Sonntag, 15. Dezember 2019
Und wieder ist eine Woche vergangen wie im Flug. Es gibt mindestens einen Sonntag im Monat - meistens eher zwei - an denen ich mich frage was ich eigentlich während dem Rest der Woche gemacht habe. Geschlafen, sodass ich überhaupt nicht bemerkt habe wie schnell die Zeit verging? Vermutlich.
Zumindest kommt es mir heute morgen so vor, obwohl ich mich ziemlich gerädert fühle. Das allerdings könnte auch dran liegen, dass Mama und Papa gefühlt die halbe Nacht nur diskutiert haben. Und das in einer Lautstärke das ich dachte, sie würden direkt vor meiner Zimmertür stehen. Vielleicht haben sie sich auch angebrüllt, so genau konnte ich das irgendwann nicht mehr auseinander halten. Die Folge Lucifer hat mich ziemlich gut abgelenkt und irgendwann konnte ich mit ihr sogar einschlafen. Dann war mir sowieso alles egal.
Als mein Wecker heute zu einer wirklich frühen Stunde geklingelt hat, habe ich mich allerdings ziemlich gerädert gefühlt. Nicht einmal die Dusche hat es wirklich besser machen können. Da heute der 3. Advent ist, steht damit das alljährliche Familien brunchen bei uns zu Hause statt. Es ist eine unserer Familientraditionen und nachdem ich meine Haare mit einem Lockenstab in leichte Wellen verwandelt habe, stehe ich wieder in meinem Zimmer vor dem Kleiderschrank.
Obwohl ich die ganze Zeit zwischen Jeanshose und Rock geschwankt habe, entscheide ich mich letzten Endes für ein dunkelrotes Kleid mit Rundkragen. Meine Zwillingsschwester hat dasselbe nur in einer anderen Farbe und mit einem anderen Kragen. Wir haben sie letztes Jahr an Weihnachten getragen und auf den Familienbildern sehen wir doch ziemlich gut aus. Mir gefällt das Bild im Wohnzimmer. Mama hat es auf Leinwand drucken lassen und neben den Fernseher gehängt. Mama und Papa Arm in Arm vor dem Weihnachtsbaum. Hannah und ich in der Hocke davor und in unserer Mitte Moritz. Die Beine weit auseinandergestellt und die Arme über die Schultern von meiner Zwillingsschwester und mir gelegt. Es ist ein schönes Bild, auch wenn es nur eine Illusion ist. Eine Fassade, die Mama und Papa für alle Menschen spielen.
Nachdem ich in eine Feinstrumpfhose geschlüpft bin und mir das Kleid übergezogen habe, schlüpfe ich in schwarze Ballerina. Da wir uns sowieso nur hier in der Wohnung aufhalten werden muss ich nicht unbedingt Wintertaugliche Schuhe anziehen.
Aus dem Koch-, Wohn- und Essbereich höre ich bereits weihnachtliche Musik. Klassiker, wie ich sie so überhaupt nicht leiden kann. Wenn es wenigstens etwas modernes wäre. Aber nein, wenn dann muss man schon richtig Weihnachten feiern. Am Esstisch sitzt mein Bruder, im blauen Pinguin-Schlafanzug und löffelt Nougatbits aus einer weißen Müslischale. Er grinst mich mit milchverschmiertem Mund an, bevor er wieder auf das iPad blickt, dessen Kopfhörer er in den Ohren hat. Ich habe keine Ahnung was mein Bruder sich reinzieht, aber mehr als ein Lächeln bekomme auch ich nicht zustande.
Manchmal frage ich mich ja schon, ob Moritz von dem Drama zwischen unseren Eltern etwas mitbekommt. Er lässt sich nichts anmerken, scheint nicht betrübt zu sein und hat meistens schon in den frühen Morgenstunden gute Laune. Allerdings würde es mich auch nicht wundern wenn er etwas von dem Gezanke mitbekommt. Mama und Papa sind weder unauffällig noch leise. Trotzdem würde es mich wundern wenn es ihm weniger ausmacht als mir.
In der Küche finde ich meine Mutter, die bereits am rotieren ist. Wie an jedem 3. Advent versucht sie gleichzeitig alles für das Brunchen fertigzumachen. Obwohl sie an jedem Samstag zuvor bereits einen Großteil macht. Außerdem bringen die Browns sowie Oma ja auch immer noch etwas mit.
"Guten Morgen Mama. Kann ich dir irgendetwas helfen.", frage ich, während ich auf die Kaffeemaschine zusteuere und aus dem Hängeschrank eine blaue Tasse heraushole. Nachdem ich auf den Knopf gedrückt habe und die Maschine zu schnurren beginnt, drücke ich Mama einen Kuss auf die Wange. Tatsächlich deutet Mama auf die Orangen-Presse auf der Theke und sagt: "Du könntest die Orangen auspresse."
Ich nicke, schnappe mir meine Tasse von der Kaffeemaschine und mache mich an die Arbeit. In wenigen Stunden wird der Rest unserer Familie hier sein und dann sollten wir fertig sein und die Küche sollte glänzen. So zumindest bin ich das von den letzten Jahren gewöhnt. Wo Papa sich befindet kann ich nur raten, aber nach der vergangenen Nacht habe ich nicht wirklich das Bedürfnis mir darüber Gedanken zu machen. Als wäre es nicht nervenaufreibend genug, dass ich noch nicht weiß was ich heute Abend zu dem Treffen mit Jin anziehen soll.
∞
"Kommst du heute Abend mit auf den Weihnachtsmarkt?", fragt Lucie und lässt sich samt einem Teller voller Leckereien neben mir auf das Sofa plumpsen. Über den Bildschirm flackert ein Kinderfilm, den Luna und Moritz zusammen ausgesucht habe und der Ton ist so leise eingestellt, dass sich die Erwachsenen am Tisch nicht gestört fühlen. Papa ist tatsächlich kurz vor dem Eintreffen der anderen aufgetaucht und hat dann erstmal das Badezimmer blockiert um sich in aller Eile fertig zu machen. Das Moritz und ich uns beinahe in die Hosen gepinkelt haben, hat ihn nicht wirklich interessiert.
"Was?", frage ich meine Cousine und wende den Blick von dem Flachbildschirm an. Ich greife nach dem Lachsröllchen auf meinem Teller und schiebe es mir in den Mund, bevor ich kauend zu meiner Cousine blicke und fragend meine Augenbraue hebe. Habe ich die letzte Minute irgendwie gedanklich verschlafen oder wieso habe ich keine Ahnung wovon meine Cousine redet.
Lucie verdreht grinsend die Augen und schüttelt dann den Kopf. Sie platzierten den Teller auf ihrem Schoß und achtet darauf, dass der schwarze Rock nicht zu weit nach oben rutscht. "Ich gehe heute Abend mit Luca auf den Weihnachtsmarkt. Und ich hatte überlegt ob du uns begleiten willst."
"Ich will euch doch nicht bei eurem Date stören." Irritiert blicke ich meine Cousine an. Wie kommt sie bloß auf die Idee, dass ich das fünfte Rad am Wagen sein will? Sie weiß doch, dass ich ihre Privatsphäre schätze. Vor allem dann, wenn sie ihre Zeit mit Luca verbringen will. Ich muss mir das Geturtel der beiden echt nicht öfter als nötig antun. Mir hat es gestern echt gereicht während dem Kindergeburtstag mit den beiden zusammen sein. Ich freue mich für meine Cousine und ich gönne ihr das Glück wirklich. Aber manchmal sind sie und Luca einfach nur lästig.
"Das ist kein Date. Du störst überhaupt nicht.", wehrt Lucie ab und schenkt mir ein Lächeln, bevor sie sich einen Käse-Spieß in den Mund schiebt und genüsslich die Augen schließt. "Ich würde nicht fragen wenn du uns stören könntest."
Trotz ihrer Worte winke ich ab. "Ich habe schon eigene Pläne für heute Abend. Mach dir um mich mal keine Sorgen."
Sorgen sollte bestenfalls ich mir machen, denn ich habe keine Ahnung was heute Abend auf mich zukommt.
∞
Schweigend gehe ich neben Jin her. Wir haben uns an der S-Bahn-Station der Hochschule getroffen und laufen mittlerweile zwischen den Buden des Weihnachtsmarktes hindurch. Seitdem wir aufeinander getroffen sind, haben weder er noch ich ein Wort verloren. Wir sind tatsächlich beide nicht besonders gut mit Worten. Ich weiß einfach nicht wie ich ein Gespräch zum Laufen bringen könnte. Und er scheint ebenfalls keine Ahnung zu haben wie er mich ansprechen sollte.
Und obwohl wir noch nicht miteinander gesprochen habe und nur mit einem Abstand von fünfzehn Zentimetern nebeneinander herlaufen, brennt mein Körper als hätte er sich selbst entzündet. Oder sollte ich eher sagen: Als hätte Jin ihn entzündet?
Immerhin ist er der verdammte Grund dafür.
"Willst du was trinken?", kommt schließlich jedoch von ihm und überrascht blicke ich vom Boden zu ihm auf. Hier ist es nicht so voll wie in Stuttgart auf dem Weihnachtsmarkt, somit wird man auch nicht von der Menschenmenge hilflos voran geschoben. Statt jedoch zu mir herunterzublicken sieht Jin auf einen Stand an, der Glühwein und Kinderpunsch verkauft. Also kann er auch mein Kopfschütteln nicht sehen. "Nein, aber nett das du fragt."
Und schon versiegt das Gespräch zwischen uns wieder.
Das Wissen, mich haltlos in den Koreaner verknallt zu haben, macht diese gemeinsame Zeit mit ihm nicht einfacher. Ich weiß nicht wie er im Bezug auf mich steht. Ich weiß nicht wieso er mich geküsst hat. Ich weiß ja nicht einmal wieso wir überhaupt hier sind. Und nicht einmal mein heftig pochendes Herz kann meinen Verstand darüber hinweg trügen.
Erst als wir uns wieder auf dem Rückweg zu den Wohnheimen der Hochschule und damit der Hochschule und auch der S-Bahn-Station befinden, begreife ich die Lage wirklich. Ich habe ein Treffen allein mit Jin. Ein Treffen bei dem wir reden sollten. Ein Treffen das endlich Klarheit verschaffen sollte. Ich sollte endlich mehr erfahren über ihn. Über seine Motivation. Über sein Gehirn. Ich sollte endlich antworten finden. Antworten darauf, warum er mich geküsst hat obwohl er mir ziemlich offen seine Abneigung entgegen bringt.
Und jetzt, jetzt laufe ich hier neben Jin her. Und obwohl ich schon über eine Stunde mit ihm zusammen bin, bin ich noch nicht einen einzigen Schritt weiter. Ich weiß noch genauso viel - oder eher genauso wenig - wie noch heute Morgen. Außer den neun Worten haben wir nichts miteinander gesprochen. Und dennoch pocht mein Herz bis zum Hals. Alles in mir scheint bis zum Zerreißen gespannt und der Kloß in meinem Hals nimmt mit jeder Sekunde zu. Meine Hände fühlen sich eiskalt an, obwohl ich Handschuhe trage. Meine Muskeln arbeiten beinahe vollkommen mechanisch als wäre mein Körper auf Autopilot eingestellt.
Ich würde so gerne etwas an dieser Situation ändern. Ich würde so gerne etwas sagen. Aber ich weiß einfach nicht was.
Sollte ich ihn nach seinen Hobbies fragen? Sollte ich ihn nach seiner Familie fragen? Sollte ich ihn überhaupt etwas fragen? Ich weiß es einfach nicht. Ich weiß einfach überhaupt nichts mehr. Mein Kopf fühlt sich an als würde er platzen.
"Jin?" Meine Stimme ist leise, doch da wir die einzigen beiden Personen sind die hier auf dieser Straße im Lampenschein durch die Dunkelheit laufen, dröhnt sie mir selbst im Ohr. Beinahe zucke ich zusammen und stelle mit erschrecken fest, dass Jin neben mir nicht so überrascht von meiner Stimme ist. Statt zusammenzuzucken bleibt er stehen und dreht mich am Handgelenk zu sich herum.
Ich hebe den Blick und sehe nach oben, direkt in seine dunkeln Augen. Sie scheinen wie schwarze Löcher, durch die schlechte Belichtung. Schwarze, glitzernde und funkelnde schwarze Löcher. Mein Herz macht einen Hüpfer und prescht dann in meiner Brust beinahe davon. Könnte es aus meinem Körper springen, dann würde genau das jetzt passieren.
Seine langen Finger liegen um mein Handgelenk als hätte er Angst ich könnte mich gleich in Luft auflösen. An der stelle an der er meinen Mantelärmel nach oben schiebt und zwischen dem Handschuh und dem festen Stoff ein Stückchen Haut herausblitzt, fühlt sich seine Berührung an wie pures Feuer.
Als würde mein Körper nicht ohnehin schon glühen, verstärkt dieses Gefühl sich dadurch auch noch.
"Charlie." Seine Stimme ist nicht lauter als die meine, doch auch sie dröhnt mir in den Ohren. Bringt meinen Körper zum Vibrieren und Beben. Mein Unterleib zieht sich zusammen, doch das Kribbeln will einfach nicht aufhören. Will einfach nicht stoppen, so krampfhaft ich auch daran denke. Ich weiß nicht ob seine Stimme der Auslöser dafür war oder ob es seine Berührung ist. Ich weiß nur, dass ein Feuerwerk in meinem Körper zu explodieren scheint und ich beinahe zu zerbersten drohe.
"Verdammt was machst du nur mit mir?", kommt es mir über die Lippen, bevor ich wieder mit geöffnetem Mund zu dem Koreaner nach oben starre und nur schwer den Kloß in meinem Hals herunterschlucken kann. Was macht er mit meinen Gefühlen, mit meinem Verstand und meinem Körper? Er scheint allein durch seine Anwesenheit einfach alles in Besitz zu nehmen und zu verschlingen. Als wäre er das schwarze Loch das seine Augen widerspiegeln.
Scharf atme ich ein, als auch er die rosafarbenen Lippen öffnet und mit rauer Stimme sagt: "Dasselbe könnte ich dich fragen."
Wieder schweigen wir. Starren uns nur an und vergessen nicht nur unsere Umgebung, sondern auch die Zeit. Es könnten Stunden vergehen und ich würde es nicht bemerken. Es wäre mir allerdings auch vollkommen egal. Zu gefangen bin ich von seinem Blick, seiner Anwesenheit, einfach von ihm. Mein Atmen geht schwer und rasseln, wie mein Puls. Ich glaube wenn mein Herz auch nur noch ein kleines bisschen schneller schlägt, dann würde es einfach aufhören wegen Überanstrengung.
"Ich habe so etwas noch nie zuvor gespürt und ich weiß auch nicht, was genau es bedeutet. Aber du löst etwas in mir aus Charlie." Jin schluckt schwer und ich sehe ihm an, dass ihn die Worte nicht nur eine Menge Mut kosten. Wäre ich zu einer Reaktion fähig würde ich sicherlich nicken und ihm zustimmen, doch ich bin viel zu gefangen von seinem dunklen Blick. "Ich weiß auch nicht wohin uns das führen wird. Ich weiß selbst noch nicht, wie ich damit umgehen soll. Aber eines weiß ich zwischen all den Unklarheiten. Ich weiß, dass ich dich will. Mit Haut und Haar."
Ohne zu blinzeln sehe ich ihm in die schwarzen Augen, mein kräftig pochendes Herz in meiner Brust und mit meinem stockenden Atem. Ich weiß, dass er mir gerade nicht seine Gefühle gesteht. Das wäre zu schön um wahr zu sein. Ich glaube ihm auf's Wort, dass er nicht weiß was genau er fühlt. Denn viele Tage dieses Monats ging es mir genauso. Und ich nehme es ihm nicht böse. Ich weiß, dass er mir hier an dieser Stelle nur sagt, dass er mit mir schlafen will. Und das offensichtlich mehr als alles andere. Und auch das nehme ich ihm nicht übel. Er ist mit sich und seinen Gefühlen nicht minder überfordert als ich.
Und obwohl ich weiß, dass ich mich nicht darauf einlassen sollte und darauf bestehen sollte, dass er sich erst einmal über seinen Standpunkt zu mir klar wird, nicke ich. Ich nicke einfach und bringe beinahe flüsternd über die Lippen: "So geht es mir auch."
"Ich will dich auf keinen Fall zu etwas drängen. Ich weiß ja selbst nicht einmal warum ich dir das alles sage. Aber ich will dir auch keine Hoffnungen machen. Denn ich weiß nicht, was ich fühle oder auch nicht fühle. Ich weiß nur was ich will.", ruft mir Jin erneut in's Gedächtnis, doch ich lege ihm nur die Hand auf die Wange. Mein Verstand hat sich wohl in den Feierabend verabschiedet, denn ich hauche nur "Ich weiß.", stelle mich auf die Zehenspitzen und überbrücke den Abstand zwischen unseren Lippen.
Das Feuerwerk in mir explodiert erneut und mein Herz setzt für einen Schlag aus.
Und obwohl ich noch immer noch weiß was das zwischen uns ist und wie wir zueinander stehen, fühlt sich dieser Kuss von meiner Seite aus so richtig an, dass er unmöglich falsch sein kann.
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