Kapitel Fünfunddreißig
Als ich meine Augen wieder öffne, liege ich nicht mehr auf den kalten Fliesen des Badezimmers, sondern auf etwas weichem. Meine Augen müssen sich erst an das gedimmte Licht gewöhnen. Es ist relativ dunkel, nur eine Nachttischlampe brennt. Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und setze mich auf. Mir ist schwindelig, weshalb ich meinen Kopf wieder an das Bettende lehne. Ich bin in Greys Zimmer, wie ich schnell feststelle. Die Vorhänge sind zugezogen und trotzdem scheint noch ein bisschen Licht an den Seiten durch.
„Vielleicht sollte ich für ein paar Tage verschwinden", höre ich jemanden murmeln. Es ist Greys Stimme, die gedämpft durch die Zimmertür dringt. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller vor Panik. Warum will er gehen?
„Das wirst du sein lassen!" Eine andere Stimme mischt sich dazu. Ich muss mich anstrengen, um überhaupt ein Wort hören zu können. Grey will gehen? Wohin und warum?
„Du siehst es aber selbst." Ich höre Grey seufzen. „Ich mache sie komplett fertig."
Ich schüttle mit dem Kopf, um Grey zu widersprechen, allerdings sieht er das nicht, wie mir erst danach bewusst wird. Angestrengt beiße ich mir auf die Lippe und versuche, so leise wie möglich zu sein. Mein Herzschlag macht mir dabei einen Strich durch die Rechnung, denn es schlägt so laut, dass ich das Gefühl habe, nichts anderes mehr hören zu können.
„Sie ist komplett erschöpft, weil sie versucht, für mich da zu sein und deshalb sollte ich ihr einfach ein paar Tage Ruhe gönnen", versucht Grey, sich zu erklären. Mein Herz zieht sich auf schmerzhafte Weise zusammen. Ich will nicht, dass er geht, mir geht es doch gut.
„Genau", bestätigt James. „Sie ist für dich da und das bist du jetzt auch." Sein Ton lässt keine Widerrede zu und ich bin froh, dass er da ist. Dass er Grey dazu überredet zu bleiben und nicht zu gehen. Auf mich würde er ja aber nicht hören. „Du geht's jetzt da rein und übernimmst einmal in deinem Leben Verantwortung", redet er weiter.
Mir wird schlecht, als ich daran denke, dass Grey tatsächlich gehen könnte, weil ich ihm zu anstrengend bin. Mein schlechtes Gewissen ist schon so groß, weil ich heute besonders hätte für ihn da sein müssen. Wie konnte ich auf dem Boden einfach einschlafen?
Ich höre wie eine Türklinge gedrückt wird und lege mich wieder hin. Ich werde Grey nicht vorspielen, dass ich geschlafen habe. Stattdessen sehe ich auf meine schwarz lackierten Nägel und fange an, den Nagellack herunter zu fummeln. Ich bin nervös, auf eine andere Art wie sonst, wenn ich Grey sehe.
Er kommt in das Zimmer mit einer Tasse in der Hand. Offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich wach bin, denn er zieht überrascht die Augenbrauen hoch und beginnt ebenfalls, nervös auf seiner Lippe zu kauen.
„Ich habe dir Tee gemacht", murmelt er und deutet auf die Tasse. Ich sehe ihn und dann die dampfende Tasse an.
„Dankeschön", antworte ich und greife nach der warmen Tasse. Ich kann nicht behaupten, dass mir gerade kalt ist, aber Tee geht immer.
Ich stelle die heiße Tasse auf dem Nachttisch ab und setze mich auf, damit Grey mehr Platz hat. Der setzt sich zu meinen Beinen im Schneidersitz auf das Bett. Seinen Anzug hat er offensichtlich ausgezogen. Stattdessen trägt er eine Jogginghose und ein schwarzes Shirt. Ich bin schon so an den Anblick seiner Tattoos gewöhnt, dass ich fast vergesse, dass sie da sind.
„Wie geht's dir?" Er mustert mich besorgt. Seine Augen huschen zwischen meinen hin und her. Das dunkle Braun wirkt in dem gedämpften Licht fast schon schwarz. Ich mag es, wenn seine Augen so dunkel sind. Es hat etwas unerklärlich Anziehendes auf mich.
„Mir geht es gut", winke ich ab und fahre mir durch die Haare. „Aber wie geht es dir? Der Tag war nicht einfach für dich." Meine Stimme ist nur ein leises Flüstern. Grey zieht eine Augenbraue nach oben und lächelt leicht. Ich verziehe verwirrt das Gesicht und sehe ihn fragend an.
„Du meinst gestern? Es war leichter als gedacht, auch wenn ich es hasse, dass zu sagen", gibt er zu. Ein trauriges Lachen verlässt seinen Mund.
„Gestern", murmle ich nachdenkend. Habe ich etwa die ganze Zeit durchgeschlafen?
„Ja", bestätigt er und richtet sich auf. „Du warst verdammt müde." Er sagt es zwar mit einem sarkastischen Unterton, trotzdem fühlt es sich wie ein Vorwurf an und ich weiß, dass das nur in meinem Kopf so ist und nicht von Grey aus kommt.
„Ich habe gehört, worüber du und James gesprochen habt", platzt es auf mir heraus. Ich will nicht, dass Grey irgendwohin geht und das muss er wissen. Seine Gesichtszüge verdunkeln sich sofort. Vielleicht war es aber keine so gute Idee, das Ganze anzusprechen. Trotzdem straffe ich die Schultern, bereit mich zu verteidigen, wenn er jetzt wütend auf mich ist.
„Ich will nicht, dass du gehst", gebe ich ehrlich zu und sehe ihn an. Grey senkt den Blick, weiterhin still. „Mir geht es gut, du brauchst dich nicht, um mich zu kümmern, Grey. Ich will einfach nur für dich da sein und dir helfen. Aber das kann ich nicht, wenn du vor mir wegläufst. Ich..." Die Worte, die mir gerade noch im Kopf herumgespukt haben, sind wie weggeblasen. Stattdessen breitet sich Stille im Raum aus. Der Gedanke, dass Grey vor mir wegrennen könnte, verletzt mich und macht mir Angst, dass er es irgendwann wirklich tut. Dann, wenn ich ihn wirklich brauche. Er schüttelt den Kopf und sieht mich wieder an.
„Ich laufe nicht weg, Fee. Ich bleibe hier." Er atmet hörbar aus. „Bei dir", fügt er mit Nachdruck hinzu.
Er seufzt bevor er weiterspricht: „Ich kann nur nicht mitansehen, wie du dich so anstrengst und dann so etwas passiert." Grey sieht mich an und die Schuldgefühle, die in sich seinem Gesicht widerspiegeln, treffen mich. Ich schüttle den Kopf so schnell ich kann.
„Ich war einfach nur übermüdet, Grey. Mir geht es gut", versichere ich ihm eindringlich. „Du hast keine Schuld an der ganzen Sache." Ich fuchtle wie wild mit meinen Händen in der Luft umher. „Glaub mir", bitte ich und sehe ihn an.
Er scheint zu überlegen. „Wenn du das sagst, muss ich dir das wohl glauben", sagt er dann skeptisch. „Aber ich fahre dich nach Hause und du versprichst mir, dass du dich ausruhst", beschließt er in einem Ton, der keine Wiederworte zulässt. Ich nicke einverstanden und kann förmlich spüren wie mir ein Stein vom Herzen fällt. Grey wird nicht gehen.
Ich beschließe, dass ich nicht länger im Bett bleiben will und dass es mir besser geht. Mir geht es tatsächlich wesentlich besser, als hätte ich bloß ein paar Stunden, um genau zu sein fast sechzehn Stunden, Schlaf gebraucht. Weil Judith uns darum bittet, bleiben wir noch, um zu Frühstücken. James sieht mich wissend an und lächelt. Mein Blick fällt zu Grey der stillschweigend sein Brötchen isst und augenblicklich breitet sich eine Wärme in mir aus, die mir sagt, dass ich mit Grey vollkommen richtige liege. Es gibt gut und schlecht, richtig und falsch und Grey ist das Gut. Er ist das Richtig und alles dazwischen. Ich kann mir ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Auch wenn die Stimmung am Tisch generell angeschlagen ist, kann ich nicht anders als glücklich zu sein. Weil ich etwas habe, dass mir so schnell niemand wegnehmen kann.
Nach dem Frühstück verabschieden Grey und ich uns von seiner Familie. Kaum, dass wir draußen angekommen sind, seufzt Grey erleichtert aus und holt eine Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche. Ich beobachte ihn dabei, wie er sich eine Zigarette in den Mund steckt und anzündet.
„Bist du nicht mit dem Motorrad hier?", hake ich nach. Er setzt sich auf die Stufen vor der Haustür und bläst den Rauch aus. Ich verstehe nicht, warum er raucht, was er an diesem Zeug findet, behalte meine Gedanken aber trotzdem bei mir.
„James bringt es mir später vorbei", antwortet er nur und lässt die Asche von seiner Zigarette abfallen. Sie fällt auf den Boden und wird vom Wind umhergewirbelt. Ich nicke verstehend. Grey zieht eine Augenbraue nach oben und mustert mich fragend.
„James sieht nicht aus, als würde er Motorrad fahren", gebe ich ihm zu verstehen.
„Weil James in den anderen Aspekten seines Lebens ein Weichei ist", antwortet er gelassen und als wäre das nicht weiter verwunderlich.
„Rede nicht so über ihn." Ich sehe ihn tadelnd an. Ich mag James genauso wie den Rest seiner Familie sehr. Er ist nett, hat immer einen Ratschlag und auch sonst wirkt er wie jemand, den sich jede Mutter als Schwiegersohn wünschen würde.
„Dann nimm doch ihn, er passt ja eher in dein Beuteschema", bemerkt er und wirft die Zigarette auf die offene Straße.
„Ich habe kein Beuteschema", bestreite ich und verschränke die Arme vor der Brust.
„Sicher", stichelt Grey weiter und steht auf.
Empört öffne ich den Mund und trotte ihm nach. „Wie gut, dass ich nur dich will." Ich zucke mit den Schultern und werfe ihm die Autoschlüssel zu, die er gekonnt fängt.
„Geht mir auch so", erwidert er, als wäre das keine große Sache und steigt in das Auto.Mein Herz schlägt ein bisschen schneller, als es sollte.
***
Das schönste Wort, dass es geben kann, wenn man stundenlang auf der Arbeit feststeckt, ist Feierabend. Der rückt für mich immer näher, je weiter sich die Uhr am Eingang dreht. Ich wische ein letztes Mal über die Tische, die im Foyer stehen, und rücke die Stühle zurecht. Wir hatten eine Gruppe von Touristen in der Stadt und es macht sich bemerkbar. Nicht nur bei uns am Empfang, sondern auch in den Zimmern. Das weiß ich von Elaine, die gerade noch durch die letzten Zimmer hetzt und sie sauber macht, damit auch sie pünktlich Feierabend machen kann. Wenn sie zu langsam ist, fahre ich alleine und das weiß sie. Deshalb rennt sie jetzt noch durch alle Zimmer. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich das nicht ein bisschen lustig finde.
Der letzte Stuhl steht endlich an seinem Platz, als ich plötzlich zwei Hände spüre, die sich von hinten um meine Hüften legen. Ein Lächeln schleicht sich unweigerlich auf mein Gesicht und ich lehne mich gegen die harte Brust hinter mir.
„Hey", murmle ich und drehe mein Kopf in Greys Richtung. Er gibt mir einen Kuss auf die Wange und grinst vor sich hin. Ich mag es wie seine Grübchen dabei zur Geltung kommen. „Hast du nicht schon lange Schluss?", will ich wissen und drehe mich zu ihm um, sodass ich ihn ansehen kann. Er sieht überlegend über mich hinweg und spielt mit dem Piercing an seiner Lippe.
„Eigentlich schon, aber ich wollte dich nochmal sehen, bevor ich zu Dr. West muss", sagt er und diese Aussage lässt mir warm ums Herz werden. Für andere muss mein Lächeln eher wie ein dümmliches Grinsen aussehen aber es ist mir egal. Ich bin glücklich und ich will jede Sekunde davon aufsaugen als wäre ich ein Schwamm.
„Dann sehen wir uns später?", frage ich, mit der Hoffnung auf ein Ja. Am liebsten würde ich meine freie Zeit nur noch mit Grey verbringen, aber wir wissen beide, dass das nicht möglich ist.
„Ich weiß nicht ...", murmelt er und mein Herz rutscht vor Enttäuschung etwas tiefer. „Man sollte sich anscheinend von mir fernhalten, weil ich gefährlich bin." Grey grinst wie ein Honigkuchenpferd, während mir alle Farbe aus dem Gesicht fällt.
Elaine hat mit ihm geredet und sie hat ihm davon erzählt. Sprachlos und mit großen Augen sehe ich Grey an, der wahrscheinlich lange nichts mehr so lustig fand wie diese Situation. Mein Kopf hat sicherlich die Farbe einer Tomate angenommen und leider tut sich unter mir gerade nicht der Boden auf.
„Es ist süß, wenn du eifersüchtig bist", sagt er belustigt und gibt mir einen Kuss. Ich weiß noch nicht wirklich, ob ich mit ihm lachen oder meiner Schwester den Hals umdrehen sollte. Vielleicht auch beides.
„Das ist nicht süß", murmle ich beleidigt und spiele mit dem Band an Greys Pullover. Ich frage mich, wie er immer so verdammt gut riechen kann, das ist doch nicht normal.
„Und wie", bestätigt er und drückt mich an sich ran. Ich lege meinen Kopf auf seine Brust und schließe für ein paar Sekunden die Augen, um seinem Herzschlag zuzuhören. Jedes Mal, wenn ich Grey so nah sein kann, gibt mir das ein Gefühl von zuhause und ich liebe es.
Der Frieden währt allerdings nur so lange, bis ich etwas ins Gesicht geworfen bekomme. Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe Michelle, die zwei Meter von uns entfernt steht und mich grinsend mustert. „Genug geturtelt ihr zwei."
Grey lässt mich los und beugt sich, um das Tuch aufzuheben, mit dem Michelle mich gerade eben noch beworfen hat. Ich lache auf und schüttle den Kopf.
„Ich muss jetzt wirklich los", bestätigt Grey mir und küsst mich noch ein letztes Mal, bevor er geht. Ich seufze und gehe hinter die Rezeption, wo Michelle mich wissend angrinst.
„Halt die Klappe", warne ich sie vorweg, was sie aber nicht davon abhält zu kichern wie ein Schulmädchen.
„Es ist schön dich so zu sehen", bemerkt sie und stützt ihren Kopf auf ihrer Hand ab.
„Ich finde es auch schön", gebe ich verliebt zu und sehe Grey nach, der auf seinem Motorrad wegfährt.
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