Kapitel Zweiundvierzig
„Am 17. September um 23:34 Uhr erlag Greyson Belford seinen Verletzungen im Krankenhaus."
Es ist ein verregneter, kalter Tag. Die Wolken hängen schwer und drohend über uns.
Ich muss oft blinzeln, damit die Tränen mir nicht die Wange herunterlaufen. Mein Herz fühlt sich an, als wäre es aus Blei. Kalt und schwer schlägt es in meiner Brust, es schmerzt bei jedem verdammten Schlag so unglaublich sehr, dass ich das Gefühl habe, es könnte meinen Brustkorb in Fetzen reißen.
Der Pfarrer spricht ein paar unbedeutende Worte aus einem Buch, versucht Trost zu spenden an diesem grauenvollen Tag. Dabei kann er das nicht; niemand kann das. Nichts kann den Verlust wieder aufwiegen. Keine Worte, die an mir abprallen wie ein Flummi, keine Umarmung so warm und herzlich sie auch sein mag, nichts kann es wieder gutmachen, dass er weg ist. Ich wende das Stück Papier in meiner Hand. Es ist weiß wie Schnee und wiegt so viel, wie Verlust es nur kann. Mein Blick wandert zu dem Pfarrer mit den grauen Haaren. Er trägt einen schwarzen Mantel, sieht in die vielen trauernden Gesichter. Wie viele davon hat er schon gesehen?
Ich sehe zu Judith, die neben mir sitzt. Sie trägt ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut. Sie weint bitterlich in ihr Taschentuch, während Jack versucht, sie zu trösten, ohne selbst in Tränen auszubrechen. Innerhalb von wenigen Wochen haben sie zwei ihrer Kinder verloren. Es muss grauenvoll sein.
Auf meiner anderen Seite sitzt James. Er starrt in die Leere, nicht zu dem Pfarrer wie man meinen könnte. Immer wieder schluckt er heftig, kämpft mit sich selbst. Innerhalb von wenigen Wochen hat er seine Geschwister verloren.
Ich sitze zwischen dieser Familie, weiß nicht, womit ich es verdient habe, so nah zu sein. Mein Kleid ist dunkelblau, nicht schwarz. Jeder Tag ohne Grey fühlt sich wie ein falscher an. Es gibt keine Sonne mehr, nicht hier, nicht in mir.
„Faye", flüstert Judith und nickt Richtung Podest. Verwirrt schaue ich zwischen ihr und dem Pfarrer hin und her bis mir bewusst wird, dass ich jetzt an der Reihe bin, etwas zu sagen. Ich schlucke schwer und nicke. Judith versucht, mich aufzumuntern, drückt meine Hand und lächelt mich gequält an.
Die zehn Schritte zum Podest fühlen sich an wie Kilometer in eisiger Stille. Ich weiß, dass alle mich ansehen, aber das einzige, was ich sehe ist das Bild, welches neben dem Sarg aufgebaut ist. Es zeigt Grey, wie er immer war. Die dunklen Haare stehen in alle Richtungen ab, seine Lippen sind zu einem Lächeln angedeutet und seine dunklen Augen sind so intensiv, dass ich das Gefühl habe, er schaut mir in die Seele. Und es schmerzt zu wissen, dass er das nie wieder tun wird.
Ich atme tief ein und blase die eiskalte Luft wieder aus. Eine kleine Wolke bildet sich vor meinem Mund. Unschlüssig, was ich wirklich sagen soll, schaue ich auf den schneeweißen Brief in meiner Hand. Ich zittere so sehr, dass er immer hin und her wackelt.
Leise lasse ich ihn in meiner Jackentasche verschwinden und sehe nach oben. Es ist das erste Mal, dass ich all die trauernden Gesichter sehe. Seine ganze Familie hat sich versammelt. Sie sitzen auf schwarzen Stühlen, in schwarze Kleidung, weinen schwarze, bittere Tränen. In der hintersten Ecke sehe ich Nathan. Er steht an der Wand gelehnt und lächelt mir aufmunternd zu.
„Grey sagte mir einmal, in einem seiner schwächsten Momente, wie sehr er es sich wünschen würde, alle seine schlechten Taten wiedergutmachen zu können. Er sagte auch, dass er das niemals könnte und es Dinge gibt, die er sich selbst niemals verzeihen wird. Egal, wie gut es ihm ging, es schien, als würde trotzdem immer ein Fetzen Selbsthass in ihm stecken, den er nicht vertreiben konnte." Ich schlucke schwer, suche mir einen Punkt im Raum, an den ich mich klammere wie ein Seemann an den Horizont.
„Die Wahrheit ist: Grey konnte allen verzeihen. Nur nicht sich selbst. Vielleicht schafft er das jetzt, wo er bei der Person sein kann, die ihm alle Schmerzen nehmen kann. Wie gerne wäre ich diese Person gewesen." Tränen brennen sich in meine Augen, fallen in dicken Tropfen auf meine Hände.
„July, seine Schwester, mit der Sonne im Herzen und dem Lachen eines Engels. July, gesprochen wie der Sommermonat. So hat er es mir beschrieben. Grey war nie gut mit Worten, er war gut mit Taten." Mein Blick fällt zu dem Bild rechts von mir. Plötzlich wirkt dieses Bild so real, so echt, dass ich das Gefühl habe, er wäre hier bei mir.
„Und jeder der ihn kannte, weiß das." Ich hole tief Luft, bevor ich weiterspreche. „Wenn ich morgens aufstehe, dann bin ich glücklich. Bis die Realität in meine Adern kriecht und mich Stück für Stück in sich aufnimmt, mich lähmt und nur Trauer zurücklässt. Aber ich weiß, dass es Grey ist, der mir diese zwei Sekunden schenkt." Ein trauriges Lachen verlässt meinen Mund. Meine Augen wandern durch die Menge auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Und dann kann ich ihn sehen, zwischen den vielen Menschen, in seiner Lederjacke, den engen Jeans und den Boots. Er lächelt mich an, dieses atemberaubende Lächeln, dem ich nicht widerstehen kann. Wärme füllt mich, wie das heiße Wasser eine Teetasse. „Ich weiß nicht, wie ich in einer Welt leben soll, in der es Grey nicht gibt." Ein Schluchzen verlässt meinen Mund und innerhalb eines Wimpernschlags ist Grey aus der Menge verschwunden, als wäre er nie da gewesen.
„Ja, es ist unfair und oh Gott, es zerreißt mir das Herz." Ich sehe auf meine Finger, welche nervös mit dem Saum meiner Jacke spielen. „Wir hätten etwas Großes sein können. Nein, wir waren etwas ganz Großes. Nur für uns allein und doch hatte ich das Gefühl, dass jeder es wusste."
Ich versuche, das Schluchzen zu unterdrücken, aber es fällt mir immer schwerer. „Er zeigte mir die tollsten Orte, gab mir viele erste Male und noch viel wichtiger; er vertraute mir sein Herz an. Jetzt fühlt es sich ein bisschen so an, als wäre es mir aus den Fingern gerutscht." Niemals hätte ich gedacht, dass ich solche Schmerzen fühlen könnte und jetzt habe ich das Gefühl, dass es nichts anderes mehr in meinem Leben gibt außer diesen Schmerz.
„Grey wurde geliebt ... er wird noch immer geliebt und was gibt es Wichtigeres? Es geht nicht um ihn, denn es ging nie um ihn. Es geht um das, was er hierlässt. Viele gebrochene Herzen, aber noch viel mehr Liebe." Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen. „Ich hoffe und ich weiß, dass er da ist. Hier in diesem Moment und dass er nie weg sein wird."
„Fast wären wir ein für immer gewesen, aber vielleicht muss für immer auch nicht jetzt sein. Grey, ich liebe dich so unendlich. Wie die Sturmflut ihre Opfer."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro