Kapitel Sechs
„Hey." Ich lächele ihm freundlich zu und stecke meine Hände in die Jackentasche. Es ist viel zu warm für eine Jacke, fällt mir gerade auf.
„Das hier ist für Raucher", stößt er aus, ohne mich anzusehen. Ich betrachte einen Moment sein Seitenprofil.
„Sehe ich etwa nicht aus wie ein Raucher?" Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe ihn herausfordernd an.
„Nein", stellt Grey gelassen fest und schaut kurz zu mir rüber.
Das will ich mir nicht gefallen lassen, also greife ich nach der Schachtel, die auf der Fensterbank liegt, vermutlich seine, und schnappe mir das Feuerzeug. Ich habe bis jetzt nur einmal geraucht und das war keine sehr schöne Erfahrung, aber so schwer kann das nicht sein.
Ich zünde die Zigarette an und ziehe daran. Sie schmeckt widerlich. Wirklich sehr widerlich. Noch dazu muss ich mich bemühen, keinen Hustenanfall zu bekommen.
Doch ich kann nicht so schnell gucken, wie Grey mir die Zigarette aus der Hand reißt und sie auf den Boden wirft.
„Hör auf mit dem Scheiß", brummt er genervt und tritt sie aus.
„Ey!" Eigentlich bin ich froh, denn mir ist schon nach einem Zug schwindelig, dennoch hat er kein Recht dazu.
„Kannst du jetzt jemand anderes nerven?" Er fixiert mich mit seinen dunkelbraunen Augen. Seine Haare fallen ihm unordentlich in die Stirn - eigentlich sieht er gar nicht so schlecht aus.
„Sag mal, warum bist du immer so unhöflich?" Ds ist mir schon am Anfang aufgefallen und mittlerweile geht er mir auf die Nerven damit.
„Weil du mich um mein Geld gebracht hast?", raunzt er zurück und tritt nun auch seine Zigarette aus.
„Oh, tut mir leid, dass ich nicht zusehe, wie du wahllos Menschen verprügelst!" Ich bin mittlerweile mehr als nur wütend. Grey hat kein Recht so scheiße zu sein, obwohl ich ihm nie etwas getan habe.
„Hör auf Mutter Theresa zu spielen, wenn du mit irgendwelchen Typen mitten in der Öffentlichkeit rumsabberst, obwohl du einen Freund hast, Fee." Er klingt unglaublich gelassen und ruhig, als wüsste er, dass er im Recht ist.
„Faye, verdammt nochmal! Krieg das endlich in dein Erbsenhirn. Und außerdem habe ich das gar nicht", blaffe ich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Ich spüre wie mir vor Aufregung ganz warm wird.
„Außerdem geht es dich einen Dreck an, was ich tue", schimpfe ich weiter.
„Dito." Er seufzt genervt und geht an mir vorbei zur Tür.
„Du bist ein Arschloch", feuere ich nach. Ich weiß nicht wieso, aber sein Verhalten verletzt mich ungemein.
„Erzähl mir was Neues", ruft er mir noch hinterher, bevor die Tür ins Schloss fällt.
Frustriert fahre ich mir durch die Haare und gehe zu meinem Auto. Ich vermeide es, Michelle nochmal über den Weg zu laufen und gehe außenherum. Ich verstehe einfach nicht, warum Grey so zu mir ist und noch weniger verstehe ich, was Sam allen erzählt hat. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihn zur Rede stellen.
Zuhause ist es still und ich gehe davon aus, dass Mama noch immer arbeiten ist, weshalb ich ohne Umschweife in mein Zimmer gehe.
Dort angekommen werfe ich die Tür mit Schwung zu und starre auf mein Bett.
Wieso nennt er mich immer Fee und wieso kann er nicht einfach wie ein normaler Mensch mit mir reden? Ich kenne Menschen, die eher zurückgezogen sind, welche die unhöflich sind un d andere, die vollkommen offen und freundlich sind. Und Grey benimmt sich einfach nur wie ein Arschloch. Ich bin genervt von seiner Art und davon, wie er mit Menschen umgeht.
Wie es in den Wald reinschallt, so schallt es auch wieder raus.
Wieso blafft er mich dann immer an, wenn ich doch höflich bin?
Frustriert lege ich mir ein Kissen aufs Gesicht und seufze.
Eigentlich sollte ich mich gar nicht für ihn interessieren, aber irgendetwas an ihm ist so anziehend.
„Schau mal was heute kam." Ich hieve das schwere Paket auf den Küchentisch und gehe zur Schublade, um nach einem Messer zu greifen. Mama ist gerade erst nach Hause gekommen und lässt sich mit einer Tasse Kaffee am Tisch nieder. Ich habe ihr nicht mal genug Zeit gelassen, um sich umzuziehen, doch jedes Mal, wenn wir eines dieser Pakete bekommen, packen wir es zusammen aus.
„Dein Vater hat sich mal wieder dazu aufgerafft?" Sie wirkt nicht überrascht, als sie den Absender liest und über ihren Tassenrand hinaus dabei zusieht, wie ich das Paket aufschneide.
„Ist wahrscheinlich gleichzeitig mein Geburtstagsgeschenk", antworte ich sarkastisch. Der ist zwar erst in sechs Wochen, doch seitdem meine Eltern sich getrennt haben, ist nicht mal eine Karte von ihm zu erwarten.
Ich höre, wie sie seufzt und schaue zu ihr.
„Mach dir keine Hoffnungen, Spatz. Wahrscheinlich ist alles unbrauchbar." Mama lächelt mir aufmunternd zu, was ich erwidere. Mir ist bewusst, wie sehr sie das beschäftigt. Nicht nur, dass Geschenke vom Rest meiner Familie nicht zu erwarten sind, sondern auch, dass ich für sie alle unsichtbar geworden bin.
Die Scheidung meiner Eltern war hässlich und während alle meinem Vater beigestanden haben, habe ich Mama den Halt gegeben, den sie gebraucht hatte.
Seit der Trennung meiner Eltern schickt Papa mir immer wieder Sachen aus meinem alten Kinderzimmer zu. Es sind meistens Dinge, die keine Bedeutung haben und Mama hat recht, wahrscheinlich wird sowieso wieder alles in den Müll wandern.
Nichtsdestotrotz öffne ich das Paket und schaue alles durch. Nichts davon ist auch nur ansatzweise interessant. Alte Kuscheltiere, Malbücher, Schulhefte und Bilder, die ich gemalt habe. Es liegt kein Brief, keine Notiz oder Karte dabei. Die Sachen wurden lieblos in einen Karton geworfen und abgeschickt.
„Das hier ist interessant." Sie streicht sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht und legt mir ein Notizbuch vor die Nase. Ich sehe nicht, was daran interessant sein soll.
„Damals hattest du gerade gelernt, wie man schreibt, also haben wir dir dein erstes Notizbuch geschenkt und du wolltest gar nicht mehr aufhören zu schreiben." Sie fängt an zu lachen und streicht über den moosgrünen Einband. Er hat schon einige Flecken und sieht mitgenommen aus. Zudem riecht alles, was aus dem Paket kommt, alt und modrig.
Ich frage mich unweigerlich, was Papa mit meinem alten Zimmer gemacht hat. Seine neue Freundin hat selbst zwei Kinder und alleine bei dem Gedanken daran, dass eines davon in meinem Zimmer wohnt, wird mir schlecht.
„Tatsächlich." Es klingt mehr wie eine Frage, denn ich kann mich nicht daran erinnern.
„Ja, ja." Sie nickt, als würde sie sich wieder an etwas erinnern. „Du hast uns damit völlig verrückt gemacht. Denn wir durften nicht darin lesen, obwohl du wie besessen danach warst." Sie lacht.
„Verrückt, ich weiß das gar nicht mehr." Ich sehe verblüfft auf den Einband. Einige Seiten sind gewellt, als wären sie feucht geworden.
„Du hast irgendwann ganz plötzlich das Interesse verloren, wahrscheinlich weil du einfach älter geworden bist." Schulterzuckend sieht sie mich an.
„Das sind mehr als zehn Jahre", staunt sie. „Also eine halbe Ewigkeit", murmle ich und schlage die erste Seite auf.
Es fällt mir schwer, meine eigene Schrift zu erkennen oder gar zu lesen, zudem sind einige Wörter verschmiert, das Papier hat Wasserflecken und ist teilweise kaum lesbar.
„Das solltest du aufheben." Sie räumt den Rest zurück in den Karton und stellt ihn auf den Boden. Auf der zweiten Seite ist ein Bild zu sehen, das ich gemalt habe. Zwei Strichmännchen halten sich bei der Hand und hüpfen offenbar durch Gras.
Ich schaue zu Mama, die mich nachdenklich ansieht. Ihre Ohrringe wackeln leicht, während sie ihren Kopf kaum merklich schief legt. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, wird mir erneut bewusst, dass ich fast alles von ihr habe. Das dunkle Haar, die kleine Nase und die Sommersprossen. Bei Mama sind sie zwar kaum noch zu sehen, aber unter dem Make-up sind sie noch da.
„Faye?" Ich entsorge gerade die Kuscheltiere und den Rest im Mülleimer, als ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen höre. Erschrocken trete ich zur Seite und der restliche Inhalt der Kiste landet auf dem Boden.
Als ich mich umdrehe, sehe ich Sam, der mir freundlich zulächelt.
„Hallo Sam." Mir ist anzuhören, dass ich absolut nicht gut auf ihn zu sprechen bin.
Sam runzelt die Stirn und mustert mich eindringlich, während ich mich bücke, um den Rest der Sachen aufzuheben. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er sich beugt und beginnt, mir zu helfen.
„Willst wohl altes Zeug loswerden?" Er wirft einen Schlüsselanhänger und ein Malbuch in die große Tonne.
„So in etwa", gebe ich steif zurück.
„Sag mal, ist alles okay? Wenn es wegen dem Kuss ist, das tut mir immer noch leid. Ich hatte nur keine Nummer oder Adresse von dir, sonst hätte ich mich gemeldet", beginnt er zu reden und kratzt sich unwohl am Hinterkopf.
„Es ist nicht der Kuss, sondern das, was du offenbar deinen Freunden erzählt hast", blaffe ich und drücke den Karton in die Papiertonne.
Sam verzieht das Gesicht, als würde er nicht wissen, wovon ich spreche.
„Michelle, Grey und weiß Gott, wer noch? Jeder denkt, wir hätten ein super Treffen gehabt und das wir rumgemacht haben." Wütend schmeiße ich den Deckel zu und sehe ihm dabei zu, wie er eine Mülltüte in die Tonne daneben wirft.
„Davon weiß nur Ben, Faye. Und so habe ich das gar nicht erzählt."
Ben. Also irgendwie war das ja klar. Das nächste Mal, wenn ich ihn sehe, ist er sowas von tot. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe Sam an, dessen blonde Haare perfekt frisiert sind. Wie lange er wohl dafür im Bad steht?
„Was machst du überhaupt hier? Ich meine wohnst du hier?" Ich bin mir sicher, dass er das nicht tut, doch eigentlich ist der Komplex so groß, dass man seine Nachbarn nicht unbedingt kennt. Es sei denn, sie wohnen im gleichen Stock wie man selbst.
„Nein, ich kümmere mich nur um meine Tante, Ginny. Aber du wohnst hier, wie es aussieht?" Er verstaut die Hände in den Hosentaschen und lächelt mich an. Sam hat ein hübsches Lächeln, es hat etwas Warmes und Einladendes.
„Ja, 4E." Ich deute nach oben, schaue aber weiterhin Sam an. „Cool, meine Tante wohnt in 3E!" Während Sam beginnt zu lachen, bleibt mir die Spucke weg.
„Warte, 3E? Deine Tante ist die Verrückte?", platze ich heraus und reiße die Augen auf.
Mit unserer Nachbarin unter uns haben wir schon immer Probleme. Bei dem kleinsten Geräusch hämmert sie mit irgendetwas gegen den Boden und schreit uns durch die Decke hinweg an.
Ich sehe Sam an, dessen Blick dunkler und irgendwie auch wütender wird.
„Entschuldige, das war nur so ... überraschend. Sie ist sicher ganz nett." Ich ringe mir ein Lächeln ab. Das ist sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, sie ist eine gemeine Furie, die selbst meckert, wenn man beim Duschen das Wasser zu laut aufdreht. Wie ich sage, verrückt. Doch Sam scheint das zu verletzen, also ist es besser, leise zu sein.
Nach dem Abendessen verkrümle ich mich relativ früh in mein Bett. Ich schalte die Nachttischlampe ein und schnappe mir das alte Notizbuch.
Mein früheres Ich hat es wohl nicht so mit der Sorgfalt gehabt, denn es sind weder Daten, noch sonstiges notiert. Zwischen den Einträgen befinden sich nicht mal Abstände. Es ist ein Rätsel herauszufinden, wann ein neuer Abschnitt beginnt.
Das hier ist ein zehn Jahre altes Tagebuch, von dem ich nicht mal mehr wusste, dass es existiert. Damals hatte ich einen Fantasiefreund, dessen Namen nicht einmal irgendwo auftaucht. Niemand außer mir konnte ihn sehen und für viele Jahre war er mein bester Freund. Bis ich irgendwann Claire, meine beste Freundin, getroffen habe und er verschwand.
Allerdings habe ich schon lange nicht mehr an den Jungen mit den braunen Haaren und dunklen Augen gedacht, der mir damals ein wertvoller Begleiter war.
Und je mehr ich in diesem Notizbuch lese, umso bewusster wird mir, dass es nur eine Person gibt, die seiner Beschreibung am nächsten kommt.
„Das ist sowas von unmöglich, Faye." Claire schüttelt den Kopf und trinkt von ihrem Eistee. Anstatt ins Café zu gehen, haben wir beschlossen durch die Stadt zu schlendern.
„Wie soll ich mir das sonst erklären?" Ich halte das grüne Notizbuch nach oben und sehe sie eindringlich an. Nachdem ich letzte Nacht in dem Buch gelesen habe, lässt mir dieser Gedanke keine Ruhe mehr. Natürlich bin ich mir bewusst, dass meine Theorie sich absolut bescheuert anhört und ich wahrscheinlich wie eine Verrückte aussehen muss.
„Du kennst diesen Grey doch gar nicht und die äußere Beschreibung könnte reiner Zufall sein. Du warst acht", gibt sie mir zu bedenken und lässt sich auf eine der Parkbänke fallen.
Sie hat natürlich recht; die Möglichkeit, dass ich mir das alles nur einbilde, besteht und ich werde es nicht abstreiten, doch ich bin mit dieser Theorie nicht zufrieden.
„Was, wenn es aber doch so ist? Immerhin gibt es die verrücktesten Dinge!" Ich bin Feuer und Flamme dafür. Und wäre es nicht äußerst seltsam, würde ich direkt zu Grey fahren und ihn über alles ausfragen?
„Ach Schatz." Sie stellt ihren Becher beiseite und sieht mich durch die Sonnenbrille hindurch an.
„Vergiss das lieber ganz schnell. Du sagst doch selbst, dass er dich nicht mag und dass dieser Junge ..." Sie deutet auf mein Notizbuch. „... nicht mal einen Namen hat."
In der letzten Nacht habe ich fieberhaft versucht, mich wieder daran zu erinnern. Ich bin mir sicher, dass diese Erinnerungen noch da sind, irgendwo ganz hinten verstecken sie sich. Gefunden habe ich sie allerdings nicht und es sieht nicht so aus, als würde ich das je.
Seufzend verstaue ich das Buch in meiner Tasche. Claire kann vieles sagen, sie weiß nicht, was ich weiß, und sie kennt Grey nicht.
Nicht, dass ich behaupte, ihn zu kennen, aber er ist mir auf eine komische Art und Weise vertraut.
***
„Ayyoo." Michelle schwingt ihre Handtasche auf den Tresen der Rezeption und grinst mir ins Gesicht. Sie hat heute früher Feierabend als ich, was sie mir gekonnt unter die Nase reibt.
„Lauf." Ich schaue sie über den Computer hinweg an. „Lauf und komm nie wieder zurück", knurre ich, woraufhin sie nur anfängt zu lachen.
„Ist gut Scar, aber vorher brauche ich noch meinen Schichtplan." Sie zeigt auf eine Mappe, die mir gegenüber liegt, und verlangt offensichtlich, dass ich sie ihr gebe.
Mir fällt auf, dass sie wieder eines dieser bombastischen Kleider trägt.
„Wo geht es heute noch hin?" Ich gebe ihr die Mappe und schaue sie fragend an.
„Na ja, dass du ..." Sie will mir antworten, als sie mitten im Satz unterbrochen wird. Kein geringerer als Ben taucht hinter ihr auf und verteilt kleine Küsse in ihrem Nacken.
„Hey, Ben." Ich setze das beste Lächeln auf, das ich hergeben kann, malträtiere trotzdem die Tastatur und die Maus. Keiner der beiden kann das sehen, was wahrscheinlich auch besser so ist.
„Faye." Er nickt mir kurz zu und wendet sich dann zu Michelle. Mir missfällt der Gedanke, ihm Komplimente zu machen, doch Tatsache ist, dass er in der dunklen Hose, dem weißen Hemd und dem dunkelblauen Jackett gut aussieht. Ich kann nur für ihn hoffen, dass er mit Michelle gut umgeht. Es sieht zwar nicht so aus, als würde er sie schlecht behandeln, aber ich bin trotzdem vorsichtig.
Ich traue ihm nicht weiter, als ich ihn tatsächlich sehen kann. Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn er weiß, dass ich ihn immer im Blick habe und das gefällt ihm nicht.
„Komm wir gehen." Er zieht Michelle mit einem Seitenblick zu mir mit sich. Dabei lässt er ihr keine Zeit, sich zu verabschieden.
„Blödmann", murmle ich, als die beiden außer Hörweite sind und haue auf die Tastatur ein. Das stellt sich als keine gute Idee heraus, denn mehrere der kleinen Buchstaben und Zahlen fliegen in hohem Bogen raus.
„Och nö." Jammernd und trotzig wie ein kleines Kind werfe ich den Kopf in den Nacken und seufze. Das ist absolut nicht fair. Mir bleibt nichts anderes übrig, als unter die Theke zu krabbeln und die Einzelteile der Tastatur wieder aufzusammeln.
Nachdem ich alles wieder auf seinen Platz gesteckt habe, hoffe ich, dass nichts weiter kaputtgegangen ist. Sonst müsste ich die Tastatur ersetzen und das wäre mir dieser Blödmann definitiv nicht wert.
Noch bevor ich überhaupt ausprobieren kann, ob alles funktioniert, höre ich die Stimme meines Chefs hinter mir, der meinen Namen ruft. Ich drehe mich zu Mr. Cellin, der die Hände in den Taschen seines Anzugs stecken hat und sich gegen die Rezeption lehnt.
„Ja, Mr. Cellin?" Ich streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächle ihn freundlich an. Es ist unerträglich warm heute und ich haben das Gefühl, bald in meinem eigenen Schweiß zu baden.
„Wie du weißt, beginnen bald die Ferien, und das bedeutet, eine Menge zu tun. Wäre es möglich, dass du in dieser Zeit bis zu deiner Ausbildung Vollzeit bei uns arbeitest? Wir brauchen jede helfende Hand, die sich uns bietet."
Er zieht die Stirn in Falten und sieht mich hoffnungsvoll an. Eigentlich habe ich nichts geplant, doch meine ganze Freizeit hergeben, möchte ich auch nicht. Das sind die letzten Wochen, die ich mit Claire habe, bevor sie aufs College gehen muss.
„Ich würde Ihnen gerne helfen, aber eigentlich habe ich noch Pläne diesen Sommer." Ich sehe ihn entschuldigend an. Mr. Cellin versucht gar nicht, seine Enttäuschung zu verstecken, und irgendwie tut er mir leid. „Aber halbtags würde ich natürlich kommen", füge ich hinzu und beiße mir innerlich selbst in den Hintern. Meine Zeit mit Claire ist mir ebenso wichtig wie meine Arbeit im Hotel. Ich mag meinen Job und ich mag meinen Chef zu sehr, um ihn hängen zu lassen.
„Das wäre eine große Hilfe!" Er entspannt sich sichtlich und die Erleichterung ist ihm ins Gesicht geschrieben.
Das wird zumindest etwas extra Geld bedeuten und das kann ich immer gebrauchen. Mama hat mir schon früh klargemacht, wie wichtig finanzielle Rücklagen sind.
Nachdem Mr. Cellin wieder verschwunden ist, rufe ich Nick an und frage, ob er bei mir vorbeisehen könnte, denn, wie es der Zufall will, funktioniert eine einzige Taste nicht mehr.
Er versichert mir, dass er bald vorbeikommt und da ich jetzt nichts zu tun habe, hole ich das grüne Notizbuch unter der Ablage hervor.
Ich lese von unserem Ausflug zum Sommerfest und dass Jenna, meine Schwester, mir mein Eis ins Gesicht gehauen hat. Nicht, dass ich mich daran nicht mehr erinnern kann, denn das habe ich ihr nie verziehen, das, was ich nicht mehr in Erinnerung habe, ist die Tatsache, dass dieser Junge auch dort gewesen ist. Dass er mit mir auf der Achterbahn gefahren ist und dass er mir Schokoladenpopcorn an einem der Stände geklaut hat. Bei dem Gedanken daran, dass ich dieses wohl selbst geklaut habe, laufe ich rot an. Er hat offensichtlich nie existiert und wer soll es dann sonst getan haben?
„Hier ist deine neue Tastatur." Ich bin so vertieft in das Tagebuch, dass ich aufschrecke und mein Notizbuch direkt vor seine Füße fällt.
Nur, dass es nicht Nick ist, der mir die Tastatur bringt, sondern Grey. Seine braunen Augen mustern mich teils belustigt und teils verwirrt.
Eigentlich habe ich erwartet, dass er das Buch für mich aufheben würde, da ich auf der anderen Seite der Rezeption stehe, doch er bewegt sich keinen Zentimeter und hält mir weiterhin die Tastatur entgegen.
Mir bleibt nichts anders als zu ihm rüber zu gehen und mein Buch vor seinen Füßen wieder aufzuheben. Mein Hals ist plötzlich Staubtrocken.
„Danke", murmle ich verlegen und greife nach dem Notizbuch, dass er mir, kaum dass ich wieder oben bin aus der Hand nimmt.
„Ey!", rufe ich aus und will danach greifen doch er hält es nach oben. Ein Grinsen umspielt seine Lippen.
Mein Blick fällt auf das Piercing an seinem Mund und dann auf das an seiner Augenbraue. Beide glänzen silbern im hellen Licht des Empfangs.
„Gib mir mein Buch wieder", jammere ich wie ein kleines Kind und stampfe mit meinem Fuß fest auf den Boden.
„So interessant?", fragt er interessiert und schaut nach oben.
Das wird sehr peinlich werden.
„Hör auf, Grey." Ich strecke meinen Arm aus, komme aber immer noch nicht ganz dran. Ich bin kein Zwerg, definitiv nicht, doch er ist trotzdem gut fünfzehn Zentimeter größer als ich.
Auch als ich versuche, mich an seinem Arm hochzuziehen, kann ich danach zwar greifen, doch es rutscht mir aus den Fingern.
Ich bin ihm erschreckend nah und das Schlimmste daran ist, dass es mir gefällt. Er hat auf den ersten Blick nichts von dem Jungen aus dem Buch, doch wenn man den Worten einer Zehnjährigen glauben kann, dann fühle ich mich bei ihm mindestens genauso wohl.
„Ist das dein Tagebuch oder was?" Grey zieht eine Augenbraue nach oben und reicht mir mein Notizbuch.
„ Geht doch", murmle ich leise und bringe meine Arbeitskleidung wieder an Ort und Stelle.
„Und nein, ist es nicht", gebe ich erbost zurück. Die Tatsache, dass er wieder Abstand zwischen uns gebracht hat, ernüchterte mich.
Mein Blick wandert zu seinen Armen, die dank des kurzen Shirts, freigelegt sind. Der Ansatz eines Tattoos ist zu sehen.
„Was? Noch nie ein Tattoo gesehen?", fragt er, als er mein Starren bemerkt. Grey schaut mich mit ausdrucksloser Miene an.
„Doch, natürlich." Ich kann ein Husten nicht unterdrücken.
Seine so plötzlich schroffe Art bringt mich total aus dem Konzept. Gerade eben hat er noch mit dem Spaß angefangen und jetzt zickt er so rum.
„Jedenfalls, danke". Ich zeige mit dem Finger auf die Tastatur und verziehe mich wieder hinter meinen Arbeitsplatz.
„Ist mein Job", raunt er mit einem Augenrollen und geht davon.
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