Five
19 Tage bis Weihnachten
F L O R E N C E
Ich hing meinen Mantel wie gewöhnlich an den Kleiderständer links neben der Garderobe und folgte dann meinem inneren Navi bis in den Gemeinschaftsraum, in dem ich die Anwesenheit meiner Kollegin und auch beste Freundin spüren konnte.
"Morgen Sky", begrüßte ich sie und hörte ein tiefes Seufzen ihrerseits.
"Wie schaffst du es nur jeden Tag aufs Neue zu wissen, dass ich ebenfall hier bin ohne mich zu sehen?", fragte sie mich ebenfalls jeden Tag wieder.
"Das hab ich dir doch schon tausend Mal erklärt. Wir blinde haben zwar nicht mehr den Sinn Sachen zu sehen, doch unser Instinkt ist besser ausgeprägt als die sehender Menschen. Wir fühlen die Anwesenheit anderer Personen, anderer Tiere. Uns wurde zwar eines unserer Sinne genommen, aber ein viel wertvollerer geschenkt."
Ich brachte sie mit meinen Worten zum Schmunzeln und erkundigte mich bei ihr, wann den meine erste Führung durch den dunklen Raum stattfinden würde.
"Bereits in zehn Minuten, heute morgen hat jemand angerufen und wollte unbedingt eine Führung bei dir haben. Er hat nicht locker gelassen, bis ich ihn noch in deinen Terminkalender eingeschoben habe, ich hoffe du hast nichts dagegen?"
"Oh nein auf keinen Fall, ich freu mich immer, wenn Leute einen Einblick ins Leben eines blinden Menschens haben wollen", antwortete ich und machte mich auf den Weg in den Raum, indem selbst ein gesunder Mensch seine Hand vor Augen nicht sehen konnte.
Ich bereitete alles notwendige vor, kontrollierte, ob auch alle Türen geschlossen waren und rief nochmal extra nach Sky, die nachsehen sollte, ob alle Lichter ausgeschaltet waren.
Sky gab mir über ein In-Ear das Zeichen, dass unser Besuch gerade eben eingetroffen ist und ich mich bereit machen sollte.
"Übrigens, er ist richtig heiß", flüsterte sie nochmal und ich musste innerlich in mich hinein lachen.
Ich stellte mich an die richtige Stelle und wartetete darauf, dass Sky meine Kundschaft zu mir brachte.
Er musste durch eine Art Labyrinth zu mir gelangen, in dem es von Kurve zu Kurve finsterer wurde, bis er schluss endlich garnichts mehr sehen konnte.
"Viel Glück", hörte ich Sky noch sagen, wusste aber nicht, ob sie mit mir oder dem Jungen geredet hatte.
"Und was soll ich jetzt zun?", fragte der Junge ziemlich hilflos und ich traute meinen Ohren kaum.
"Luke?", fragte ich völlig perplex.
"Gott sei Dank bist du da, ich dachte ich müsste den Weg hier durch alleine finden", sagte er lachend.
"Was machst du hier?", fragte ich ihn völlig überrascht.
"Lange Geschichte."
"Wir haben Zeit, immerhin bezahlst du mich hier gerade", lachte ich.
"Nunja, also, als ich dir das erste Mal an der Ampel begegnet bin konnte ich beobachten, dass du dieses Gebäude hier betrittst, ich wusste aber nie was sich hier drinnen befand. Also setzt ich mich zu Hause an den Computer und fand heraus, dass blinde Leute, so wie du, hier anderen Menschen anbieten einen Blick in euer Leben zu bekommen. Ich recherchierte fast die ganze Nacht über diese Einrichtung hier und wollte unbedingt an einer deiner Führungen teilnehmen. Gestern warst du leider komplett ausgebucht und deine Kollegin musste mich leider vertrösten. Heute hatte ich mein Glück nochmal versucht und gab nicht auf, bis mir ein Termin zugesagt wurde und nun stehe ich hier vor dir und kann genauso viel sehen wie du."
"Das stimmt nicht. Ich sehe mehr als du denkst. Ich sehe die inneren Werte, die Leute mit Augenlicht gerne übersehen."
"Vielleicht kannst du es mir lernen", flüsterte Luke und bereitete mir damit eine Gänsehaut.
"Vielleicht", sagte ich leise. "Aber nun beginnen wir erstmal mit der Führung. Wenn du dich rechts nach unten bückst spürst du einen Stock. Nimm diesen bitte fest in die rechte Hand und achte darauf, dass du ihn während unserer Führung nicht verlierst. Er wird das einzige Hilfsmittel sein, dass du bekommst. Folg meinen Anweisungen und sei immer achtsam."
Ich konnte hören, wie Luke sich nach unten bückte und den Boden nach dem Stock absuchte. Was ich ihm nicht verraten hatte war, dass sich sein Stock noch immer in meiner Hand befand und ich ihn anfangs noch etwas zappeln lies.
Schließlich legte ich den Stock ohne ein Geräusch zu verursachen auf den Boden und hörte wie Luke ein triumphierendes: "Ich hab ihn", von sich gab.
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Kleine Anmerkung, diese Einrichtung gibt es bei uns in Wien wirklich & ich durfte selbst schon die Erfahrung machen. Ich möchte euch mit dieser Story einen kleinen Einblick meiner Erfahrungen schenken & hoffe es gut übermitteln zu können.
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