Kapitel 27
Wir erreichten den Flughafen mitten in der Nacht. In meinen Augen war es ohnehin ein Wunder, dass wir so schnell zurück in die Zivilisation gefunden hatten, aber Ross schien nicht lange daran gezweifelt zu haben.
Für diese nächtliche Uhrzeit herrschte noch reges Treiben im Inneren der riesigen Flughafenhallen. Bisher war ich noch nicht oft geflogen und wenn es nach mir ginge, würden wir auch jetzt nicht fliegen.
„Einfach der nächste Flug auf eine Insel?“, vergewisserte ich mich, schaute Ross dabei fragend an und ging die Abflugliste durch. Ich war noch immer nicht ganz davon überzeugt, das Land zu verlassen, aber wahrscheinlich war es das richtige.
Das Einzige, was mir im Weg stand, war dieses „wahrscheinlich“. Wir wären damit so unglaublich weit von unseren Familien getrennt, und die Biester würden früher oder später ohnehin dort auftauchen, wo wir hingingen. Kein Ozean war groß genug, um sie davon abzuhalten. Außerdem konnten wir ja
wohl kaum ewig auf der Flucht bleiben. Irgendwann würden wir uns ihnen stellen müssen. Und wenn es das letzte wäre, was wir tun sollten. Was ich erschreckenderweise für gar nicht so unwahrscheinlich hielt.
Um den Gedanken abzuschütteln konzentrierte ich mich wieder auf die Flüge, die in nächster Zeit gehen würden. Kein einziger ging in die Nähe einer Insel. Dafür wurden vergleichsweise viele europäische Hauptstädte angeflogen, von denen aus wir sicher einen Anschlussflug erwischen konnten.
Der nächste Flug würde in etwa zwei Stunden nach Rom gehen. Das klang doch nach einem Plan. Von dort aus würde sicher ein Flug nach Sizilien gehen. Und selbst wenn vorerst keine Möglichkeit bestünde, auf eine Insel zu gelangen, hätten wir noch immer eine riesige Distanz zurückgelegt, die die dunklen Wesen erst mal überbrücken müssten.
„Schon etwas gefunden?“ Ross tänzelte neben mir unruhig hin und her. Regelmäßig sah er sich prüfend an, schien aber bislang nichts Auffälliges entdeckt zu haben. Sollten hier tatsächlich demnächst irgendwelchen dunklen Kreaturen hereinspazieren, würde Panik ausbrechen.
Nicht wirklich grundlos, in Anbetracht ihres bisherigen Auftretens. „Wir fliegen wohl nach Rom“, stellte ich zögernd fest. Noch einmal ging ich alle Möglichkeiten durch. Am liebsten wäre es mir, wenn ich endlich aus diesem vermaledeiten Traum erwachen würde, aber es war meiner Ansicht nach kein Traum.
Dafür war alles viel zu echt. „Rom ist aber keine Insel.“ „Da hat aber einer ganz besonders gut in Geographie aufgepasst“, lobte ich. Entgegen meiner Erwartung, kam kein blöder Spruch auf meine Stichelei, sondern nur ein schiefes Grinsen von Ross: „Du hast ja doch Humor.“
Prüfend sah ich ihn an. „Hast du etwa daran gezweifelt?“ Seine Mine wurde ernster: „Naja, du bist nicht der Typ Mensch, der viel Humor hat. Ich weiß zwar im Grunde so gut wie gar nichts über dich, aber soweit ich das beurteilen kann, hattest du nicht das schönste Leben.“
Ich schwieg einen Moment, konnte mich dann aber doch durchringen, ihm die Wahrheit zu erzählen: „Nein, mein Leben war nicht das schönste. Im Gegenteil. Ich würde es niemandem wünschen. Aber es ist geschehen und ich kann es nicht rückgängig machen, oder verändern. Das wirklich Tragische ist nur, dass ich jetzt hier bin. Nicht daheim, bei meiner Mutter oder Dawn, wo ich endlich gedacht hatte, ich hätte meinen Platz gefunden. Nein, stattdessen bin ich hier, mit dir.“
Er zog eine Augenbraue nach oben: „Was soll das denn jetzt heißen?“ Sein gespielt beleidigter Tonfall hätte mich fast zum Grinsen gebracht, aber es gab derzeit zu viele Sorgen, die mich davon abhielten.
„Wir sollten uns lieber darum kümmern, dieses Flugzeug lebendig zu erreichen.“ Energischen Schrittes machte ich mich auf den Weg, bis ich feststellte, dass ich eigentlich gar keine Ahnung hatte, wo ich hinmusste.
Aber jetzt wollte ich mir die Blöße auch nicht mehr geben und umdrehen. Also tat ich weiterhin so, als wüsste ich genau, wo ich gerade hinging. Glücklicherweise schien ich die richtige Richtung eingeschlagen zu haben, denn Ross folgte mir widerstandslos.
Schon bald ging er nicht mehr hinter mir her, sondern lief neben mir. Wir sahen uns nicht an und sprachen auch nicht, sondern suchten uns nebeneinander nur unseren Weg.
„Hast du genügend Bargeld, um uns die Flüge zu buchen?“, fragte ich schüchtern. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich sicher nicht für mich selbst zahlen würde können. Selbst wenn ich Geld dabei hätte, wäre es nie und nimmer genug, für einen Flug nach Europa.
Wenn er also nicht vorhatte, für mich einzubezahlen, wäre unsere gemeinsame Reise hier zu ende. Er zog eine Kreditkarte aus seiner Tasche und hielt sie mir hin. „Du gehst die Tickets kaufen, ich kümmere mich darum, dass niemand mich erkennt. Der Code ist 1538.“
Überrascht stellte ich fest, dass er mir wohl tatsächlich vertraute, immerhin hatte er mir gerade den Code für seine Kreditkarte gesagt. Ein wenig stolz lächelte ich stumm in mich hinein.
Gerade als er sich von mir entfernen wollte, hielt ich ihn am Handgelenk fest: „Was tun wir, wenn sie hier auftauchen?“ Ich brauchte nicht zu erwähnen, wen ich mit „sie“ meinte.
Ross wusste auch so ganz genau von wem, oder besser, von was ich sprach. „Wir rennen.“ Als er schon ein ganzes Stück gegangen war, erinnerte ich mich an das Spiel, das die Kinder in der Schule oft gespielt hatten.
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? -Niemand.- Und wenn er kommt? -Dann rennen wir.-
Es war schon damals eine große Lüge gewesen. Jeder hatte Angst vor diesem ominösen schwarzen Mann, nur hatte es eben immer jeder für ein Spiel gehalten. Ein Spiel, in dem es um nichts ging. Aber hier ging es um so viel mehr, als lediglich die Angst, vor einem Mann.
Einem großen Unbekannten. Sie haben gesagt, er würde kommen. Natürlich hatte niemand Angst vor ihm, solange eine ausreichende Distanz sie von ihm trennte. Sollte er aber wirklich eines Tages kommen, könnten sie noch so weit rennen.
Und genau das war es, was mich dazu veranlasste, den Flug nach Europa für eine dumme Idee zu halten. Und wenn er auch dorthin käme? Wir könnten wieder davonlaufen, wie aufgeschreckte Hühner, aber so konnte das ja wohl kaum ewig weitergehen.
Es war kindisch davonzulaufen, aber bevor wir nicht wussten, mit was wir es zu tun hatten, war es vielleicht das einzig richtige. Schweren Herzens machte ich mich also auf, um unsere Flugtickets zu kaufen.
Um diese Uhrzeit wäre das Flugzeug hoffentlich noch nicht voll besetzt. Was würden wir tun, wenn es tatsächlich bereits ausgebucht sein sollte? Schnell schüttelte ich den Gedanken wieder ab und konzentrierte mich darauf, den richtigen Schalter zu finden.
Wenigstens hatten wir kein Gepäck zum Aufgeben, was die ganze Sache erheblich einfacher gestaltete. Die junge Frau hinter dem Schalter wirkte müde und lustlos. Um diese Uhrzeit konnte ich es ihr kaum verdenken.
Als sie mich auf sich zukommen sah, richtete sie sich schnell auf, strafte die Schultern und versuchte, freundlich zu lächeln. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie in einem aufgesetzten, höflichen Ton.
Ihre Stimme war nervtötend hoch, aber ich war ja auch nicht hier, um ihre beste Freundin zu werden. Stattdessen wollte ich einfach nur etwas bei ihr kaufen. „Können Sie mir vielleicht sagen, ob noch Tickets für den Flug nach Rom erhältlich sind?“
Die Frau nickte, tippte etwas in ihren Computer ein und sah mich dann an: „Wir hätten noch einige freie Plätze. Wie viele brauchen Sie denn?“ „Zwei“, antwortete ich knapp und blickte mich um.
Man konnte ja nie wissen, ob nicht doch plötzlich die dunklen Kreaturen hier auftauchen würden. „Bezahlen Sie bar, oder mit Karte?“ Fehlte nur noch, dass sie Kaugummiblasen machte, dann wäre das Bild perfekt.
So gelangweilt und müde, wie diese Frau war, sollte sie nicht an einer öffentlichen Beratungsstelle für den Flugverkehr arbeiten. „Karte.“ Bei ihrem Tonfall brauchte sie sich nicht wundern, dass ich lediglich solch kurze Antworten gab.
Ich händigte ihr Ross‘ Kreditkarte aus und sie zog sie durch ihr Lesegerät. Danach hielt sie es mir hin, um den vierstelligen Code eingeben zu können. 1538. Ohne zu zögern gab ich die Nummern ein und nahm die Karte daraufhin wieder in Empfang.
Inklusive zweier Tickets. Jetzt stand unserem Flug im Grunde nichts mehr entgegen. Begeistert war ich davon zwar nicht gerade, aber andererseits hatte ich ja schon festgestellt, dass Flucht derzeit das einzig richtige zu sein schien.
Kurz darauf gesellte Ross sich wieder zu mir. Er hatte sich eine Cap gekauft, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Es wirkte lächerlich, in Anbetracht der Lage, fast sogar verhöhnend, aber ich konnte trotzdem nicht anders, als ihn anzugrinsen.
„Freut mich, dass es wenigstens jemanden amüsiert“, grummelte er und knuffte mich in die Seite. Ich gab ihm lachend seine Kreditkarte zurück und zeigte ihm die beiden Tickets: „Ich fasse es nicht, dass ich tatsächlich mit dir nach Rom fliege.“
Kopfschüttelnd sah er mich an: „Denkst du etwa ich hätte diesen Fall kommen sehen? Bis vor kurzem hätte ich auch nur die Möglichkeit für völligen Irrsinn gehalten. Aber jetzt sind wir hier.“
Ich seufzte wehmütig: „Nimm es mir nicht übel, aber ich wünschte, dass alles wäre nie passiert.“ Zögernd berührte er kurz meine Hand: „Keine Sorge, ich hätte auch nichts dagegen, dass wir jetzt nicht hier wären. Aber sonst hätte ich dich vielleicht nie wirklich kennengelernt.“
Die Stelle, die er berührt hatte, kribbelte sanft und ich lächelte melancholisch: „Du kennst mich doch auch jetzt noch nicht richtig.“
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