I - 5
Sie versuchte erbittert, ihren Atem zu kontrollieren, um womöglich auch ihre Gefühle regulieren zu können. Plötzlich erstarb der Gesang, doch die Melodie schwebte weiterhin durch die Atmosphäre. Nur gedämpfter. Während sie sich fragte wieso, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Florian und ihrer Schwiegertochter zu, die sich weiter anlächelten. Der Priester machte sich nun bereit, ihnen das Eheversprechen abzunehmen. und ihr Herz schlug mit voller Wucht gegen ihre Rippen. Um die Fassung nicht doch zu verlieren, biss sie sich noch fester auf die Innenseite ihrer Wange, aber natürlich verlor sie nun den Kampf gegen die sich auftürmenden Tränen. Ihre Brust wölbte sich automatisch, während ein Schauer durch sie lief und ihre Hand zum Zittern brachte. Das Glück, das nun durch die leise Melodie und die sanft wiederholten Worte waberte, stach wie ein Nadelkissen und dennoch strahlte Gretel. Sie mochte ja allein ihr Leben bestreiten. Doch für ihren Sohn galt das schon lange nicht mehr.
„Kommt Anna gar nicht mit?" Sie schaute Florian verwirrt an, während er in seine Turnschuhe schlüpfte. Die Augen ihres Sohnes flogen zu ihr und es schien, als habe sie ihn bei einem Gedanken unterbrochen. Wieso er deshalb schuldbewusst wirkte, wusste sie nicht. Aber diese Frage zerfiel auch zu Staub, als er mit dem Kopf schüttelte.
„Nein. Sie war der Annahme, dass ich mich mal wieder ein bisschen um dich kümmern sollte." Sie quittierte seinen Scherz, indem sie die Augenbrauen hob und ihre Arme vor der Brust verschränkte. „Immerhin hängen Anna und ich jetzt noch mehr zusammen, seit sie zuhause rausgeflogen ist und wir sie aufgenommen haben. Da dachte sie, es würde uns guttun, wenn wir mal wieder als Zweierteam unterwegs sind und meinen Anzug für den Abschlussball kaufen."
Sie kniff die Augen zu Schlitzen und bemerkte, dass sein Adamsapfel nervös auf und ab ruckte. Irgendwo hallte die Erkenntnis, dass es nur die halbe Wahrheit war, die ihr Sohn ihr gerade kredenzte. Dennoch freute sie sich über die Aussicht, heute mal wieder ihr Kind für sich zu haben. Sie liebte Anna aus ganzem Herzen. Aber er fehlte ihr. Also entließ sie ihren Sohn aus ihrer Musterung und entschied, dass sie diese Stunden genießen wollte.
„Na dann. Ich hoffe, wir finden was, womit du dich abfinden kannst. Bei Anna war es ganz einfach. Ich seh sie immer noch strahlen, als sie ihr Kleid gefunden und anprobiert hat." Sie trat neben ihn und bemerkte, wie seine Aufregung sich auf die Vorstellung verlagerte, dass er seine Anna in ein paar Wochen auf ihrem Abschlussball ausführen durfte.
Ich tu mich da noch ein bisschen schwerer damit. Ich kann gar nicht glauben, wie schnell die Zeit doch plötzlich verflogen ist. Ich spüre schon, wie ich ihn verliere. Hastig schob sie den trübsinnigen Gedanken beiseite, der ihr den Schlaf immer mehr raubte, wenn sie nachts allein in ihrem viel zu großen Bett lag und an die Decke starrte. Doch so sehr sie ihn auch festhalten wollte, so sehr freute sie sich für Flo, der so glücklich wie seit Ewigkeiten wirkte. Er hat sogar wieder angefangen zu zeichnen. Das hatte ich als für immer verloren geglaubt.
Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe und griff nach ihrer Handtasche, ehe sie ihrem Sohn ermunternd zunickte. „Ist ihr Kleid schön?"
„Hat sie dir nichts verraten?" Ein Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht, als ihr Sohn schmollend die Unterlippe vorschob und mit dem Kopf schüttelte. Ein Kichern stieg ihre Kehle hinauf und sie biss sich auf Zunge, um es dort zu ersticken. Stattdessen blitzte sie ihn vergnügt an. „Dann werde ich auch nichts verraten. Offenbar ist es ihr wichtig, dich zu überraschen."
„Das ist gemein. Ich hab gehofft, ich kann die eine oder andere Information aus dir rausquetschen." Jetzt kicherte Gretel doch, während sie mit dem Kopf schüttelte. Sie beobachtete, wie sein Unmut erlosch und ein Lächeln um seine Mundwinkel zupfte. Sie zwinkerte ihm zu und machte auf dem Absatz kehrt, um endlich aus dem Haus zu kommen. Die Aussicht, den Tag heute mit ihrem Kind allein zu verbringen, gefiel ihr immer mehr.
Sie öffnete die Haustür und wartete, bis Florian an ihr vorbei ins Freie getreten war, ehe sie die Tür ins Schloss klicken ließ. Sie registrierte, dass ihr Sohn auf dem kurzen Weg zwischen Einfahrt und Haus stehengeblieben war und er irgendwie nachdenklich das Gemäuer musterte. Sofort zog sich ihre Brust etwas zusammen, doch wieso wusste sie nicht. „Können wir?"
„Ja. Ja, klar. Hast du schon einen Plan?" Sie beobachtete, wie schwer es Flo fiel, seinen Blick vom Haus zu lösen, und fragte sich, wieso sich das Ziehen in ihrem Bauch verstärkte, ehe sie mit den Schultern zuckte.
„Ich dachte, du wärst derjenige mit dem Plan." Sie hielt ihre Stimme absichtlich vergnügt, obwohl das schiefe Lächeln, das ihr Sohn aufgesetzt hatte, nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden beitrug. Sie ging an ihm vorbei und sperrte ihr Auto auf. Ein Lufthauch verriet, dass Florian hinter ihr vorbeiging, ehe er den Wagen umrundete und die Beifahrertür öffnete. Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass er etwas auf dem Herzen hat? Ist Anna womöglich schwanger? Warum denke ich zuerst an diese Möglichkeit? Hör auf! Stopp! Du irrst dich bestimmt.
Schweigend setzte sie sich neben ihren Sohn und ließ den Wagen an, um mit ihm für sein letztes großes Schulevent einkaufen zu gehen. Wieder hallte die Frage durch sie, was er wohl für die Zukunft plante, doch sie wusste nicht so recht, wofür er sich entschieden hatte. Sie vermutete, dass er zu einem Entschluss gekommen war. Denn er war in den letzten Wochen spürbar ruhiger geworden. Es würde sie wahnsinnig interessieren, wo seine Bewerbung überall eingegangen war, doch darüber hatte er sich ausgeschwiegen. Muss er nicht langsam Bewerbungsgespräche führen? Aber er ist fast 19. Er muss mich nicht mehr über jeden seiner Schritte informieren. Womöglich hat er Gespräche geführt und er weiß nur noch nichts?
„Ma, ich sehe, wie du an der Innenseite deiner Wange herumkaust. Worüber denkst du nach?" Ihr Blick huschte automatisch zu ihm und sie zuckte mit den Schultern, ehe sie die Augen wieder der Straße zuwandte.
„Ich denke über dich nach. Daran, dass ich es kaum glauben kann, dass du dieses Jahr dein Abi schreibst und wohin dich die Zukunft führen wird." Sie hielt an der roten Ampel und wandte ihr Gesicht erneut Florians zu, der hörbar schluckte und plötzlich rutschte ihr das Herz in die Hose.
„Ja, also ... das ist ja ein komischer Zufall..." Das Lächeln, das um seine Mundwinkel zupfte, konnte sie nicht im Mindesten beruhigen. Reflexartig umgriffen ihre Finger das Lenkrad fester und sie starrte ihren Sohn an, der ihrem Blick kurz auswich, ehe er ihn wieder zu ihr wandern ließ. „Anna liegt mir schon seit einer Woche in den Ohren, dass ich es dir sagen muss."
„Was sagen?" Ihre Stimme überschlug sich und Flo zuckte hilflos mit seinen Schultern, ehe er sich räusperte.
„Wir ziehen nach Stuttgart. Im Sommer. Ich werde Illustrator. Da gibt es eine Schule, wo ich Illustration studieren kann, und Anna hat eine Ausbildung dort gefunden." Ihr Herz stockte in ihrer Brust, während sie sich schmerzhaft zusammenzog.
Sie hoffte trotzdem, dass ihr Blick nicht verriet, wie sie empfand. Denn sie zwang sich, Freude aus dem letzten Winkel ihres Seins hervorzukramen und sie mit einem Lächeln für ihn sichtbar zu machen. Es zählte nicht, dass der Gedanke ihr zusetzte, ihn künftig nicht mehr um sich zu haben. „Das klingt nach einem tollen Abenteuer, Florian."
„Ja, na ja, das wird es. Bestimmt. Du bist ok damit?" Sie gebot sich, das Lächeln noch breiter werden zu lassen und nickte. Sie hatte gewusst, dass er irgendwann gehen und den heimischen Garten verlassen würde.
„Aber natürlich. Ich bin ein großes Mädchen und kann auf mich alleine aufpassen, weißt du?" Leider schwankte ihre Stimme geringfügig und in Flos Augen schlich sich Bedauern, weil er es wohl wahrgenommen hatte. Trotzdem stimmte er ihr mit einem Murmeln zu und sie war dankbar dafür, dass er nur stumm seine Hand auf ihre Rechte legte, die auf dem Schaltknüppel ruhte. Da nun alles gesagt war, wandte sie den Blick nach vorne und versprach sich, dass sie jetzt diesen Tag – und die kommenden – noch mehr genießen würde.
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