – ihm nie vertrauen würden. Offenbar machten sie es wirklich davon abhängig, dass er den Schlüssel fand, den sie brauchten. Aber er hatte absolut gar keine Ahnung, wo er sein könnte!
Irgendwann kam Jin Gajin wieder zu ihnen in die Bibliothek. Der Mann war Rin Verran mit diesem ewig aufgesetzten Grinsen einfach nur unheimlich. Er fürchtete jede Nacht, mit einem Dolch an seinen Mundwinkeln zu erwachen. Jin Gajin war nämlich der ungeduldigste von allen, die in den Höhlen lebten. Er ließ keine Gelegenheit aus, um Rin Verran daran zu erinnern, dass er den Schlüssel finden musste.
»Habt Ihr eine Erleuchtung bekommen?« Jin Gajin war auch der einzige, der ihn stets formell ansprach. Dann fuhr ihm jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken, aber er sagte nichts, weil er nicht wusste, wie der Mann reagieren würde.
»Bisher noch nicht«, sagte Rin Verran ohne von der Schriftrolle aufzusehen, die Se Laf vor ihm ausgebreitet hatte. Er konnte die Runensprache immer noch nicht verstehen und brauchte die verschleierte Frau, damit sie ihm die wichtigsten Sachen, die mit seiner Mutter zusammenhingen, übersetzte.
»Ihr solltet Euch beeilen«, meinte Jin Gajin mit einem breiten Lächeln. »Sonst könnte man auf die Idee kommen, Ihr würdet es nicht ernst meinen.«
»Ich gebe mir ja Mühe«, wandte Rin Verran ein.
»Es sind schon zwei Wochen vergangen. Das Misstrauen wächst. Irgendwann wird selbst der höflichste Mensch aufhören, zu lächeln.«
»Gib ihm noch etwas Zeit, Jin Gajin«, warf Se Laf ein.
»Ihr verteidigt den Mörder Eures Bruders?« Jin Gajin deutete eine Verbeugung an, die aber eher spöttisch gemeint war. »Ich bin beeindruckt davon, wie schnell Ihr ihm vergeben habt. Ihr habt meinen größten Respekt, Fräulein Se. Aber ich bin nicht der einzige, der allmählich ungeduldig wird. Junger Herr Ghan und Fräulein Dia warten sehnsüchtig auf Antworten. Und sie bezweifeln, dass er sie in der Bibliothek finden wird.«
»Mehn Wudu vertraut ihm aber.«
»Gilden-Anführer Mehn hat vielen vertraut. Und viele sind gestorben.«
Rin Verran tat so, als würde er das Gespräch gar nicht hören. Dennoch war er beunruhigt. Das dauert alles viel zu lange! Er hatte damit gerechnet, schon nach einigen Tagen Habichtfeder zurück zu bekommen, aber sein Schwert blieb weiterhin verschwunden. An alle anderen Waffen kam er nicht ran, weil sie entweder direkt am Körper getragen wurden oder immer in greifbarer Nähe ihrer Besitzer waren. Er konnte es sich nicht leisten, bei einem Diebstahl erwischt zu werden. Es stand einer gegen mindestens vier, wenn er Se Laf, Va Dalja und Mehn Zairda nicht mitzählte. Letztere hatte er seit einer Ankunft noch nie gesehen, nur ihre Schreie gehört.
Ich habe Geduld, redete er sich jedes Mal ein, wenn er kurz davor war, vor Anspannung durchzudrehen. Die anderen haben über zwanzig Jahre auf ihre Rache gewartet. Da werde ich doch wohl einige Tage durchhalten können. Doch was Jin Gajin als nächstes sagte, brachte ihn ein wenig aus der Fassung.
»Ich soll euch die Nachricht überbringen, dass der Schlüssel bis zum Jahrestag gefunden sein soll.«
»Und was, wenn das nicht geht?« Se Laf hörte sich ehrlich besorgt an, was Rin Verran stutzen ließ.
»Das überlasse ich Eurer Fantasie, Fräulein Se«, sagte Jin Gajin, verbeugte sich übertrieben höflich in ihre Richtung und verließ die kleine Bibliothek wieder.
Rin Verran brauchte gar nicht zu überlegen, was damit gemeint war. Sie würden ihn offensichtlich töten, wenn er bis dahin keine Ergebnisse vorweisen konnte.
»Du hast noch acht Tage«, erklärte Se Laf. »Dann ist der Jahrestag.«
»Der Jahrestag wovon?«
»Von der Auslöschung der Mehn-Gilde.«
»Wird man mich wirklich töten?«
Se Laf antwortete erst nicht, sondern rollte eine Schriftrolle zusammen, die er zuvor überflogen hatte. Auf ihr war das Rezept für ein Mittel niedergeschrieben, das die Stimme für einige Stunden veränderte. Ghan Leddan hatte es jedes Mal benutzt, wenn er sich ihm als Yodha gezeigt hatte. Kein Wunder, dass ich seine Stimme nie erkannt habe.
»Du musst dich erinnern«, sagte Se Laf schließlich.
Rin Verran seufzte. Es war unmöglich, aus dieser Frau klare Worte rauszuholen. Er konnte ja nicht mal ihre Miene lesen. Sogar zum Schlafen behielt sie den Schleier auf. So wie während ihrer Reise zu diesen Höhlen schon.
»Se Laf!«, rief auf einmal jemand aus dem Tunnel und Va Dalja erschien im Schein der leuchtenden Steine, die hier überall an den Wänden und an der Decke befestigt waren, um überhaupt lesen zu können. Die ehemalige Tänzerin hatte seit seiner Ankunft noch nie gelächelt. Zwar war sie immer noch so hübsch wie Lew Amon sie damals gezeichnet hatte, doch etwas an ihr wirkte tot. Oft saß sie einfach nur auf ihrem Bett oder stand in der Mitte der Haupthöhle und starrte zum Himmel hoch. Manchmal verschwand sie auch nach draußen und tauchte kurze Zeit später wieder auf. Angeblich stahl sie dann Nahrungsmittel und andere Sachen aus den umliegenden Dörfern, aber Rin Verran verstand sehr gut, dass das nicht die Art war, mit der sie tatsächlich an diese Sachen kam.
»Sie braucht wieder den Schleier des Vergessens«, sagte Va Dalja und schaute Se Laf auffordernd an.
Rin Verran hatte mittlerweile begriffen, dass mit ›sie‹ jedes Mal Mehn Zairda gemeint war.
»Ich bin gleich da.« Se Laf legte die Schriftrolle beiseite, die sie gerade in der Hand hielt, und folgte Va Dalja aus der Bibliothek. Rin Verran versuchte gar nicht erst, sich von der Stelle zu bewegen und anzufangen, hier nach Habichtfeder zu suchen. Nur wenige Sekunden später tauchte Dia Nemesis im Tunnel auf und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Sie ließ ihn wirklich keinen Moment aus den Augen. Er würde sich nicht wundern, wenn sie ihn sogar im Schlaf beobachtete.
Drei Tage später hatte er immer noch keine Ahnung, wie er sich aus dieser Zwickmühle befreien sollte. Er hatte schon überlegt, einfach abzuhauen, zu den Kriegern der Sonne zurückzukehren und ihnen zu sagen, wo sich das eigentliche Versteck der Drachenklauen befand. Aber erstens würden Mehn Wudu und die anderen ihn ganz bestimmt verfolgen und töten, bevor er die Gämsen-Pagode erreichte, und zweitens würden sie diese Höhlen ohnehin verlassen, sobald drohte, dass sie verraten werden könnten. Er war ganz auf sich alleine gestellt.
Weitere drei Tage später hörte Rin Verran Se Laf das erste Mal lachen, als sie einen beschriebenen Zettel aus einem der Fächer für die Schriftrollen herauszog.
»Das ist das allererste Rezept, das deine Mutter je aufgeschrieben hat.« Die Frau legte es vor ihm ab. »Da war sie vierzehn und Rafal und ich neun. Ich erinnere mich noch daran, dass sie sich über die Unachtsamkeit einiger Jungen beim Kämpfen beschwert hat. Einer hat sich versehentlich eine tiefe Schnittverletzung geholt, wollte aber mit seinen Freunden mithalten können und hat deswegen alle angebettelt, ihm irgendwas zu geben, damit seine Wunde sofort heilt. Das war natürlich nicht möglich. Aber einige Monate später zeigte Mehn Shia ihrem Vater dieses Rezept zu einer Salbe, die tiefe Wunden innerhalb weniger Minuten so weit verheilen lässt, dass sie nur noch wie einfache Schnitte aussehen. Dazu meinte sie noch: ›Jetzt haben die Jungen keinen Grund mehr, sich die ganze Zeit über uns Heiler zu beschweren!‹.«
Ein belustigtes Grinsen huschte Rin Verran über die Lippen, das gleich darauf von düsteren Gedanken überschattet wurde. Er kannte eine Heilerin, die sich immer Vorwürfe darüber gemacht hatte, dass sie nicht gut genug war, weil nach einigen Verletzungen Narben zurückblieben.
»Es wäre eigentlich gut, wenn wir diese Salbe vorrätig hätten«, murmelte Se Laf nachdenklich. »Ich werde mich morgen darum kümmern.«
Ob absichtlich oder nicht, als sie den Zettel zurück zwischen die Schriftrollen packen wollte, fielen einige von ihnen aus dem Fach heraus und offenbarten, was sich dahinter befand. So erfuhr Rin Verran, wie groß die Kiste mit dem Wasser der Wahrheit war und wie groß demnach das Glasfläschchen darin ungefähr sein musste.
Am nächsten Tag tauchte Ghan Leddan persönlich in der Bibliothek auf. »Immer noch nichts?«, fragte er.
Rin Verran schüttelte den Kopf und hielt seine Wut strikt unter Kontrolle. Mittlerweile war er schon geübt darin.
»Das ist sehr enttäuschend«, sagte Ghan Leddan. »Vielleicht hilft dir das.« Er stellte direkt vor Rin Verran etwas auf den Tisch. Es war eine kleine, weiße Porzellanflasche, die mit einem Korken verschlossen war.
Rin Verrans Augen weiteten sich vor Überraschung, als er sie erkannte. Er wusste, dass sich darin Medizin befand, die gegen Entzündungen half, denn er hatte sie persönlich auf Rin Raelins Wunde aufgetragen, als er von Dia Nemesis beim Waldlager verletzt worden war. Ungläubig sah er Ghan Leddan an.
»Du warst das!«
Der andere Mann nickte zustimmend.
»Warum?«
»Ich bin kein Monster«, antwortete Ghan Leddan. »Als Dia Nemesis mir mitgeteilt hat, dass sie deinen Halbbruder schwer verletzt hat, konnte ich doch nicht zulassen, dass er stirbt.«
»Raelin und ich sind uns ziemlich ähnlich.« Rin Verran kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Sicher, dass du das nicht getan hast, weil du dachtest, es hätte mich erwischt?«
»Das darfst du entscheiden. Aber denk daran, dass wir dir noch zu anderen Zeitpunkten geholfen haben. Wer hat dir aus der Gefangenschaft in der Dul-Gilde geholfen und wer hat dir denjenigen offenbart, der bei deinem ersten Zatos für deinen gebrochenen Arm verantwortlich war?« Ghan Leddan nahm die Porzellanflasche weg und verschwand wieder.
Sollte ich dankbar dafür sein?
Rin Verran warf Se Laf einen flüchtigen Blick zu, die jedoch nicht erkennen ließ, wie sie dazu stand. Er kam nicht umhin zu denken, dass diese Frau in Trauerkleidung nicht mehr so fest und entschlossen hinter den Drachenklauen stand wie sie die anderen vielleicht glauben ließ. Werde ich sie töten können, wenn es so weit ist? Er war sich nicht mehr sicher. Er war sich überhaupt nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen, wo jeder seine eigenen Ziele zu haben schien. Das einzige, was sie verband, war der Hass auf die Gilden und das Verlangen nach Rache.
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