I - 13
Genervt schob sie sich vom Sofa. Es klingelte Sturm und sie hatte überhaupt keine Ahnung, wer sie denn so dringend sehen wollte. Nick hatte sie für den heutigen Abend abgesagt. Emmy war unterwegs mit ihrem Freund. Flo mit Anna in Stuttgart. Alle anderen waren auf einer der großen Silvesterpartys, auf die sie auch mit Niklas gehen sollte. Nur war ihr nicht danach, sich mit der Tanzclique unter Fremde zu mischen und dort das neue Jahr zu begrüßen.
Sie konnte sich also partout nicht vorstellen, wer sie jetzt so dringend sehen wollte. Während sie in den Flur schlurfte, spürte sie, wie sich der Kloß in ihrem Hals erneut verdickte und verbot sich abermals, in Tränen auszubrechen. Sie würde diesen Abend durchstehen. Allein. Ohne jemanden ihre Laune aufzubürden. Mit einem Ruck riss sie die Tür auf und zuckte reflexartig zurück, als auch die Person vor dem Haus einen Satz machte. „Nick?"
„Hi." Er schien sich schnell wieder zu fassen, während Gretel siedendheiß einfiel, dass sie alles andere als vorzeigbar war. Hastig hob sie ihren Blick zurück zu seinem Gesicht, schlang ihre Arme um sich, da sie plötzlich fröstelte und schluckte, weil sein Silberblick so besorgt wirkte. „Du hast abgesagt. Ich wollte sehen, wie es dir geht. Ob du krank bist."
Der Kloß in ihrem Hals schwoll nochmal um ein Vielfaches an, ehe sie mit dem Kopf schüttelte. Sie bemerkte, wie sich seine Besorgnis in Irritation wandelte, die sich in seiner gerunzelten Stirn manifestierte. „Nein. Ich ... mir ist nur nicht ... nach Menschen."
„Oh – ok? Warum?" Sie wollte ihn einfach wegschicken. Der Knoten in ihrem Hals würde ihr wohl die Luft abdrücken, wollte sie nicht vor ihm in Tränen ausbrechen. Stattdessen wich sie seinem Blick aus und zuckte mit den Schultern. „Oh verstehe. Du badest in Selbstmitleid."
Jetzt zischten ihre Augen zurück zu seinem Gesicht und sie bemerkte, wie sich seine Stirn geglättet und er den Kopf schiefgelegt hatte. Reflexartig schob sich ihr Kinn vor. „Ich bade nicht in Selbstmitleid!"
Nachdem er seine Brauen nur abschätzig hob, schluckte sie. „Vielleicht ein bisschen."
„Hm. Und wie?"
Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, was er meinte. Dann seufzte sie und wich seinem Blick aus. Plötzlich schämte sie sich dafür, dass sie heute nicht mehr Elan aufbringen konnte. „Mit einer Schnulze und Wein. Viel Wein."
„Klingt super." Bevor sie dazu Stellung beziehen konnte, trat er einen Schritt vor. Sie wich automatisch zurück. Nick nutzte die Gelegenheit, um sich an ihr vorbei ins Hausinnere zu schieben. Irritiert verfolgte ihr Kopf seine Bewegung und sie merkte, wie ein warmer Schauer durch sie rieselte, den sie nicht verstand.
„Äh ... aber ... ich hab nur einen Pyjama an!" Sie bemerkte, wie seine Augen nun an ihrer Gestalt hinunterwanderte, ehe er ihr wieder ins Gesicht sah.
„Ja, seh ich. Und?" Reflexartig runzelte sie die Stirn und fragte sich, was sie jetzt erwidern sollte. Doch offenbar schien eine Antwort gar nicht nötig zu sein. Denn Nick hatte schon die Schuhe von den Füßen gestreift und machte Anstalten, sich aus seiner Jacke zu schälen. „Schön hast du es hier."
„Hm." Er unterbrach sich, seinen Parka auszuziehen und lächelte leicht, als sein Blick an dem großen Porträt hängenblieb, das sie heute nicht anschauen wollte, um sich nicht endgültig ihren Emotionen ergeben zu müssen.
Obwohl sie die Augen zu Boden gesenkt hatte, meinte sie zu spüren, wie seine zu ihr wanderten und er sie stumm musterte. Zumindest prickelte sein Blick auf ihren eingesackten Schultern. Plötzlich ließ das Gefühl nach und sie hörte, dass er offenbar dazu übergegangen war, seine Jacke weiter abzustreifen. Eine Bewegung im Augenwinkel bewies, dass er sie an die Garderobe hängte und Gretel traute sich wieder, ihn anzusehen. „Wollen wir dann?"
Seine Worte klangen sanft und sie nickte nur kurzangebunden. Was sollte sie auch anderes tun? Sie murmelte, er solle ihr folgen und wandte sich ab, um durch den großen Torbogen in ihren Wohnbereich zu treten. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie seine Schritte hinter sich vernehmen. Warum ihr Herz dabei stolperte und dann zu rasen anfing, verstand sie nicht. Aber es war so.
„Setz dich doch schon mal. Ich ... hm ... hol noch ein Weinglas?" Sie wusste, dass es unwahrscheinlich kindisch war, ihn nicht anzusehen. Ihre Scham war gerade schlicht zu greifbar, um seinem Blick zu begegnen. Darum atmete sie fast erleichtert aus, als sie seine Zustimmung hörte und in der Küche verschwinden konnte.
Sie streckte sich kopfschüttelnd und holte einen Weinkelch aus dem Hängeschrank über der Spüle. Anschließend wollte sie den Raum wieder verlassen, als sie bemerkte, dass sich tatsächlich etwas Staub auf dem Glas abgesetzt hatte. Sie starrte auf den Dreck und schluckte. Erst jetzt ging ihr auf, dass sie offenbar so lange nicht mehr mit jemanden bei sich zuhause Wein getrunken hatte, dass ihre Gläser noch sauber waren. Nur das eine, das ich ab und an nutze.
Hastig wandte sie sich der Spüle zu und drehte den Wasserhahn auf. Sie befeuchtete ihren Spüllappen und gab einen Tropfen Spülmittel ins Glas. Wie eine Besessene schrubbte sie den Schmutz ab, um das Zeugnis ihrer Einsamkeit zu beseitigen. Ihre Sicht verschwamm ein wenig, weil sich nun doch Tränen in ihren Augen sammelten. Mühsam hielt sie sie zurück. Als sie endlich das Gefühl hatte, dass es ihr gelungen war, riss sie sich zusammen. Im Stillen dankte sie Niklas dafür, dass er sie in Ruhe gelassen hatte, und angelte nach dem Geschirrhandtuch.
Nachdem sie das Glas abgetrocknet und wieder das Gefühl hatte, Nick gegenübertreten zu können, ging sie zurück in den Wohnraum. Sie bemerkte, wie sich sein Kopf zu ihr drehte und er sie musterte. Augenblicklich war der Knoten in ihrem Hals wieder da. „Alles gut?"
„Ja ... nur ... nur das Glas war schmutzig. War lang nicht mehr in Benutzung..." Sie beobachtete, wie er nickte und sein Blick zu den zwei Weinflaschen auf dem Tisch wanderte. Eine war schon geleert. Von der zweiten schwamm bereits ein Teil in ihrem Glas. Betroffen biss sie sich auf die Unterlippe und griff nach dem Rotwein, um ihrem unverhofften Gast einzugießen. Dabei schien sich sein Blick wieder in ihre Haut einzubrennen. Doch er schwieg. Sie reichte ihm sein Glas, ließ sich neben ihm aufs Sofa gleiten und rang mit sich, ihren Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen. Du bist echt unmöglich! Reiß dich endlich zusammen!
„Hey." Jetzt ruckte ihr Blick doch zu ihm, als er zusätzlich eine Hand auf ihr Knie legte und sie schluckte. „Erzähl."
Hilflos schüttelte sie mit dem Kopf, konnte nun die Tränen aber nicht mehr zurückhalten. Das Haus war einfach unerträglich leise, seit sie von Florian und Anna aus Stuttgart zurückgekommen war. Dennoch hatte sie nicht die Kraft, so zu tun, als wäre sie ok. Sie war nicht ok. Und das hätte sie jedem in ihrem Umfeld gezeigt. Sie schluchzte auf, als Nick sein Glas auf den Couchtisch stellte und sie in seine Arme zog. Sie spürte seine Wärme. Wie sie auf sie überspringen wollte. Hastig biss sie sich auf die Unterlippe, um die Töne zu ersticken, die sich in ihrer Kehle sammelten. Sie hasste es, sich so zu fühlen. Das sanfte Streicheln ihres Rückens brach jedoch ihren Widerstand und sie merkte, wie er von ihr abfloss, und sie gegen seine Brust sank. „Schon ok."
Sie schüttelte mit dem Kopf und nuschelte: „Ich bin gar nicht der Typ für viele Tränen."
Niklas murmelte eine Zustimmung und sie wunderte sich, wie er sie verstehen konnte. Dass er es trotzdem tat, brachte eine winzige Stelle in ihr zum Glühen. „Ich ... wieso sollte ich heute feiern? Ich bin einsam, egal, wie viele Menschen ich noch um mich häufe. Meine beste Freundin ist frischverliebt. Und ich freu mich für sie. So sehr. Doch es tut weh, weil ... Flo und Anna sind nochmal so viel mehr zusammengewachsen. Sie sind so toll zusammen, waren sie schon immer. Aber ich bin allein. Das ist ok. Meistens. Heute nicht. Morgen wieder."
„Ja. Das ist ok." Sie spürte, wie er weiterhin gelassen über ihren Rücken streichelte und plötzlich nahm sie seinen Herzschlag wahr. Das stetige Ko-Gong-ko-Gong füllte sie mit jedem Pochen mehr und brachte das Glühen in ihr dazu, einen Lichtbogen zu schlagen, der immer weitere Risse in den Eispanzer in ihrer Brust verursachte. „Aber du bist nicht allein, Gretel. Ich bin hier."
Jetzt drang doch ein Seufzen aus ihrem Mund und sie schüttelte hastig den Kopf, als Emmy sie musterte. Zum Glück bat der Fotograf sie nun, sich um das Brautpaar zu scharen, um ein paar Gruppenfotos zu machen. Sie stellte sich also neben Florian und lächelte ihn an, als er den Arm um ihre Schultern legte. Sie wollte ihre linken gerade um seine Taille schlingen, als der Fotograf sie bat, zu warten. Augenblicklich hielt sie mitten in der Bewegung inne und wartete darauf, dass er ihr weitere Anweisungen gab. Doch zu ihrer Überraschung wandte sich der Mann ab und lief zu seiner Tasche mit der Ausrüstung. Er zog einen Bilderrahmen hervor und ihr Blick jagte zu Florian, nachdem sie erspäht hatte, was sich darauf befand: Es war das Bild seines Vaters, wie er sich in seiner Lederjacke grinsend an sein Motorrad lehnte. „Er gehört dazu. Oder?"
Automatisch nickte sie und bemühte sich, nicht loszuweinen, weil sich ihre Kehle so zusammenzog, als sie den großen Bilderrahmen entgegennahm und ihn sich vor die Brust hielt.
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