Kapitel Vierzig
„Du weißt, du musst nicht nach einer Wohnung suchen. Zumindest nicht schon jetzt." Grey setzt sich zu mir an den Küchentisch und schaut auf meinen Laptop. Marissa ist auf der Arbeit, also habe ich die Chance genutzt, mich außerhalb von Greys Zimmer aufzuhalten. Ich fühle mich in der momentanen Situation mehr als unwohl. „Bist du dir überhaupt sicher, dass du von zuhause ausziehen willst? Vielleicht gibt sich das mit deiner Mutter ja nochmal." Er schaut besorgt zu mir rüber, aber ich starre weiterhin auf den Bildschirm auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung in der Nähe. Es gibt nicht wenige Angebote, allerdings fallen viele aus meiner Preisklasse.
„ Ich will nicht mit einer Lügnerin zusammenwohnen. Außerdem würde das bedeuten, dass ich ständig meinem Vater über den Weg laufe." Ich schnaufe und verziehe das Gesicht. „Nein, danke."
Mama hat mich in den letzten vierundzwanzig Stunden immer wieder angerufen. Auch meine Schwester hat es immer wieder probiert, aber ich habe keine Lust auf die beiden. Ich hoffe, dass ich es schaffe, Elaine auf der Arbeit aus dem Weg zu gehen. Ich brauche niemanden, der mir damit in den Ohren liegt, dass es niemand böse mit mir gemeint hat. Ich höre Grey ausatmen.
„Gut, aber du weißt, mit einem Auszug ist es nicht getan", bedenkt er und schaut mich an. Ich verdrehe die Augen und lehne mich im Stuhl zurück. Ich mag es nicht, wenn er recht hat. Normalerweise bin ich es, die mit Weisheiten um sich schlägt.
„Ja", gebe ich murrend zu und sehe ihn beleidigt an. Er lacht auf und ich stimme mit ein.
„Ich mach uns jetzt was zu essen. Worauf hast du Lust?" Er steht auf und begibt sich zum Kühlschrank. Ich kann von hier aussehen, dass dieser nicht viel hergibt.
„Pizza." Ich grinse ihn an und wackle mit den Augenbrauen.
„Gut dann bestelle ich uns welche. Ist ja fast das Gleiche wie kochen." Schulterzuckend tippt er auf seinem Handy. Ich nehme einen Schluck von meinem Tee und sehe ihn über den Rand der Tasse hinweg an. Was für ein Glück ich aber habe, dass er hier ist und dass ich hier sein darf.
Fast eine Stunde später sitzen wir auf dem Sofa, umhüllt von einer grauen Decke und essen die Pizza, die Grey uns bestellt hat. Ich mag, wie gemütlich und entspannt die ganze Situation ist. Es läuft irgendeine Sitcom im Fernseher, mit der ich nicht viel anfangen kann, allerdings liebe ich es, Grey dabei zuzusehen, wie er die Serie schaut. Grinsend beißt er von dem Stück Pizza in seiner Hand ab und scheint vollkommen einzutauchen, in das, was da gerade im Fernsehen läuft. Seine Nase kräuselt sich und ab und an sind auch seine Grübchen zu sehen. Für ein paar Minuten wirkt Grey gelöst und um nichts auf der Welt würde ich das verpassen wollen. Mit großen Bissen verschlinge ich das Stück Pizza in meiner Hand und schreibe nebenbei mit Claire, die erst jetzt von den Ereignissen des letzten Tages erfahren hat. Ich bin froh, dass sie immer noch für mich da ist, auch wenn sie jetzt so weit weg wohnt und ein ganz anderes Leben führt als ich. Ohne von meinem Handy aufzuschauen, greife ich nach dem letzten Stück der Pizza. Ein Schreck durchfährt mich, als plötzlich Greys Hand auf meine schnellt. Verdutzt schaue ich auf und sehe Grey, der mich mit hochgezogener Braue mustert.
„Das ist meins", gibt er selbstsicher von sich. Ich lache auf und sehe ihn herausfordernd an.
„Sicher? Du warst so vertieft in den Fernseher, dass du gar nicht gemerkt hast, dass du deine Hälfte schon gegessen hast!" Um meinen Standpunkt zu untermauern nicke ich selbstsicher und grinse ihn frech an. Seine Hand liegt noch immer auf meiner.
„Da bin ich anderer Meinung. Ich glaube viel eher, dass du ausgenutzt hast, dass ich so langsam esse, nur um dir ein Stück meiner Hälfte zu nehmen."
Ich kann mir kaum ein Lachen verkneifen. „Niemals." Gespielt empört lege ich mir die freie Hand auf die Brust und sehe ihn schockiert an. „Ich würde niemals die Pizza eines anderen essen. Dein dicker Bauch spricht eher dafür, dass du im Unrecht bist." Meine Mundwinkel zucken bereits belustigt und auch Grey kann sich nicht mehr zurückhalten. Er lässt meine Hand los und sieht mich an.
„Du hast drei Sekunden, um das wieder zurückzunehmen." Ich weiß, dass er nur Spaß macht und trotzdem steigt mein Puls in die Höhe.
„Eins", beginnt er zu zählen und zieht die Augenbrauen hoch. Kichernd schüttle ich den Kopf.
„Zwei", sagt er deutlich drohender. Erneut bewege ich den Kopf von links nach rechts.
Bevor er bis drei zählen kann, springe ich vom Sofa auf und renne in den Flur. Grey reagiert schnell und folgt mir. Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll, also drehe ich mich lachend um und sehe ihm dabei zu, wie er mir nachgelaufen kommt.
„Willst du deine Worte wirklich nicht zurücknehmen", raunt er und beugt sich ein Stück vor. Ich sehe ihm in die Augen, die vor Belustigung funkeln. Ich beiße mir auf die Lippe und schüttle langsam meinen Kopf. Grey stemmt seine Hände gegen die Wand, an der ich stehe und schaut auf meine Lippen.
„Das ist ja überhaupt nicht nett", murmelt er und drückt seine Lippen fordernd auf meine. Ich grinse in unseren Kuss und ziehe ihn an seinem Shirt näher zu mir ran.
Seine Lippen wandern meinen Hals entlang, langsam und vorsichtig. Bei meinem Schlüsselbein hält er inne und hebt seinen Kopf. „Schlafzimmer?", fragt er heißer. Ich nicke benommen und folge seinem Blick.
Grey nimmt meine Hand und will mich in sein Zimmer ziehen, als plötzlich die Klingel ertönt. Frustriert seufze ich auf und ziehe einen Schmollmund.
„Ignoriere es einfach. Die Person wird schon verschwinden." Ich ziehe an seiner Hand. Aber es klingelt erneut und diesmal hämmert die Person gegen die Tür. Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und sehe zu Grey.
„Mach diese verdammte Tür auf, Grey!", hallt es gedämpft in den Flur. Ich schlucke und mein Herz setzt für einen Moment aus.
Ich sehe auf die weiße Tür, hinter der Ben steht und uns anbrüllt. Gerade, als Grey aufmachen will, halte ich ihn fest. Er dreht sich zu mir rum und sieht mich fragend an.
„Lass ihn draußen Grey, bitte." Ich sehe ihn an und schüttle sachte den Kopf. Mir jagt die Angst durch die Knochen wie flüssiges Blei.
„Das ist aber kindisch", widerspricht er mir und zieht seinen Arm weg. Er öffnet die Tür, ohne weitere Worte, vor der ein wütender Ben steht. Er drängt sich an Grey vorbei und sieht sich suchend um, bis seiner Augen auf mich fallen.
„Was willst du hier, Ben?" Grey stellt sich mit verschränkten Armen zwischen uns. Ich habe das Gefühl, als müsse ich mich hinter Grey verstecken, aber das will ich nicht. Also stelle ich mich neben ihn. Bens wütender Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein gruseliges Grinsen. Ein verschobenes Lächeln, das seine Augen nicht erreicht.
„Ich habe deine kleine Schlampe gesucht und offenbar auch gefunden." Er sieht von Grey zu mir. Sprachlos stehe ich da, werde gefühlt von Sekunde zu Sekunde immer kleiner. Er wird es Grey erzählen.
„Pass auf, wie du sie nennst", knurrt Grey und geht einen Schritt auf Ben zu.
„Schon okay", murre ich leise und halte Greys Arm fest. „Was willst du von mir, Ben?" Ich kann jetzt sowieso nicht mehr flüchten, es hilft nur die Flucht nach vorne, mitten in das brennende Fegefeuer.
„Was ich von dir will, weißt du genau. Nathan hat dir das Tagebuch wiedergegeben und damit ist unser Deal geplatzt." Ben lächelt. Unwohl reibe ich meinen Arm und sehe ihm in die Augen.
„Welcher Deal?", will Grey wissen. Ich schüttle nur meinen Kopf.
„Ben hat mein Tagebuch geklaut", erzähle ich und lasse ihn dabei nicht aus den Augen. Er will, dass die Wahrheit gesagt wird und das bekommt er jetzt auch. „Es ist ein kindisches Buch, das ich vor zehn Jahren geschrieben habe und im Tausch für mein Tagebuch wollte er den Ring seiner Mutter." Ich schaue zu Grey, der noch verwirrter zu sein scheint als vorher schon. „Er sagte, du hast den Ring seiner Mutter und dass wenn ich ihn nicht besorgen würde, er dir von meinem Tagebuch erzählt. Ich hatte Angst und bin auf diesen kindischen Deal eingegangen."
Mein Herz hämmert laut gegen meine Brust und ich habe das Gefühl, mich gerade vor Grey ausziehen zu müssen.
„Ich verstehe nicht ganz." Grey sieht zwischen Ben und mir hin und her.
„Ich weiß, dass du den Ring meiner Mutter hast, Grey. Du bist der Einzige, der ihn haben könnte." Bens Augen sind leer, als er beginnt von seiner Mutter zu sprechen und obwohl er vollkommen unberechenbar ist und ich mehr Angst vor ihm habe, hat ein kleiner Teil von mir auch Mitleid mit ihm. Etwas in Ben ist verletzt und voller Hass. Er hat seine Mutter bei einem Unfall verloren, das wünscht man nicht mal seinem größten Feind.
„Ich weiß nicht von welchem Ring du redest. Es ist besser, wenn du jetzt gehst", sagt Grey und deutet zur Tür.
Ben schüttelt den Kopf. „Du wirst für alles bezahlen. Du hast zwei Menschen auf dem Gewissen, Grey. Dass du noch schlafen kannst, ist ein Wunder."
„Ben, geh", fordere ich und gehe einen Schritt auf ihn zu. Grey macht so gute Fortschritte, ich werde nicht zulassen, dass Ben ihn zurückwirft. Nur weil Ben es bis jetzt nicht verarbeiten konnte.
„Lass ihn, Fee. Er ist ein Arschloch und kann mir nichts. Ich habe keinen Ring, ich hatte nie einen."
„Du wirst dafür bezahlen, Grey. Dafür, dass du meine Familie auseinandergerissen hast." Bens Augen huschen zu mir und dann wieder zu Grey.
„Hört auf!", rufe ich aus und stelle mich zwischen die beiden. „Hier wird niemand dem anderen etwas antun. Ben, du bist verdammt nochmal verletzt und ich verstehe das, aber hör auf, jemandem die Schuld zu geben. Das war ein Unfall. Geh in Therapie und lass dir helfen, aber hör auf Drohungen durch den Raum zu hauen. Geh jetzt. Bitte." Ich sehe Ben an und deute auf die Tür. Immer noch liegt nichts anders als Leere in seinen Augen. Sein Kiefer ist angespannt, er atmet schwer. Er schaut noch ein letztes Mal zwischen Grey und mir hin und her, bis er schlagartig aus der Tür verschwindet und sie mit einem lauten Knall zuschlagen lässt. Ich zucke vor Schreck zusammen und starre noch eine Weile die Tür an.
Grey legt seine Arme von hinten um mich und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab. Seufzend drehe ich meinen Kopf ein Stück um ihn ansehen zu können.
„Er ist harmlos, Fee. Mach dir keinen Kopf." Er drückt mir einen Kuss auf die Wange und lässt mich los. Ich beiße mir auf die Lippe, den Blick immer noch auf der Tür.
„Das hat man über Serienkiller auch gesagt, bevor sie angefangen haben, andere zu ermorden." Grey scheint das alles nur wenig zu beeindrucken. Dabei mache ich mir umso mehr Gedanken. Gerade jetzt, wo Ben nicht bekommen hat, was er gewollt hat. Er ist verletzt und oftmals macht das Menschen unberechenbar.
„Was für ein Tagebuch war das?" Grey taucht wieder in meinem Blickfeld auf und lehnt sich gegen die Kommode. Ich schüttle den Kopf. Ich will nicht darüber reden. Es ist peinlich, kindisch und nicht im Entferntesten glaubwürdig.
„Ich will es aber wissen", jammert er und zieht einen Schmollmund.
Seufzend gehe ich auf ihn zu. „Es ist ein Tagebuch, entsprungen aus der Fantasie einer Elfjährigen. Es ist weder spannend noch glaubwürdig." Ich sehe an Grey vorbei, die graue Wand an. Es ist kein Grau, dass man absichtlich streicht, viel mehr in die Jahre gekommenes Weiß.
„Worum geht es?", bohrt er weiter nach. Interessiert sieht er mich an.
Ich atme hörbar aus und entferne mich von Grey, um in meine Handtasche zu greifen. Es fühlt sich an, als wäre es eine Ewigkeit her, dass ich dieses Buch in den Händen gehalten und darin gelesen habe. Damals, als ich dieses Buch in einer der nutzlosen Pakete gefunden habe, war alles noch so anders. Und wenn ich so darüber nachdenke, dann ist Grey vielleicht doch ein bisschen wie der Junge aus meiner Fantasie. Nicht der abweisende und hart wirkende Grey, sondern der den ich jetzt kenne. Der, der Witze macht, beim Lachen die Nase kräuselt und mich zum Spaß durch die Wohnung jagt.
„Ich hatte wohl einen Fantasiefreund, als ich noch ein kleines Mädchen war. Schwachsinnig, ich weiß. Auf jeden Fall dachte ich damals, als wir uns kennengelernt haben, dass einiges davon auf dich zutreffen würde. Aber das ist verrückt, das weiß ich auch." Ich halte das grüne Notizbuch in der Hand und spiele nervös mit dem Einband. Grey runzelt die Stirn und sieht fragend von dem Notizbuch zu mir. Ich nicke und gebe es ihm.
„Ich kann mich selbst an kaum etwas aus dieser Zeit erinnern. Also lach mich bitte nicht aus." Mir ist das Ganze so peinlich, dass ich fast schon wieder so schüchtern werde wie am Anfang, als wir uns kennengelernt haben. Grey blättert still in dem Buch. Er sieht interessiert und konzentriert aus. Nach einer Weile halte ich es nicht mehr aus.
„Könntest du bitte was sagen?" fordere ich nervös und kaue an meinen Nägeln. Der Lack ist fast komplett von ihnen verschwunden.
„Und deswegen hast du dich erpressen lassen?", will er ungläubig wissen. „Ich glaube, du hast dich einfach in etwas verrannt." „Vermutlich ja", stimme ich ihm zu. „Ich kann mich ja selbst an nichts mehr erinnern."
Grey streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Mach' dich nicht verrückt. Egal über wen du dort geschrieben hast", er gibt mir das Notizbuch zurück und zuckt mich den Schultern. „Ich war es auf jeden Fall nicht."
Seufzend lehne ich mich gegen die Wand. „Ich weiß, es war dumm", gebe ich zu. „Und deswegen sollte ich es auch einfach entsorgen." Bevor Grey noch etwas sagen kann, nehme ich ihm das Buch aus der Hand und reiße einzelne Seiten heraus. Es fühlt sich befreiend an, die einzelnen Seiten zu zerreißen und in den Mülleimer neben uns zu werfen. Das war's. Nie wieder Verschwörungstheorien, Erpressungen und Geheimnisse.
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