Kapitel Vierundzwanzig
Es sind kaum fünf Stunden vergangen, in denen ich mal wach war und mal geschlafen habe. Dabei hat sich die Uhr an meinem Radio als der wahre Feind herausgestellt. Nicht nur, dass die Zeit einfach nicht vergehen wollte, sondern auch der Fakt, dass eine Nacht im Auto nicht gerade bequem ist. Ich reibe mir über die müden Augen. Mascara verteilt sich an meinen Fingern und wahrscheinlich auch im Rest meines Gesichts. Die Sonne geht zwar noch nicht auf, aber es ist trotzdem schon heller draußen als noch vor einer Stunde. Mein Blick wandert zu Grey, der noch immer schläft. Wenn ich ihn nicht wecke, wird es wahrscheinlich noch viel länger dauern, bis er wach ist.
„Grey", brumme ich müde und tippe ihn an die Schulter. Er reagiert nicht, liegt stattdessen weiterhin da, als wäre er tot. Ich bin zu müde und zu verspannt, um hier noch Ewigkeiten zu sitzen. „Grey", wiederhole ich deshalb noch lauter und rüttle an seiner Schulter.
Ein lautes Brummen zeigt mir, dass er tatsächlich noch lebt. Er stöhnt auf und fährt sich durch die verwuschelten Haare. „Was ist denn hier los?" Er setzt sich so gut er kann auf und sieht sich verwirrt in meinem Wagen um. Mein Nacken schmerzt von der unbequemen Position, in der ich die letzten Stunden verbracht habe.
„Du hast dich vollgesoffen und ich habe dafür gesorgt, dass du nicht auf der Straße schlafen musst." Meine Stimme klingt kälter als eigentlich beabsichtigt, aber vielleicht hat das auch seinen Grund, immerhin bin ich verdammt sauer auf ihn. „Mhm", murmelt er und schaut kurz aus dem Fenster. Tiefe Augenringe zeichnen sich unter seinen Augen ab. Ich kann mir nur schwer vorstellen, was für Kopfschmerzen er haben muss. „Willst du auch einen Kaffee?", fragt er und öffnet die Autotür. Die kalte Luft kriecht mein Bein entlang. Ich trage immer noch das Kleid vom Vortag, wie hätte ich mich auch umziehen sollen? „Ist das wirklich dein einziger Gedanke?", will ich von ihm wissen und sehe ihn fassungslos an.
„Gerade schon." Er wirkt genervt und versucht, offensichtlich einer Unterhaltung aus dem Weg zu gehen.
„Na gut." Ich bin müde und habe keine Lust, mit ihm zu reden, wenn er sich wieder nur dagegen wehren wird.
„Kommst du mit rein?" Grey sieht mich fragend an. Er beißt sich auf die Lippe und beginnt, mit seinem Lippenpiercing zu spielen.
Verwirrt sehe ich ihn an. „Nein?" Meine Antwort hört sich viel mehr wie eine Frage an, was daran liegt, dass ich mich frage, ob er das wirklich ernst meinen kann.
„Bist du sauer?", will er jetzt wissen. Er schließt die Tür des Autos wieder und sieht mich nachdenklich an. Natürlich bin ich sauer! Unfassbar sauer, um ehrlich zu sein.
„Ich bin nicht gerade glücklich." Mein sarkastischer Unterton lässt Grey kurz schmunzeln, dann senken sich seine Mundwinkel wieder nach unten.
„Verstehe", murmelt er und sieht auf die Armatur. „Ich weiß, gestern ist nicht op-"
„Es geht mir nicht um gestern, Grey." Mein Kopf schnellt in seine Richtung. „Sondern um die Tatsache, dass du dich ständig betrinkst, wenn es dir nicht gut geht. Das hier ist das zweite Mal, dass ich für dich da war, weil du dich abgeschossen hast. Ich bin verdammt nochmal kein Babysitter." Es fühlt sich gut an, meiner ganzen Wut Luft zu machen. Ich mustere Grey, der mich die ganze Zeit nicht ansieht. Ich bin mir sicher, dass er sich seiner Schuld bewusst ist, nur bin ich mir nicht sicher, ob er jemals daraus lernen wird.
„Es tut mir leid." Seine dunkelbraunen Augen suchen meine und halten an ihnen fest, als sie sie gefunden haben. „Ich konnte aber nicht wissen, dass du ... Hat Adam dich angerufen?" will er wissen.
„Ja", bestätige ich.
Grey atmet hörbar aus. „Hat er ... noch etwas gesagt?"
„Er hat erwähnt, dass du Tabletten nimmst und die sich scheinbar nicht mit Alkohol vertragen." Ich sage das so gelassen wie möglich. Ich will nicht, dass er denkt ich würde ihm zu nahe treten wollen. Er fährt sich durch die Haare als hätte er meine Antwort schon vermutet.
Ich spüre, dass er nicht weiß was er sagen soll.
„Du musst mir nichts erzählen, wenn du es nicht willst." Versichere ich. "Aber bitte mach' keine dummen Sachen." Erleichterung breitet sich in seinem Gesicht aus.
„Du solltest jetzt reingehen und schlafen." Ich deute in die Richtung Haustür und schaue ihn an. Er nickt und fährt sich erneut durch die Haare. „Okay."
Ich lächle ihn an. „Wir sehen uns später", versichere ich ihm und sehe ihm dabei zu, wie er aus dem Wagen steigt. Als er in dem Haus verschwindet, starte ich den Motor und fahre nach Hause. Ich kann es selbst kaum erwarten, in meinem Bett zu liegen und zu schlafen.
„Kommt die Dame auch mal nach Hause." Mama sitzt am Küchentisch und mustert mich von oben bis unten. Für sie muss es aussehen, als hätte ich die ganze Nacht durchgefeiert. Zwar fühlt es sich exakt so an, aber ohne den Alkohol, dafür trotzdem mit einem mächtigen Kater.
„Ja", antworte ich knapp und bleibe in der Tür stehen. Ich habe keine Lust, mich jetzt mit meiner Mutter an den Tisch zu setzen und zu reden. Ich will viel lieber eine heiße Dusche nehmen und so lange schlafen, bis der gestrige Tag komplett vergessen ist.
„Wie war die Party?" Sie sieht an mir runter und wieder rauf. Ich seufze innerlich. Das wird aber jetzt kein Kreuzverhör werden?
„Sie war gut." Ich nicke mit dem Kopf und presse die Lippen aufeinander. Mama scheint mir das Ganze immer noch nicht abzukaufen. Skeptisch schaut sie mich an und beginnt ebenfalls mit dem Kopf zu nicken. Weil ich denke, dass unser Gespräch nun vorbei ist, drehe ich mich um und will in mein Zimmer gehen.
„Wer ist er?", will sie wissen. Ich beiße mir auf die Lippe und drehe mich aber wieder in ihre Richtung.
„Mama, ehrlich gesagt, bin ich müde. Es gibt da wirklich niemanden, also wenn du mich jetzt schlafen lassen würdest, wäre ich dir sehr dankbar." Die Worte kommen so überzeugend aus meinem Mund, dass ich sie mir fast selbst abkaufen würde. Auch Mama wirkt fürs erste überzeugt, zumindest denke ich das.
„Ich war auch mal jung", erinnert sie mich. „Verlangt er dir viel ab?" Sie sieht mich besorgt an und hebt ihre Kaffeetasse an. Überlegend sehe ich an ihr vorbei aus dem Fenster. Ich habe keine Lust mit Mama über meine Beziehung zu reden.
„Er macht eine schwere Zeit durch." Verleugnen bringt jetzt sowieso nichts mehr. Allerdings muss sie nicht mehr wissen als das.
„Pass auf, dass diese Phase nicht für immer bleibt. Sich zu kümmern ist gut." Mama steht auf und kommt um den Tisch herum. Sie lächelt mich an, wie es eben nur eine Mutter tun kann. Voller Sorge und Zuneigung zugleich. „Aber sich opfern nicht", fügt sie noch hinzu und streichelt mir über den Arm. Es muss am Schlafmangel liegen, aber plötzlich habe ich ein Wahnsinnsbedürfnis danach, von ihr in den Arm genommen zu werden.
„Danke, Mama", murmle ich und beschließe, in mein Zimmer zu gehen. Das waren genug Ratschläge für einen verkaterten Morgen.
„Was wird aus dir und Roy?", will sie wissen, noch bevor ich die Tür zu meinem Zimmer schließe.
„Ich weiß es nicht.", antworte ich ehrlich.
„Wenn es jemand anderes gibt, dann tu Roy damit nicht mehr weh als nötig."
Sie lächelt mir aufmunternd zu. Nickend verschwinde ich in meinem Zimmer. Ich muss unbedingt mit ihm reden, bevor das mit Grey in eine ernste Richtung gehen kann.
***
Obwohl es Sonntag ist und ich eigentlich hätte ausschlafen können, bin ich aber nach vier weiteren Stunden Schlaf wieder wach. Heute will Claire sich im Café treffen und noch ein paar Details für ihre Abschiedsfeier besprechen. Obwohl ich nicht viel mit der Planung zu tun habe, habe ich zugestimmt. Viel Zeit haben wir nicht mehr, bevor sie aufs College geht und dann sehen wir uns nur noch selten. Auch die letzten Wochen haben wir uns kaum gesehen. Ich sitze bereits geduscht und angezogen in der Küche. Ich fühle mich, als hätte ein Laster mich überfahren, mein Nacken ist immer noch steif und mein Kopf fühlt sich wie eine tickende Zeitbombe an. Gedankenverloren sehe ich der Kaffeemaschine dabei zu, wie sie sich tröpfchenweise füllt. Das leise Summen, das mir vorher nie aufgefallen ist, wirkt heute besonders laut.
„Guten Morgen." Elaine kommt noch in Schlafsachen in die Küche und geht auf die Kaffeemaschine zu. Sie hebt die Kanne von der heißen Platte und füllt ihre Tasse. Eigentlich ist es meine Tasse, aber ich sage nichts, sondern sehe ihr schweigend dabei zu. Seit dem Essen bei den Belfords und Greys erneutem Durchhänger, drehen sich meine Gedanken so schnell und trotzdem spüre ich eine unerklärliche Ruhe in mir.
Vielleicht ist es einfach auch die Ruhe vor dem Sturm.
„Morgen", brumme ich deshalb ruhig und vergleichsweise nett. Das scheint Elaine zu überraschen, denn sie schaut mich kurz irritiert an, ehe sie sich zu mir an den Tisch setzt.
„Wie geht's dir?" Sie trinkt aus meiner Tasse und sieht mich an. Vorsicht liegt in ihren Augen aber auch Neugierde.
„Gut." Ich werde bestimmt nicht mit Elaine über meine Gefühlslage reden. Auch wenn ich keine Lust auf weiteren, durchaus berechtigten Streit habe sind wir noch lange nicht beste Freunde. Offenbar scheint sie nicht weiter überrascht. Resigniert lässt sie die Schultern hängen und nickt verstehend. Dass sie hier ist, löst immer noch ein komisches Gefühl aus.
***
Das Klingeln der Tür ertönt, als ich sie aufschwinge und das Café betrete. Claire sitzt bereits an unserem Platz und grinst mich breit an. Sie winkt mich zu sich rüber.
„Wir brauchen noch einen Latte, Jimmy", ruft sie dem dunkelhaarigen Typen hinter dem Tresen zu. Jimmy arbeitet nur selten hier als Aushilfe, falls Elly oder ihr Vater krank sind. Er nickt verstehend und lächelt mir ebenfalls zu, bevor er sich umdreht und meinen Latte Macchiato macht.
„Also erzähl." Claire funkelt mich an. Es ist dieses Funkeln, das ich schon so oft bei ihr gesehen habe. Und ich liebe es, um ehrlich zu sein, fast so sehr wie sie selbst. Ich setze mich auf die Bank gegenüber von ihr und ziehe meine Jacke aus. Es ist kühl heute, die Sonne kommt nicht durch die dicke Wolkendecke. Unglaublich, dass das noch Sommer sein soll.
„Ich dachte, wir wollten über deine Abschiedsfeier reden." Ich lehne mich an den Tisch und betrachte den bunten und ziemlich dicken Ordner, den Claire vor sich liegen hat. Ja, sie ist einen von denen, die alles planen, verschiedene Ordner anlegen und Spaß dran haben, alles zuckersüß zu verzieren. Auf der anderen Seite ist sie aber auch die, die mit ihrem Vater Autos repariert, es liebt schnelle Autos zu fahren, und sich gerne mal die Hände schmutzig macht.
„Ja, naja, ich will erst alles wissen." Sie zuckt mit den Schultern und grinst weiter vor sich hin. Ich unterdrücke ein Seufzen und sehe zu Jimmy der mir meinen Latte bringt. Ich bedanke mich lächelnd und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Claire. Wenn ich ihr nicht erzählen kann, was alles momentan vor sich geht, wem soll ich es dann bitte erzählen können?
„Es ist alles etwas anders gelaufen als gedacht", sage ich deshalb. Sofort neutralisiert sich ihr Gesichtsausdruck. Sie weiß noch nicht, was sie davon halten soll. Weil ich nichts sage, sieht sie mich dann fragend an.
Also erzähle ich ihr alles, was mich in letzter Zeit beschäftigt. Ich erzähle von Grey und seinen Trinkexzessen, seiner toten Schwester, seiner Familie und wie er sie für etwas hasst, für das sie selbst nichts können. Ich erzähle ihr von Ben und diesem bescheuerten Deal und dem Kuss mit Grey, der mir so unglaublich viel bedeutet hat.
Es fühlt sich gut an, sich alles von der Seele zu reden. Gleichzeitig fällt mir auf, wie sehr mir das fehlen wird, wenn sie geht. In drei Wochen beginnt das College und dann wird sie weg sein. Ich kann mir niemand anderen vorstellen, mit dem ich über all das reden kann. Während ich erzähle, schweigt meine beste Freundin. Sie sieht mich traurig, fast schon mitleidig an, seufzt, fährt sich überlegend durch die Harre, reißt die Augen erschrocken auf und verzieht wütend das Gesicht, als ich ihr von Ben und meinem Tagebuch erzähle.
„Wow", murmelt sie schließlich und atmet laut aus. Ich nicke bestätigend und sehe aus dem Fenster. Ich hasse dieses Wetter und welche Stimmung es mit sich bringt. „Das ist ganz schön harter Tobak."
Ich lache auf. Es ist ein verzweifeltes und trauriges Lachen. Weil ich verzweifelt und irgendwie auch traurig bin, auf eine ganz komische und verschrobene Weise.
„Was diesen Ben angeht", fängt Claire an und strafft die Schultern. „Du solltest von diesem dämlichen Deal zurücktreten. Ich weiß, du hast Angst vor Grey und seiner Reaktion aber Faye ..." Sie holt tief Luft und trinkt von ihrem Kaffee. „Das Tagebuch hat für dich einen sentimentalen Wert, weil du glaubst, es handelt sich dabei um Grey. Das muss aber nicht stimmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Grey Ben auslacht, sobald er ihm davon erzählt, ist hoch." Sie verzieht selbst die Mundwinkel zu einem Lächeln. Ich höre ihr stirnrunzelnd zu. „Ben hat nichts gegen dich in der Hand außer das Tagebuch einer Zehnjährigen."
„Acht", korrigiere ich sie und sehe erneut aus dem Fenster. Es ist Sonntag, die Stadt ist ruhig und kaum jemand ist draußen zu sehen. Meine Finger umklammern das Glas mit dem Kaffee-Milch-Gemisch als wäre es mein Anker.
„Gut, dann eben acht." Sie verdreht spielerisch die Augen und fährt fort. „Grey macht eine harte Zeit durch. Es ist toll, dass du so für ihn da bist, aber wenn dich die Situation selbst überfordert, dann solltest du dich etwas zurücknehmen."
„Kann ich das denn jetzt noch?" Es ist sehr wahrscheinlich, dass Claire keine Antwort auf meine Frage hat. Ich weiß es ja selbst nicht einmal. „Ich bin für ihn da, ich habe ihm das versprochen. Wenn ich ihn jetzt fallen lasse." Ich schlucke und schaue auf meine schwarzlackierten Fingernägel. „Dann geht er unter."
Ich habe nicht mal das Gefühl, dass ich Grey in irgendeiner Weise halten könnte. Er rutscht mir mit jedem Absturz mehr aus den Fingern, egal, wie sehr ich mich bemühe, für ihn da zu sein. Vielleicht soll ich nicht diesen Part in seinem Leben übernehmen, vielleicht war es immer July, die so für ihn da war und niemand wird Greys Schwester jemals ersetzen können.
„Liebst du ihn?" Überrascht verschlucke ich mich an meinem Kaffee und verteile ihn auf dem Tisch. Ich sehe entschuldigend zu Jimmy der uns schon eine ganze Weile beobachtet und wische meine Sauerei mit einer Serviette auf. Claire sieht mich eindringlich an, erforscht jeden meiner Gesichtszüge genauestens.
Liebe ich Grey? Ich bin mir sicher, ich bin verliebt, ja. Auch glaube ich, dass da so viel mehr zwischen uns ist als nur ein bisschen Turtelei. Aber Liebe ist ein unfassbar großes und gefährliches Wort. Während ich bei Roy immer das Gefühl hatte, ich würde diese drei Worte ohne Bedeutung in den Raum werfen, habe ich bei Grey das Gefühl, nichts überstürzen zu wollen.
„Du musst gar nichts sagen, deine Reaktion ist mir schon Antwort genug." Claire grinst wissend in sich hinein.
„Ich glaube nicht, dass du das wirklich beurteilen kannst", sage ich ehrlich und trinke von meiner Tasse.
„Nein, ich kann nicht beurteilen, was du fühlst, das weißt nur du", bestätigt sie nickend. „Aber ich sehe, was du für ihn tust, wie du über ihn sprichst und ich sehe den Ausdruck in deinen Augen. Das sagt mir alles, was ich wissen muss."
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