• Vier •
Der Wind preschte den Männern entgegen, als sie auf dem Gehweg nebeneinander herliefen. Eine Weile war vollkommene Stille und Harry konnte den Details des Verkehrs Aufmerksamkeit schenken. Vögel zwitscherten, Menschen redeten. Autos fuhren quietschend an ihnen vorbei und wirbelten Staub durcheinander während viele Motorradfahrer ihre Motoren laut aufheulen ließen. Als ein Lastwagen an ihnen vorbeifuhr, bemerkte Harry wie die Gestalt neben ihn kaum spürbar zusammenzuckte. Eine Falte bildete sich auf Harrys Stirn, eine nachdenkliche Mimik bildete sich und seine Körperhaltung wurde aufmerksamer. Das stille aber auffressende Gefühl in seiner Magengegend begann sich durch seine ruhigen Nerven zu beißen.
Sollte er ihm vielleicht nochmal Hilfe anbieten?
Die Haut blitzte auf den Schultern des Briten hervor und seine Hände umringten schon fast schmerzhaft streng den Griff des Regenschirmes während seine Atmung hektische weiße Wölkchen gegen seine Lippen prallen ließ. Harry verweilte mit seinen Augen eine Weile auf seiner linken Gesichtshälfte und dachte nach. Er versank schon praktisch in dem eigenen Gewirr seiner Gedanken und Überforderung machte sich unerwarteter Weise in ihm breit, als ob er noch nie einen kranken Menschen gesehen hätte.
Nochmal sah er zu dem Briten. Ein Schweißfilm bildete sich wieder auf seiner Stirn. Der fiebrig glänzende Schimmer begrüßte ihn wieder. Auch entging ihm nicht, dass er sich jedes Mal anspannte, wenn ein Auto mit gröllendem Lärm an ihnen vorbei fuhr.
Aber diese Erkenntnis reichte Harry nicht. Er erwischte sich dabei, wie er von den Mann, der wie ein wütender Orkan in endloser Stille tobte, nicht die Augen nehmen konnte. Unter seinen Rippen bildete sich ein Knoten. Ein wohlig kribbelndes Gefühl in seinen Fingerspitzen dass er schon seit ein paar Monaten nicht mehr hatte, prickelte angenehm auf seiner Haut.
„Sind Sie nicht mit dem Auto hier?", fragte der Blauäugige auf einmal und lockerte den Griff um seinen Schirm.
Seine Stimme klang ruhiger als vorher, ein wenig kratzig aber mit sanfter Nuance. Er hatte eine höhere Stimme, als der Durchschnitt der Männer und Harry gefiel das. Sie beruhigte ihn auf unerklärliche Weise. Ihre freien Hände schlenkerten beide nebeneinander her – nur Millimeter trennten sie voneinander.
Kurz zog Harry es in Bedacht, ihn nochmal zu berühren und seine warme Haut unter seinen Fingerkuppen wahrnehmen zu können. Doch als ihm auffiel, was er da dachte, konnte er nur den Kopf schütteln.
Innerlich stempelte er sich schon als völligen Idioten ab. Wann hatte er das letzte Mal so über einen absolut fremden Menschen gedacht, von dem er nicht mal den Namen wusste?
„Ah", verließ es plump die schmalen Lippen des Briten und daraufhin Harry räusperte sich nochmal. Erst jetzt bemerkte er, dass er mit dem Kopfschütteln geantwortet hatte.
„Wohnen Sie weit weg?"
"Ja. So weit weg, das können Sie sich gar nicht vorstellen."
Harry runzelte die Stirn." Echt?"
"Oh ja."
Auf einmal drehte der Blauäugige seinen Kopf zu Harry und nur für den Hauch der Sekunde, zuckte sein Mundwinkel nach oben und ein frecher Glanz durchzog seine trüben Augen, den Harry an ein kleines Kind erinnerten.
Harry war irgendwie beeindruckt, und nicht nur skeptisch, als der Braunhaarige alles in seiner Macht tat, um kein auffälliges Verhalten zu zeigen wenn ein Auto an ihnen vorbei schlitterte. Der Lockenkopf hatte ihn schon mehrmals erwischt nun, wie er zusammenzuckte und die Lippen aufeinander presste. Neben dem Wunsch ihn einfach nur helfen zu wollen, fand er es irgendwie auch beeindruckend, wie viel Beherrschung er hatte und seine Gefühle nicht nach außen verlagerte obwohl sein Körper förmlich danach schrie, endlich diese Straße zu verlassen. Wie er sich bemühte, bloß mit straffen Schultern neben dem Lockenkopf zu stehen und die Reaktionen, die Autos mit ihm auslösten, zu verheimlichen; Harry sah es aber. Er sah es ganz genau.
Kurz, als müsse der Brite erst tief durchatmen, war Stille. „Und du?"
Harry ignorierte, dass er die Anrede wegließ. Um genauer zu sein löste es eine weitere Anspannung in ihm und er fühlte sich wieder menschlicher und nicht wie jemand, der nur als höher Gestellter Arzt gesehen wurde. Normalerweise war er derjenige, der seinen Mitmenschen bei Gesprächen erlaubte, ihn zu Duzen. Harry hatte manchmal das Gefühl, dass sobald andere auch nur ansatzweise mitbekamen was er beruflich machte, eine unsichtbare Barriere aufgebaut wurde und sich das Niveau des Gespräches veränderte. Plötzlich waren es Arzt und Patient. Arzt und Bauarbeiter. Arzt und Flüchtling. Oft war Harry sofort jemand, den er gar nicht widerspiegeln wollte.
„Ich komme von hier – aus Chester." Kurz sah er ihn an. „Aus England?", fragte der Lockenkopf dann weiter und erwiderte sein Schmunzeln. Grübchen bildeten sich.
Als er ein leises Lachen vom Wind zugeflüstert bekam, begann Harry breiter zu grinsen. „Was ist denn so witzig?"
„Konnte man nicht meine Ironie raus hören?"
„Sie – Du kommst doch aus der Nähe?", entwich es Harry verwirrt.
„Ja"
Der Brite sah ihn nochmal mit nach oben gezogenen Mundwinkeln an und ab da war Harry sich sicher, dass er ihn schön fand. Nicht nur sein Gesicht und sein Aussehen, dass er verkörperte, sondern auch die Art – das freche Grinsen auf seinen Lippen machten ihn für diesen Moment sympathisch. Harry erwiderte das Grinsen, obwohl er es nicht mal lustig fand.
„Du denkst also, ich könnte dich umbringen?"
„Oh ja. Du siehst total so aus."
„Das höre ich nicht oft."
"Mich sprechen auch eigentlich nicht fremde Menschen an, die dann auch noch ihre Hilfe aufdrängen."
Die Zunge des Lockenkopfs schnalzte einmal und erneut landete das unergründliche Blau auf seinem Gesicht, dass Harry wie eine riesige Flut förmlich ertränkte. Er schien sich jedes Mal für winzige Sekunden in dem Licht seiner Augen zu verlieren und in eine Welt abzutauchen, die für ihn eine völlig leere Wand offenbarte. So oft er auch in sein Gesicht sah – er wusste nicht was er dachte. Er konnte nicht erahnen, was er fühlte und das einzige, wozu er in der Lage war, war ihn zu beobachten und selbst zu interpretieren, was wohl in dem kleinen Köpflein abging. Aber irgendwie kribbelte dieses Interesse in dem Lockenkopf. Diese unbekannte Neugier und das Verlangen, endlich jemand neues kennenzulernen.
„Du siehst aber auch wie jemand aus, der Kuchen liebt." Wieder grinsten der Brite und Harry schüttelte verwirrt den Kopf.
„Okay?" Sichtlich durcheinander zog er eine komisches Lächeln.
„Ich sag's auch gerade nur, weil an deinen Mund noch ein wenig roter Saft klebt."
„Oh", schluckte Harry sofort.
Peinlich berührt wischte sich er sich über die Lippen und nickte aber, als wäre ihm diese Situation nicht gerade total unangenehm. Eigentlich wollte immer ordentlich sein und einen guten Eindruck hinterlassen. Vor allem hier schien neben ihn schien es ihm dermaßen zu stören.
"Danke das dus gesagt hast", murmelte Harry und wischte sich nochmal über den Mund. Er erhielt ein lachen als Antwort zurück.
"Muss dir nicht peinlich sein."
Harrys Gegenüber blieb langsam stehen und klappte den Schirm zu. Es hatte aufgehört zu regnen.
„Macht dich symphatisch", setzte er nach kurzem schweigen keck dazu und setzte ein flottes Augenzwinkern hinterher.
Harry stutzte. Er antwortete nicht, räusperte sich Verlegen und lächelte nur. Auf irgendeiner weise faszinierte es ihn in welche Richtung sich das Gespräch wendete und er mal nicht derjenige war, der die Kontrolle und Dominanz über die Themen halten musste. Als der Mann mit den Augen abschweifte, hatte Harry wieder die Gelegenheit ihn anzusehen. Und ob er es zugeben wollte oder nicht, das schnellere Herzklopfen in seinem Brustkorb erklärte alles; er wollte ihn näher kennen lernen.
Es war lange her, dass Harry wieder gefallen an einen Mann gefunden hatte.
In der Praxis hatte er keine Zeit an die Liebe zu denken und jemanden dort Attraktiv zu finden, war immer nur ein Blitzgefühl, wenn der Patient zur Tür hereinkam und verpuffte in dem Augenblick sofort wieder, wenn sich der Patient auf den Stuhl setzte. Privatleben und Arbeit auseinanderhalten – Seine oberste Priorität, die ihm schon von Anfang an von seinem damaligen Chefarzt eingetrichtert wurde. Es war, als wäre ein großes schwarzes Tuch um sein Herz gebunden, dass schließlich über die Jahre hinweg zu tiefen Eis gefror. Und wann hatte er mal Zeit, neue Menschen außerhalb der Arbeit kennenzulernen? Dieser Tag war eine riesige Ausnahme und Harry war dem bewusst. Vielleicht genoss er es deswegen mehr, als für gewöhnlich.
„Ich wohne die Straße da vorne runter."
In der Stimme des Briten lag etwas, was Harry nicht deuten konnte. Außerdem vermied er plötzlich wieder jeglichen Augenkontakt, drehte die Füße von Harry weg und wurde mit der Stimme lauter. Eine Lüge? Harry wusste es nicht. Sein gutes Gefühl, dass er bis eben hatte, rutschte allerdings augenblicklich in den Keller. Er presste die Lippen zusammen.
„Okay. Danke für den Schirm", sagte er dennoch freundlich zurück und legte die Hände hinter den Rücken. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er selbst gerade gar keine Ahnung hatte, wo er sich genau befand. Er war froh, dass er noch sein Handy besaß mit dem er später nachschauen könnte.
„Kein Problem. Man sieht sich bestimmt Mal wieder."
„Bestimmt."
"Aber verfolg mich bloß nicht."
Beide Männer lachten leise auf.
Und nachdem Harry den Schirm zurückgereicht hatte und sich ihre Hände kurz berührten, drehte sich der Blauäugige um und bog die Straße den Berg hinab ab. Er steckte seine gesunde Hand in eine Hosentasche, lässig und Harry fiel auf, wie entspannt der Mann während ihres Gespräches wirkte. Ganz anders als am Anfang.
Doch als er ihn noch eine Weile hinterher blickte, sah er wie der Mann plötzlich wankte und ein paar Straßenlaternen weiter, stehen blieb. Und genau als Harry zu ihm laufen wollte, beobachtete er, wie eine Frau in komplett schwarzen Kostüm vor ihm stehen blieb. Ohne ein Wort reichte Sie ihm ein kleines Päckchen.
Als Harry misstrauisch das Geschehen verfolgte und dann auch noch sah, wie der Brite ein paar Scheine rauskramte, musste der Lockenkopf schwer schlucken. Augenblicklich leuchtete in Harry ein Licht auf. Und dann bereute er es, dass er sich noch viele Sorgen gemacht hatte.
Hellooo ☀️
Also da hat Harrys Bekanntschaft ein geheimnisvolles Päckchen bekommen. Was würdet ihr zu aller erst denken, wenn ihr sowas sehen würdet?
Alles liebe jedenfalls nochmal und ich würde mich herzlichst über eure Kommentare freuen, auch was ihr allgemein von der Story haltet? ❤️
Habt einen schönen Abend x
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