Epilog
Die Sonne ging auf und die Sonne ging unter. Viele Male. Der Herbst brach endgültig herein, mitsamt seinem eisigen Wind, seinem strömendem Regen und seinen bunten Blättern, mit denen die Bäume sich schmückten. Dazu gehörten auch die Apfelbäume des Rotapfel-Bergs.
An seinem Fuß lag eine kleine Farm, in deren Wohnhaus eine Frau vor dem flackernden Herdfeuer saß. Sie musste etwa vierzig Jahre alt sein, eher etwas älter. In ihre Haut gruben sich die ersten Falten und in ihren schwarzen Haaren, die sie zu einem Dutt hochgesteckt hatte, waren schon weiße Strähnen zu sehen. Sie starrte in die sich bewegenden Flammen und wandte ihren Blick erst davon ab, als die Gestalt, die auf der einfachen Holzliege neben der Tür lag, sich stöhnend aufrichtete.
»Deine Wunde?«, fragte die Frau barsch und blickte wieder ins Feuer.
»Sie heilt«, antwortete der Mann, der sich nun etwas ungelenk von der Liege erhob. Mit einem Arm musste er sich an der Wand abstützen. Der andere war von einem dicken Verband umwickelt, genauso wie seine Brust, auf der rote und braune Flecken den weißen Stoff verunstalteten.
»Nicht schnell genug«, sagte die Frau. »Ich möchte dich nicht in diesem Haus haben.«
»Und doch hast du mir geholfen, als ich schwer verletzt an deine Tür geklopft habe.«
»Du bist zwar mein Sohn, aber das heißt nicht, dass ich dir alles vergeben kann.«
Der Mann verzog wütend sein Gesicht. »Du hast Virak immer mehr geliebt als mich.«
»Er war für mich da und hat sich um mich gekümmert, als meine Beine gebrochen waren und ich Hilfe brauchte«, antwortete die Frau. »Er ist zum Schüler von Meister Jhe geworden, was nur wenigen zuteil worden ist. Er war in allen Aspekten besser als du und du hast ihn getötet.«
»Er ist arrogant geworden.«
»Und du bist nicht arrogant, dass du mich verlassen hast, weil du meintest, ich hätte deine Hilfe und Fürsorge nicht verdient? Nachdem du in die Gämsen-Pagode gegangen bist, habe ich dich nie wieder gesehen. Habe nur von Leddan gehört, dass du dich zum Krähen-Palast geschlichen hast, um der Leibwächter des Gilden-Anführers zu sein.«
»Ghan Leddan«, spuckte der Mann aus, während seine gesunde Hand langsam unter die Liege wanderte, wo die scharfe Klinge eines Schwertes aufblitzte. »Dieser Verräter. Wie konntest du bloß mit ihm in ein Bett steigen!«
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass er nicht dein Vater ist!«
»Wer ist es dann?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe es vergessen. Ich...« Die Frau vergrub die Hände in ihren Haaren, die sich deswegen teilweise aus dem Dutt lösten. Ihre Züge verzogen sich zu einer Grimasse. »Ich habe es vergessen. Ich weiß nichts mehr. Nichts!«
»Wie kann man alles vergessen, was geschehen ist, bevor du in diese Hütte gekommen bist?« Der Mann packte das Schwert fester und begann, sich mit schleifenden Schritten auf die Frau zu zu bewegen, die sich immer noch den Kopf hielt und ins Feuer starrte. »Denkst du, Ghan Leddan hat sich einfach so für dich interessiert? Ohne einen Grund? Wirklich? Der Bruder von Ghan Kedron kommt regelmäßig hierher, um eine alte Hure wie dich mit Essen zu versorgen?«
»So kannst du nicht mit deiner Mutter...« Der Rest des Satzes ging in einem erstickten Schrei unter, als der Mann sein Schwert mit voller Kraft in den Rücken der Frau stieß. Die Klinge durchstach die Lehne des Sessels, bohrte sich durch ihren Körper und trat an der Brust wieder heraus. Ihre Hände umklammerten noch für wenige Augenblicke ihren Kopf, bevor sie schlaff herunterfielen.
Die dunklen Augen des Mannes betrachteten die Tote voller Abscheu. Quälend langsam zog er das Schwert wieder heraus, das jetzt anscheinend doch zu schwer für ihn war. Stöhnend hielt er sich den Arm, auf dessen Verband sich langsam ein roter Fleck ausbreitete. Trotzdem schleppte er sich nicht zurück zur Liege, sondern ging zur Tür, die nach draußen in die kalte Herbstnacht führte. Sein Schatten verschwand in der Dunkelheit und das Schleifen der Schwertspitze auf dem Boden verklang kurz danach.
Weit im Osten kamen am selben Tag, nur ein paar Stunden später, zwei Reiter in einer Stadt namens Kadesch an. Beide trugen dicke Pelzmäntel, um sich vor dem kalten Herbstwind zu schützen, aber darunter schaute weißer Stoff hervor, auf den violette Blüten aufgestickt waren. Die junge Frau war die erste, die abstieg. Ihre schwarzen Haare wehten ihr kurz ins Gesicht, konnten ihre vor Aufregung und gleichzeitig Angst leuchtenden Augen aber nicht verbergen.
»Das ist es«, sagte der junge Mann, der nun ebenfalls abgestiegen war und deutete zu einem Haus, dessen Fenster größtenteils mit schwarzen Vorhängen zugezogen waren. Nur in den untersten Stock konnte man hinein sehen. Als die Tür sich kurz öffnete und einen betrunkenen Mann ausspuckte, der nach ein paar Schritten gleich in den Dreck fiel, ertönte lautes Gelächter und wilde Musik.
Die beiden Reiter banden ihre Pferde an einem Pfosten zwischen mehreren anderen Tieren an und gingen auf die Tür zu. Doch bevor sie das Haus betreten konnten, zögerte die junge Frau und blieb stehen.
»Worauf wartest du?«, fragte der Mann sie. »Ich habe dir versprochen, dich hierher zu bringen, wenn alles vorbei ist. Jetzt bist du hier und möchtest den letzten Schritt nicht tun!«
Die junge Frau presste die Lippen zusammen, ballte die Fäuste und schritt nun doch entschlossen voran. Sie öffnete selbst die Tür und ging ohne sich umzusehen geradeaus. Dann blieb sie jedoch erneut stehen. Anscheinend hatte sie erwartet, eine Art Theke zu sehen, wie in Wirts- oder Gasthäusern, wo man sein Anliegen vortragen konnte, aber die gab es hier nicht. Hilfesuchend schaute sie nach hinten zu ihrem Begleiter, der seine Kapuze aufgesetzt hatte und jetzt neben ihr stehen blieb.
»Nicht der beste Ort«, meinte er.
Um die zwei Reiter herum herrschte eine viel zu aufgeheizte Atmosphäre. Hände wanderten dorthin, wo sie eigentlich nicht sein sollten, bevor sie gepackt und deren Besitzer die Treppe hoch in ein anderes Stockwerk gezogen wurde. Geld, teilweise sehr viel Geld, wechselte den Besitzer. Der Geruch von Alkohol, Schweiß und anderen Sachen hing in der Luft, bei denen die junge Frau sich am liebsten die Nase zugehalten hätte.
Doch auf einmal tauchte eine alte Frau wie aus dem Nichts vor ihnen auf. Ihr Oberkörper war mit einem Korsett so fest zusammengeschnürt, dass ihre Brüste fast herausfielen. Die Haare waren zu einer gefährlich hohen Frisur aufgetürmt, aber sie hielt den Kopf so gerade, dass sie nicht schwankte. Als sie lächelte, blitzten zwei goldene Eckzähne zwischen ihren knallroten Lippen auf.
»Neue Gesichter, wie ich sehe.« Ihre Stimme klang wie die einer alten Katze. »Sagt mir, nach was es euch verlangt, und ich bringe es euch. Bei der Qualität kommt es natürlich auf das Gewicht eurer Geldbeutel an.«
»Wir sind nicht hier, um uns zu vergnügen«, entgegnete der junge Mann scharf. »Wir suchen die Prostituierte namens Yingxuan.«
Das Lächeln der alten Frau erlosch nicht, aber sie wirkte trotzdem überrascht. »Yingxuan hat gerade einen Kunden. Außerdem entspricht sie nicht der Qualität, nach der Ihr vielleicht sucht, junger Mann.« Mit einem krummen Finger deutete sie auf den weißen Stoff, der unter dem Pelzmantel hervorschaute. »Ein Anhänger der Jhe-Gilde verdient Besseres.«
»Der Anführer der Jhe-Gilde erst recht«, meinte der Mann und mit einem Mal wich das Lächeln der Frau einem schmalen, roten Strich.
»Was wollt Ihr?« Alle Freundlichkeit war aus ihrer Stimme gewichen.
»Uns ist das Gerücht zu Ohren gekommen, dass Yingxuan vor etwa fünf Jahren einen Sohn geboren hat, dessen Vater angeblich Mahr Xero, der Weiße Tiger, ist.«
»So?« Die alte Frau hob fragend die Augenbraue. »Ich kann Euch nur sagen, dass Ihr da ganz richtig gehört habt. Der kleine Übeltäter hat seinem Zuhause schon so einige Schwierigkeiten bereitet.«
»Da dies nicht der beste Ort für ein Kind ist, würden wir ihn gerne mitnehmen.«
»Mitnehmen?« Die Augenbrauen der Frau hoben sich noch weiter an. »Das ist natürlich...« Sie brach ihren Satz ab, als sie den prall gefüllten Geldbeutel sah, der auf einmal in der Hand des jungen Mannes ruhte. Ihre Lippen verformten sich zu einem Lächeln. »Kein Problem.« Blitzschnell schnappte sie sich das Geld und winkte dann einen bulligen Mann herbei. »Bring Lifeng her.«
Der Mann verschwand eine der Treppen hoch und kam wenig später mit einem Jungen wieder, den er vor sich her trieb. Sobald der Junge bei der alten Frau war, packte sie ihn an den Schultern und stieß ihn zu den beiden Besuchern. Die junge Frau fing ihn auf, bevor er hinfallen konnte.
»Begrüße deine neue Familie«, schnarrte die Alte und wedelte mit den Händen. »Habe ich dich endlich los. Jetzt verschwindet!«
»Aber Mama!«, rief der Junge und sah sehnsüchtig die Treppe hoch. Seine Augen waren gerötet und er war kurz davor zu weinen. »Kommt Mama nicht mit?«
»Lifeng?« Die junge Frau war sich unsicher, ob sie den Namen richtig gehört hatte, aber der Junge drehte sich dennoch zu ihr um. »Ich bin Seyla und das ist mein Bruder Zaushi. Wir werden uns gut um dich kümmern, ja? Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Aber kommt Mama nicht mit?«
Jhe Seyla sah hilfesuchend zu ihrem Bruder, der sich nun ebenfalls zu Lifeng hinunter beugte, doch als er sprach, war seine Stimme nicht weich, sondern hart. »Deine Mama wollte dich verkaufen, weil du ihr lästig warst. Vielleicht hätte sie dich auch einfach auf die Straße geschmissen. Du solltest froh sein, dass wir dich von hier wegbringen.«
»Mama hätte das nie gemacht!«, rief Lifeng und fing an zu weinen.
»Das hättest du nicht sagen müssen«, sagte Jhe Seyla und drückte den Jungen eng an sich, um ihn zu trösten. Dann nahm sie ihn auf die Arme, stand auf und folgte ihrem Bruder hinaus in die kalte Herbstluft. »Aber er sieht genauso aus, Zaushi«, flüsterte sie. »Genauso wie er.«
»Ich weiß«, antwortete ihr Bruder. »Ich weiß.«
Der Herbst verging wie im Fluge und als der Winter einbrach, lähmend kalt, machten alle Bauern sich daran, ihre Vorräte vernünftig zu verstauen und genug Holz zu sammeln, um das Herdfeuer am Brennen zu halten. Eis zog sich über den Fernen Strom oder den Knochenbrecher oder wie er noch von den anderen Gilden genannt wurde und schwere, weiße Wolken voller Schnee zogen über die Wiesen und Wälder dahin.
An einem solchen Tag – der Schneefall hatte für eine kurze Zeit nachgelassen –, kämpfte eine einsame Gestalt sich durch eine kniehohe Schneedecke in Richtung eines kleinen Dorfes. Sie zog ein weißes Pferd hinter sich her, das fast mit der Landschaft um sich herum verschmolz. Bei jedem zweiten Schritt stieß sie einen leisen Fluch aus und nach vielleicht hundert weiteren solcher Flüche erreichte sie endlich den Eingang des Dorfes. Der Schnee hier war wenigstens teilweise niedergetrampelt, sodass sie endlich schneller vorankam. Suchend blickte sie sich um, während sie die Hauptstraße entlang ging. Schließlich seufzte sie frustriert und fluchte erneut.
»Etwas leiser bitte!«, erklang es aus dem Haus, das der Gestalt am nächsten war. Ein Fenster öffnete sich und schob den Schnee auf der Fensterbank zur Seite, der dumpf zu Boden fiel. Eine Frau kam zum Vorschein, die einen Säugling in den Armen hielt und ihn sanft hin und her wiegte. Misstrauisch sah sie die Gestalt an, die sich vollständig in einen langen Mantel mit Kapuze eingehüllt hatte. An den schwarzen Stiefeln hingen immer noch schmutzige Schneeklumpen. »Wer seid Ihr?«
»Ich suche die Familie Sun.«
Die Mutter mit dem Säugling runzelte die Stirn. »Du bist eine Frau? Hör mal zu, Fräulein, du kannst nicht einfach in jedes beliebige Dorf kommen, so laut fluchen, dass der Schnee von den Bäumen fällt, und dann ohne irgendeine Erklärung nach Leuten fragen!«
»Es geht um Sun Shimei«, antwortete die Frau und schlug ihre Kapuze zurück. Zum Vorschein kamen kurze, schwarze Haare, die ein eckiges Gesicht umrahmten, das eher einem Mann als einer Frau ähnlich sah. »Er ist tot und seine Familie weiß noch nichts davon.«
Die Mutter verstummte. »Das tut mir leid.« Sie deutete weiter die Straße runter. »Es ist das vorletzte Haus links. Über der Tür hängt ein Hufeisen.«
Die andere Frau nickte ihr dankbar zu und setzte sich wieder in Bewegung. Das Pferd trottete mit wippendem Kopf hinter ihr her. Als sie am vorletzten Haus ankam, ließ sie es einfach stehen, ging die zwei klapprigen Stufen hoch und klopfte mit dem Fingerknöchel an die Tür. Erst regte sich nichts, aber dann ertönten Schritte und ein Mann öffnete ihr. Als er sie sah, drückte er sie jedoch so weit wieder zu, dass nur ein Spalt offen blieb.
»Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«, fragte er.
»Sarik, wer ist das?«, rief eine Frauenstimme aus den Tiefen des Hauses.
»Das versuche ich gerade herauszufinden, Mutter!«, schrie der Mann zurück und wandte sich wieder an die seltsame Fremde. »Also?«
»Mein Name ist Kar Moora«, sagte diese. »Ich habe... Ich war eine Freundin... Bekannte von Sun Shimei.«
»Du warst...« Die Worte des Mannes liefen ins Leere. Fassungslos starrte er sie an, während die Frau aus dem Haus wieder etwas rief. Kurz darauf wurde die Tür weiter aufgezogen und ein anderer Mann, vielleicht etwas jünger, erschien. Begleitet von seiner Mutter, die mit leicht gekrümmtem Rücken ebenfalls herankam.
»Wer ist das, Sarik?«, fragte sie mit einem Blick auf die Fremde vor der Tür. »Sie sieht nicht aus wie eine Bettlerin.«
»Sie hat gesagt...« Sun Sarik verstummte erneut, atmete tief durch und wollte noch etwas sagen, aber da traten Tränen in seine Augen und er wandte sich ab. Die Bäuerin sah ihn verständnislos an, bevor ihr Blick auf die Fremde fiel, die schnell den Kopf wegdrehte und ebenfalls feine Wassertropfen weg blinzelte.
»Shimei?« Die Bäuerin griff sich ans Herz und stolperte einen Schritt zurück, bevor sie von ihrem jüngeren Sohn in die Arme genommen wurde. Ein langgezogener Klagelaut entkam ihrer Kehle. »Mein Shimei! Nein! Nein!«
»Es tut mir leid«, presste Kar Moora hervor und biss sich auf die Lippen.
»Du warst dabei, oder?«, fragte der ältere Sohn, Sun Sarik. »Du hast mit ihm gekämpft. Warum hast du ihn nicht gerettet?«
»Ich...« Kar Moora senkte den Kopf und schwieg.
»Sei nicht so fies zu ihr!«, fuhr der jüngere Sohn seinen Bruder an. »Sie kann doch nichts dafür!«
»Aber schau, was sie Mutter angetan hat!«
Die alte Bäuerin zitterte unter Krämpfen, während Tränen ununterbrochen über ihre Wangen flossen. Dennoch schaffte sie es irgendwie, sich wieder aufzurichten, und winkte Kar Moora zu sich. »Komm ins Haus, meine Tochter. Draußen ist es kalt. Schließ die Tür, Sarik. Wirf mehr Holz ins Feuer, Shafo. Unser Gast soll nicht frieren.«
Zögerlich betrat Kar Moora das Haus, nachdem sie sich den Schnee von den Stiefeln und dem Mantel geklopft hatte, und folgte der Bäuerin einen kurzen Flur entlang in einen Raum, der wohl die Küche war. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl, den Sun Sarik ihr anbot. Er forderte sie auch dazu auf, ihren Mantel abzulegen, aber als darunter eine feste Lederrüstung und ein Kurzschwert zum Vorschein kamen, zuckte er kurz zusammen. Unsicher sah er zu seiner Mutter, die sich auf der anderen Seite des Tisches hingesetzt hatte, sich daran aber nicht zu stören schien. Mit zitternden Händen wischte sie sich die letzten Tränen weg, doch der Schmerz blieb weiterhin in ihren Augen.
»Mutter, sie hat ein Schwert«, sagte Sun Sarik schließlich.
»Richtig.« Frau Sun nickte bedächtig. »Zu einer Kriegerin gehört ein Schwert.« Sie wandte sich an Kar Moora. »Wie ist er gestorben?«
Kar Moora presste die Lippen zusammen und sah weg. Vorsichtig löste sie das Schwert von ihrem Gürtel und legte es auf den Tisch. »Ich habe seinen Mörder mit dieser Waffe getötet«, sagte sie. Ihre Stimme war hart wie Stein. »Nordwind. Ich habe es ihm geschenkt, aber er hatte es nicht bei sich, als es passiert ist. Jetzt gehört es Euch.«
»Nein«, sagte Frau Sun, strich aber trotzdem mit den Fingern über den kunstvoll verzierten Knauf. »Es gehört immer noch ihm. Aber wir werden es aufbewahren.« Sie lächelte traurig.
»Danke«, antwortete Kar Moora und wollte sich schon von ihrem Stuhl erheben, um zu gehen, als Sun Shafo eine Schüssel Suppe vor ihr abstellte.
»Du möchtest schon gehen?«, fragte Frau Sun. »Du hast uns noch gar nichts erzählt.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier willkommen bin«, gab Kar Moora zu und starrte ratlos in die Suppe. »Ich wäre weitergezogen.«
»Um was zu tun?«
Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. »Um das zu tun, was Shimei immer tun wollte. Den Unschuldigen auf allen Territorien helfen.«
Frau Sun sah sie mit warmen, blauen Augen an. »Davon hat er immer geträumt. Wir wollen dich nicht aufhalten, aber bleib doch wenigstens über Nacht.«
»Über Nacht?« Kar Moora nickte langsam. »Ja, über Nacht kann ich bleiben.«
Als der Frühling anbrach, gab es erste Berichte einer tapferen Reiterin auf einem weißen Pferd, die Räuber von den Handelsstraßen vertrieb, Verbrechern ihre gerechte Strafe zuteil werden ließ und Kinder, die sich im Wald oder in den Bergen verirrt hatten, zurück zu ihren Familien brachte. Einige behaupteten auch, sie wäre ein Mann, wohingegen andere meinten, sie wäre ein neuer Geist, der seine Gestalt sowieso beliebig verändern konnte. Aber alle waren sich einig, dass sie die heimliche Heldin der einfachen Leute war. Man nannte sie nur den Weißen Geist.
Etwa zur gleichen Zeit brach das erste Jahr seit dem Krieg an, in dem die Fünfzehnjährigen wieder in die Gämsen-Pagode kamen, um ihren Meister zu wählen. Während die Kinder der verschiedensten Gilden nacheinander eintrudelten und sich auf dem zerwühlten und zerstampften Platz vor der Steinplattform einfanden, wo die Löcher im Boden immer noch von den Zelten der Kriegern der Sonne zeugten, standen die vier Meister der Val-Gilde im dritten Stock der Gämsen-Pagode und beobachteten aufmerksam das Geschehen weiter unten.
»Eine lange Zeit ist vergangen«, sagte der älteste der Anwesenden in die Stille hinein und strich sich über den weißen Bart. »Ob es jemals wieder so sein wird wie früher?«
»Wird es nicht«, antwortete die einzige Frau und zupfte sich die langen Ärmel ihres Gewandes zurecht. Sie hatte es selbst für ihre Bedürfnisse zurecht nähen müssen, damit der Kragen auch ihren Hals verdeckte. Die Handschuhe waren aus schwarzem Leder, das nur mäßig zu dem grünen Stoff passte, aber das kümmerte sie nicht. »Und das sollte es auch nicht sein. Die Drachenklauen, der Krieg und seine Folgen dürfen nicht vergessen werden.«
»Deswegen sind viele Gelehrte bereits dabei, die Ereignisse niederzuschreiben«, warf ein Mann ein, der etwas abseits stand.
»Die Geschichte wird vom Sieger geschrieben, Fah Zaromo«, sagte der letzte der vier Meister mit finster zusammengezogenen Augenbrauen. »Das gleiche ist nach der Auslöschung der Mehn-Gilde passiert.«
»Dieses Mal wird es nicht passieren«, versicherte Fah Zaromo ihm. »Gilden-Anführer Ghan persönlich kümmert sich darum.«
»Ich habe gehört, er wird bald heiraten«, meinte die Frau. »Diese Heilerin von den Kriegern der Sonne. Vi Raya.«
»Bald ist relativ.« Fah Zaromo wiegte den Kopf hin und her. »Er hat erst vor, den neuen Wohnsitz der Ghan-Gilde bauen zu lassen. Das dürfte erstmal eine ganze Weile dauern. Er kann ja nicht ewig bei der Han-Gilde im Lerchen-Schloss unterkommen.«
»In der Tat.« Die Meisterin strich endlich die Ärmel ihres Gewandes glatt und hörte auf, daran zu zupfen. »Ghan Shedor und sein Sohn auch nicht. Wenigstens hatten sie noch genug Anstand, um die Asche des Krähen-Palastes nicht anzurühren und sich einen anderen Ort für den neuen Wohnsitz zu suchen.«
»Wir sollten runtergehen«, sagte der älteste Meister. »Es sind alle angekommen.«
Die Blicke der anderen drei richteten sich auf die Kinder, die sich unten versammelt hatten. Nacheinander verließen sie den Raum, um die Treppe runterzusteigen. Zuletzt blieb der Mann, dessen Augen sich in den Schatten seiner zusammengezogenen Brauen verbargen. »Vielleicht sollte ich nie wieder einen Schüler annehmen«, murmelte er leise, bevor auch er sich abwandte.
Auf der anderen Seite des Windlilien-Hangs, mitten in der Feuerkorn-Steppe, beobachtete ein Mann in schwarzer Kleidung, an deren Säumen gelbe Flammen aufgestickt waren, ein kleines Mädchen beim Spielen mit einem Jungen in etwa demselben Alter. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, doch es verschwand, als eine Frau mit einem Säugling auf den Armen durch die hohen, gelben Gräser auf ihn zu kam.
»D-Du möchtest w-wirklich, d-d-dass ich gehe?«, fragte sie, als sie bei ihm angekommen war, und schaute zu den spielenden Kindern. »D-Dabei spielen sie s-s-so schön.«
»Ich möchte dir keine Hoffnung machen, wo keine ist«, antwortete der Mann hart. »Und du hast mir mehr als ein Mal zu verstehen gegeben, dass du gewisse Hoffnungen hast. Es geht aber nicht. Deswegen schicke ich dich weg. Geh zum Rothirsch-Turm. Das war doch früher auch dein Zuhause. Gilden-Anführer Wen wird dich aufnehmen. Ich habe ihm bereits geschrieben.«
»A-Aber ich stehe immer noch in d-deiner Schuld.«
»Du wirst noch genug Gelegenheiten bekommen, um sie zu begleichen«, erwiderte der Mann und schaute sie mit einem brennenden Blick an. »Wenn du das nicht schon getan hast. Die Monate, die du mit Dandelion hier warst, haben Reva wirklich glücklich gemacht. Und der Wiederaufbau des Phönix-Hofes geht ebenfalls schnell voran, weil du dabei geholfen hast, genügend Arbeiter zusammenzurufen.«
Die Frau senkte den Kopf und betrachtete ihre Schuhspitzen. »I-Ich verstehe. D-Danke f-f-für alles.« Sie wandte sich um und ging zu dem spielenden Jungen, dem sie etwas zuflüsterte und eine Hand hinhielt.
»Aber ich will noch nicht gehen!«, rief der Junge. »Reva und ich haben eine Wette am Laufen!«
»Schau b-beim nächsten M-Mal, w-wer gewonnen hat, j-ja?«, bat die Frau und lächelte schwach.
»Wir sehen uns ganz bestimmt nochmal!« Das Mädchen trat zu dem Jungen und umarmte ihn etwas ungelenk. »Gute Reise zum Rothirsch-Turm!«
Nach einem kurzen Zögern nahm der Junge doch noch die Hand seiner Mutter und folgte ihr einen unsichtbaren Pfad durch die Feuerkorn-Steppe entlang in Richtung riesiger Holzgerüste. Lautes Hämmern, Sägen und Krachen war zu hören. Als sie gegangen waren, setzte der schwarz gekleidete Mann sich ein Stück auf.
»Reva«, rief er und das Mädchen drehte sich mit leuchtenden Augen zu ihm um.
»Ja, Onkel?«
»Du hast ja gar keine Angst mehr, dass er dich alleine lässt.«
Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und umfasste mit der Hand den Anhänger der Kette, die ihr um den Hals hing. »Ich weiß ja, dass er wiederkommt. Er hat es versprochen.«
Der Mann nickte und warf sich dann auf einmal nach hinten ins Gras. Mit der Hand klopfte er auf den freien Platz neben sich. »Komm, leg dich auch hin. Der Himmel ist heute besonders schön und die Wolken erzählen spannende Geschichten.«
Das Mädchen krabbelte zu ihm und folgte seinem Blick. Mit dem Finger zeigte sie auf eine der weißen Wolken. »Schau! Die sieht aus wie ein Phönix! Wie du, Onkel!«
»Ich bin kein Phönix mehr«, sagte der Mann. »Ich bin zwar verbrannt, aber aus der Asche ist jemand anderes wieder auferstanden.«
»Und wer?«
Der Mann schwieg eine Weile. Als er sich zu dem Mädchen umdrehte, um ihr zu antworten, bemerkte er jedoch, dass sie eingeschlafen war. Mit einem leichten Lächeln zupfte er ihr einen Grashalm aus den hellbraunen Haaren und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel.
Als der Sommer einbrach, waren die Bauern in der Feuerkorn-Steppe schwer damit beschäftigt, genügend Wasser für ihre Felder und ihr Vieh aufzutreiben. Unter ihnen war auch ein untersetzter Mann, der sich mit zwei vollen Eimern vom Brunnen bis zu der Hütte schleppte, auf deren Veranda bereits eine Frau auf ihn wartete. In beiden Armen hielt sie jeweils einen Säugling und als sie ihn sah, stand sie sofort auf, um ihm entgegen zu kommen. Der Mann stellte beide Eimer auf den Boden und breitete die Arme aus, um ihr eines der Kinder abzunehmen. Seine Augen leuchteten voller Liebe und er sagte nichts, während er seine Ehefrau küsste.
Der Sommer neigte sich schon dem Ende zu, als ein einsamer Reiter auf einem hellgrauen Pferd das Südufer des Fernen Stroms entlang trabte. Ein grüner Umhang wehte hinter ihm her und wurde bei jedem Windzug fast mitgerissen. An seinem Gürtel hingen zwei Schwerter, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Am Kniff des einen funkelte ein grüner Smaragd, während der Griff des anderen, das viel größer und klobiger war, mit rotem Leder umwickelt war.
Zum Abend hin kam er an einer Ruine vorbei. Efeu- und moosbewachsene Steine ragten vor ihm auf. Über einigen lag der Schatten von Ruß, doch das meiste war über die Jahre vom Regen weggewaschen worden. Als die Sonne den Horizont küsste, erleuchteten ihre letzten Strahlen die Trümmer dessen, was früher wohl eine Ansammlung von Häusern gewesen war. Eine ganze Weile betrachtete der Reiter von seinem Pferd aus die alten Ruinen, bevor er das hellgraue Tier am Fluss weitertrieb.
Mehrere Tage später hatte er den Fernen Strom sicher überquert und war am Ufer des Stillwasser-Sees angekommen. Behände stieg er von dem Pferd ab, strich ihm kurz über die Nüstern und näherte sich dann dem größten der Gebäude, die vor ihm lagen. Einige Diener in dunkelblauen Gewändern eilten über den Innenhof und warfen ihm teils erschrockene und teils erstaunte Blicke zu, doch er ignorierte sie. Stattdessen legte er dem Pferd die Zügel über den Hals, das auch sofort anfing zu grasen, und ging auf das Tor des Forellen-Pavillons zu. Es öffnete sich, bevor er nah genug war, um anzuklopfen. Heraus kam eine Frau, deren blonde Haare mit einem grünen Stoffband zu einem Zopf gebunden waren. Eine Weile sahen sie sich stumm an.
»Du bist gekommen«, sagte die Frau schließlich.
Der Mann nickte. »Ein Jahr ist vergangen. Ich konnte die Motte nicht finden. Sie muss irgendwo hin geflohen sein, wo...« Er unterbrach sich, als hinter der Frau die kleine Gestalt eines Mädchens auftauchte, das ihn neugierig musterte. Sein Gesicht hellte sich auf und er hockte sich hin, die Arme unsicher ausgebreitet. »Kahna.«
Das Mädchen schaute zögerlich zu der Frau hoch, die ihr lächelnd zunickte.
Der Mann sog scharf die Luft ein und blinzelte die Tränen weg, als er seine Tochter nach all den Jahren wieder in den Armen hielt. Sie sprach zwar kein Wort, aber allein schon ihr schüchternes Lächeln und ihre kleinen Hände ließen sein Herz schmelzen. Vorsichtig nahm er sie hoch und blickte dann zu der Frau.
»Danke, dass du dich um sie gekümmert hast.«
Die Frau nickte und erwiderte seinen Blick. Langsam trat sie auf ihn zu, woraufhin er das Mädchen auf dem Boden absetzte, das sofort zurück ins Innere des Gebäudes lief.
»Ich habe dich vermisst, Verran«, flüsterte die Frau, bevor sie sich vorbeugte und ihn küsste.
Weit im Norden, jenseits der Territorien der Gilden, wo sich das kahle Land Ubrias erstreckte, kam es im frühen Herbst dazu, dass drei junge Männer sich an einer Wegkreuzung trafen und beschlossen, die Nacht zusammen zu überdauern, bis sie am nächsten Morgen ihre Reise alleine fortsetzten.
»Wohin seid ihr unterwegs?«, fragte einer der Männer, während er zwei Steine aneinander schlug, bis ein Funke entstand, der das zusammengelegte, trockene Gras in Brand setzte.
»Norden«, antwortete ein anderer. »Hab gehört, dass dort vor Kurzem eine neue Goldader entdeckt wurde.«
Der dritte Mann sah ihn überrascht an. »Bist du kein Krieger?«
»Doch. Aber die brauchen bestimmt jemanden, der die Wagen bewacht, mit denen das Gold abtransportiert wird.«
Die anderen zwei nickten zustimmend.
»Und wohin geht eure Reise?«
»Nach Südosten, zu Chevelam Dunkeltöter«, sagte derjenige, der das Feuer entfacht hatte. »Ich möchte mich seinem Heer anschließen.«
»Ich habe gehört, dass er mittlerweile über tausend Mann um sich versammelt hat.«
»Ja, er...« Der Mann hielt inne, als plötzlich Schritte ganz in der Nähe ertönten. Er griff sofort nach seiner Waffe, zog sie jedoch nicht, als eine vollkommen schwarz gekleidete Gestalt in den Lichtschein des Feuers trat. Zwar verdeckte ein Schleier ihr Gesicht, aber an den Rundungen ihres Körpers konnten die Männer natürlich trotzdem erkennen, dass es eine Frau war.
»Wo ist dein Ehemann, Fremde?«, fragte der, der sich zuvor unterbrochen hatte, zuerst. »Es ist gefährlich, nachts alleine über die Straßen zu wandern. Hier ist allerlei Gesindel unterwegs.«
»Gesindel«, wiederholte die Frau mit einem seltsamen Akzent, den die Männer noch nie gehört hatten. »Was bedeutet das?«
»Schlechte Menschen«, erklärte einer der Männer. »Wo kommst du her?«
»Ist dieser Chevelam Dunkeltöter jemand, der Gesindel auf ihren richtigen Platz stellt?«, wollte die Frau wissen und ignorierte die Frage vollkommen.
»Auf jeden Fall, aber...«
»Danke.«
»He!«
Die Frau hatte sich bereits zum Gehen gewandt, drehte sich aber nochmal um, als einer der Männer ihr hinterher rief.
»Es ist wirklich gefährlich, alleine unterwegs zu sein. Du könntest die Nacht über bei uns bleiben. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden dir nichts tun.«
Die Frau schwieg eine Weile, bevor sie mit ihren behandschuhten Händen an einen Beutel an ihrem Gürtel griff und ein kleines Glasfläschchen herausholte. Mit spitzen Fingern hielt sie es den Männern hin. »Als Dank für eure Hilfe«, sagte sie. »Wenn ihr die Flüssigkeit ins Feuer schüttet, wird es die ganze Nacht über brennen und niemand muss wach bleiben, um neues Gras reinzuwerfen.«
Etwas verwirrt nahm einer der Männer das Glasfläschchen entgegen und betrachtete die leicht ölige Flüssigkeit, die darin umher schwappte. »Danke natürlich, aber...« Er verstummte. Als er den Kopf hob, war die seltsame Frau bereits verschwunden.
»Was soll's«, sagte einer der anderen schulterzuckend. »Wirf es rein. Vielleicht stimmt ja, was sie gesagt hat.«
Ohne nachzudenken schleuderte der Mann das Glasfläschchen ins Feuer. Sofort schoss fauchend eine heiße Stichflamme in den Nachthimmel. Alle drei Männer sprangen schreiend auf und stolperten laut fluchend und schimpfend nach hinten.
»Was beim verschissenen Tahee!«, brüllte einer von ihnen und starrte ungläubig auf seine verbrannte Hand.
»Verdammte Scheiße!« Der zweite stürzte zu seinem Reisebeutel, der nun vollkommen verkohlt war. »Verfluchte Scheiße!«
»Was war das denn für eine Hexe?«
»Was weiß ich!« Der Mann schüttelte seine verbrannte Hand, auf der sich bereits Blasen bildeten, und sog vor Schmerzen scharf die Luft ein. »Wir werden sie sowieso nicht einholen können. Nicht in dieser Dunkelheit. Die ist ja vollkommen schwarz gekleidet!«
»Bestimmt kommt die nicht von hier.«
»Garantiert nicht.«
Stille.
»Wir sollten einem der Kriegsherren Bescheid sagen.«
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