Mittwoch, 18. Dezember 2019
"Wow Charlie, du siehst ja immer noch nicht besonders besser aus.", stellt Paddy am Morgen vor dem Kaffeeautomaten fest, wo wir uns vor der ersten Vorlesung treffen. Ich schenke meiner Freundin einen missmutigen Blick und betrachte dann grimmig die noch ziemlich Schlange vor uns.
Ich würde niemals offen zugeben, dass mich ihre Worte doch ziemlich hart treffen. Obwohl sie mich gleichzeitig auch nicht wirklich überraschen. Für das Treffen mit den Christmas-Party-Planern habe ich zwar versucht die schlimmsten Spuren in meinem Gesicht zu verwischen und mit Make-up zu retten was zu retten war. Meiner Meinung nach ist mir das auch ziemlich gut gelungen. Aber das ist es mir in meinen Augen heute morgen ebenfalls.
"Süße ich meine nicht dein Äußeres. Ich meine deine Ausstrahlung. Deine Augen. Du siehst echt fertig aus.", versucht Paddy nun zu retten was sie noch kann. Das jedoch ist nicht besonders viel, denn mit ihren Worten macht sie die Situation kein bisschen besser. Ich habe die ganze Nacht kein einziges Auge zu getan. Und ich wünsche mir wirklich, dass meine aktuelle Serie der Grund dafür ist. Aber das ist sie nicht und ich hab keine Ahnung was in den Folgen, die vergangene Nacht über den Bildschirm meines Laptops geflimmert sind, überhaupt passiert ist. Mir wird vermutlich nichts anderes übrig bleiben als die Folgen nochmal zu sehen. Was ziemlich ärgerlich ist. Denn ich habe Grimm am Montagabend erst begonnen und laut der Netflix-Einblendung ist die Serie nur noch bis zum 05. Januar verfügbar. Das bedeutet ich muss mich ranhalten.
Obwohl, das sollte an Weihnachten nun ja nicht mehr besonders schwer sein. Ich war gestern zwar nicht mehr zu Hause als meine Eltern sich noch beide in der Wohnung befunden haben, aber Mama kam tatsächlich am Abend nicht nach Hause und sie hat einige ihrer Kleidungsstücke mitgenommen. Außerdem habe ich von Hannah die Nachricht bekommen, dass Mama bei ihr aufgetaucht ist. Während ich Moritz gegenüber die Trennung unserer Eltern verschwiegen habe, habe ich meine Schwester eine Nachricht geschrieben. Ich wollte sie mit einem Anruf nicht aus ihrem Schlaf reißen, denn die kleine Prinzessin hat sie bis in die frühen Morgenstunden wachgehalten.
Ich wage ja tatsächlich zu bezweifeln, dass Weihnachten dieses Jahr in unserem Haus stattfindet - so wie eigentlich geplant. Ich hasse Weihnachten ja sowieso, aber nach dem gestrigen Tag ist es dieses Jahr einfach noch schlimmer. Meine Schwester wollte eigentlich am Freitag mit Freund und Kind nach Hause kommen. Aber ist diese Wohnung überhaupt noch unser zu Hause?
Moritz hat gestern Abend immer wieder nach Mama gefragt und jedes Mal musste ich ihm sagen, dass Hannah mit ihrer kleinen Tochter einige Schwierigkeiten hätte und Mama ihr helfen muss. Einfach weil ich nicht wusste was ich sonst über ihren Verbleib sagen sollte. Papa kam erst spät von der Kanzlei nach Hause. Moritz hat zu diesem Zeitpunkt bereits tief und fest geschlafen, sodass nur ich seine Schlüssel in der Schale auf der Kommode im Flur gehört habe. Als ich heute morgen aufgestanden bin um meinen Bruder für die Schule zu wecken, war Papa bereits verschwunden. Vermutlich bereits in der Kanzlei. Aber wann er das Haus verlassen hat kann ich absolut nicht sagen.
Ich kann nur hoffen, dass Papa heute mit meinem Bruder reden wird. Ich möchte ihm nicht erklären was zwischen unseren Eltern falsch gelaufen ist. Ich weiß ja nicht mal ob sie uns von der Affäre vor fünf Jahren berichtet hätten. Ich habe das Ganze ja sowieso nur durch Zufall gehört. Hätte ich morgens nicht in den Stundenplan geschaut und festgestellt, dass nicht nur die Nachmittagsvorlesung wegen Krankheit ausfällt, wäre ich auf dem Weg zur Uni gewesen oder wäre bereits in der Bibliothek zum Lernen gesessen. Beinahe bereue ich schon, dass ich nicht erst in der Bahn auf den Plan geschaut habe. Dann wäre mir das ganze Drama erspart geblieben. Allerdings wüsste ich dann immer noch nicht was eigentlich zwischen meinen Eltern passiert ist.
"Schon okay.", nehme ich Paddys Irgendwie-Entschuldigung an. "Ich habe letzte Nacht einfach viel zu wenig geschlafen. Mein Kopf war zu voll."
"Worüber hast du dir denn solche Gedanken gemacht? Etwa um einen gewissen Austauschstudenten, der gerade ziemlich lüstern zu uns herüber starrt?" Paddy grinst breit und ich drehe mich ein kleines bischen zur Seite um den Flur hinter mir sehen zu können, während ich einen Schritt in der Schlange nach vorn mache.
Etwas weiter vorn im Flur erkenne ich die koreanischen Studenten und einer von ihnen starrt tatsächlich in unsere Richtung. Oder viel eher starrt er mich an. Ob sein Blick wirklich lüstern ist kann ich jedoch über die Distanz nicht wirklich erkennen. Ebenso wenig wie ich andere Emotionen aus seinem Gesicht ablesen kann. Doch den zusammengepressen Kiefer kann ich sogar hier erkennen.
"Ist zwischen euch irgendetwas passiert?", fragt Paddy weiter und mich beschleicht die Vermutung, dass sie heute wirklich mit den Fingern in den offenen Wunden herumpfuschen muss.
Da ich mit ihr genauso wenig über Jin sprechen will wie über meine Familie, schüttle ich nur den Kopf und drehe der Gruppe wieder den Rücken zu. Stattdessen sehe ich meine Freundin an, rutsche wieder einen Schritt nach vorn und sage: "Nein. Nicht's relevantes. Ich lass es nur auf mich zukommen und verbeiße mich nicht mehr. Vielleicht klappt das ja besser als die letzten Tage."
"Hm.", macht Patrizia nur und nickt langsam, während sie mich prüfend anstarrt. Um ihrem Blick auszuweichen, sehe ich an ihr vorbei in Richtung des Automaten und tue so als würde ich die Wartezeit abschätzen.
∞
Die Nachmittagsvorlesung neigt sich endlich dem Ende zu und ich komme nicht drum herum, nervös mit dem Fuß unter dem Tisch zu wippen. Heute Abend werde ich mit meinem Bruder, sowie dem Nachbarsjungen Ben und meiner kleinen Cousine noch ins Kino gehen. Natürlich nicht allein. Lucie und Luca werden ebenfalls mitkommen, denn die Kindern sind für uns ein genialer Vorwand Die Eiskönigin 2 zu sehen. Meiner Cousine und mir würde ich auch zutrauen einfach so in's Kino zu gehen, aber das hat sich einfach ziemlich gut so ergeben. Ich kann nur hoffen, dass Papa heute Mittag zu Hause war und Moritz in die Wohnung gelassen hat. Da mein Bruder trotz seiner neun Jahre noch kein Handy besitzt - was ich ziemlich gut finde - habe ich keine Ahnung ob bei ihm alles in Ordnung ist.
Als ich es nicht mehr aushalte still auf meinem Platz zu sitzen, schnappe ich mir mein iPhone vom Tisch und verlasse den Hörsaal um auf die Toilette zu gehen. In den Fluren ist es still. Die Türen sind so dick, dass man nichts durch sie hindurch hört. Außerdem sind wir nicht mehr auf der Schule, also brüllt auch keiner mehr innerhalb der Räume herum.
Die flachen Absätze meiner Stiefel klacken auf dem Boden, während ich Minuten später von der Toilette zurück in Richtung meines Hörsaals laufe. Ich biege gerade um eine weitere Ecke, nur noch wenige Meter von meinem Hörsaal entfernt, als ich mit jemandem zusammenpralle und von dem plötzlichen Widerstand nach hinten geworfen werde.
"Huch!" Der Laut entweicht mir schneller und quietschender als ich es gewollt haben. Und ich kann nicht anders als mein Gegenüber mit großen Augen anzustarren, während ich hilflos nach meinem Gleichgewicht suche. Erfolglos. Leider.
Statt jedoch mit meinen vier Buchstaben auf dem Boden zu landen, umfasst mein Gegenüber meine Taille mit den langen Fingern seiner Hand und hält mich mitten im Fall fest. "Nicht so stürmisch Honey."
Mein Herz macht einen Satz und als ich meinen von ihm persönlich vergebenen Spitznamen höre, breitet sich ein breites Grinsen auf meinem Gesicht aus. "Hey du."
"Hast du heute Abend schon etwas vor?", fragt Jin, während er mich noch immer in der Horizontalen festhält. Ich würde ihn ja bitten mich wieder aufzurichten, meine nicht vorhandenen Bauchmuskeln und seine Nähe verhindern diese Reaktion von meiner Seite nämlich. Aber ich will nicht anspruchsvoll sein. Solange er mich nicht fallen lässt ist alles gut. Auf der anderen Seite wäre es eine kleine Kopfbewegung und ich könnte meine Lippen auf seine drücken. Könnte das aufsteigende Feuerwerk in meinem Kopf zum entfachen blicken.
Ich wünsche mir wirklich es wäre so einfach. Aber leider blickt Jin mir so erwartungsvoll in die Augen, dass sich mein Gehirn tatsächlich an seine Frage erinnert. Entschuldigend sage ich: "Ich mit meiner Cousine noch für's Kino verabredet. Ich würde dich ja fragen ob du mitkommen willst, aber der Film läuft auf Deutsch."
"Ich sollte diese Sprache vielleicht tatsächlich mal lernen." Jin verzieht die Lippen zu einem Grinsen und hebt eine Augenbraue. Mit seiner Grimasse bringt er mich zum Lachen und ich bekomme tatsächlich ein Nicken zustande, während die Schmetterlinge durch meine Bauch wie ein Tornado flattern. "Das wäre nicht schlecht. Aber wir könnten gleich heute Abend noch gemeinsam üben. Um 20 Uhr bei mir zu Hause?"
Das mein Rücken von der halbliegenden Position zu Schmerzen beginnt bekomme ich überhaupt nicht wirklich mit. Viel zu gefangen bin ich von seinen beinahe schwarzen Augen in denen ich mich so gern verliere. Viel zu abgelenkt bin ich von seinem Lächeln, bei dem er mir die strahlend weißen Zähne präsentiert.
"Schick mir deine Adresse und die Wegbeschreibung und ich werde pünktlich sein." Jin beugt sich nach vorn, drückt mir einen Kuss auf die Nasenspitze und richtet mich dann mit sich selbst wieder auf. Als er sich sicher ist, dass ich einen festen Stand habe (was dank meiner wackeligen Knie gar nicht so leicht ist) lässt er mich los und streicht mir eine meiner Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann geht er an mir vorbei und während ich mich zu ihm umdrehe, blickt er über die Schulter zu mir zurück. "Pass auf dich auf Honey. Nächstes Mal bin ich vielleicht nicht da um dich aufzufangen."
Und spätestens nach diesem Satz kann ich das idiotische Grinsen auf meinem Gesicht nicht mehr abstellen.
∞
Nur wenige Stunden später stehe ich mit Moritz und Ben neben mir an der Stadtbahn-Haltestelle und warte auf Jin. Via Instagram hat mich der Koreaner wissen lassen, dass er in wenigen Minuten ebenfalls ankommen sollte und so habe ich meine beiden Cousinen bereits nach Hause geschickt. Luca ist direkt nach dem Kino wieder verschwunden und ich glaube die anstehende Klausur setzt ihm doch ordenlich zu. Als ich angeboten habe seinen Bruder mit nach Hause zu nehmen und ihn bei seinen Eltern abzusetzen, hat der Freund meiner Cousine mich jedenfalls beinahe abgeknutscht.
"Warten wir auf deinen Freund?", fragt Ben mit seiner kindlichen Stimme und blickt mit großen Augen zu mir auf. Die Spitzen seiner blonden Locken hängen ihm in den Augen und er blinzelt heftig.
Mit einem Grinsen wuschle ich ihm durch die Haare und antworte: "Richtig."
Wie soll ich einem Kind erklären das ich keine Ahnung habe was Jin und ich überhaupt sind. Außer gar nicht? Ich weiß ja nicht einmal was Jin mir gegenüber fühlt. Ich weiß zwar was in meinem eigenen Körper vorgeht aber das war's dann auch schon wieder. Also werde ich es bei etwas ganz unkompliziertem lassen. Und ob die beiden uns letzten Endes für ein Paar halten oder eben nicht, ist mir eigentlich auch vollkommen egal.
"Wann kommt er denn?", fragt mein Bruder und schiebt sich die dunkelblaue Mütze von der Stirn. Ich helfe ihm grinsend dabei und schiebe seine dunkelblonden Haare etwas aus der Stirn. Dann gebe ich ihm einen Stupser auf die Nase. "Gleich sollte er ankommen. Es kann nicht mehr lange dauern. Ist euch kalt?"
Die Antwort der beiden Halbwüchsigen nehme ich schon gar nicht mehr wirklich wahr, denn mein Blick fällt von meinem Bruder auf den Treppenaufgang, wo gerade Jin hinter der Kante der Rolltreppe erscheint. Und er raubt mir einmal mehr den Atem. Seine Haare werden durch den Luftzug etwas verweht, der schwarze Mantel ist geöffnet und entblöst einen roten Pullover unter dem er ein weißes Hemd trägt.
Ein Hemd.
Mir läuft direkt der Sabber im Mund zusammen und ich muss unwillkürlich schwer Schlucken. Verdammt, ich liebe den Mantel und bei Hemden schmelze ich sowieso. Zwischen meinen Schenkeln wird es heiß und beginnt zu kribbeln. Unwillkürlich presse ich die Beine ein kleines bisschen mehr zusammen und schlucke erneut schwer. Jin's dunkler Blick trifft auf mich und erneut durchfährt es mich bis in's Mark. Meine Atmung stockt und ich kann den Koreaner nur mit leicht geöffnetem Mund anstarren. Reglos beobachte ich ihn dabei, wie er mit großen Schritten zielstrebig auf mich zukommen. Er schaut nicht einmal nach links und rechts.
"Hallo Honey." Sein linker Mundwinkel hebt sich zu einem schiefen Grinsen, seine Augen glitzern wie Diamanten und seine Miene wirkt vollkommen entspannt. Ich erwidere das Grinsen und blinzle einmal um mein Gehirn wieder in Gang zu bekommen. "Hey du."
Mehrere Sekunden sehen wir uns einfach nur an, vollkommen gefangen voneinander. Doch dann spüre ich eine kleine Kinderhand die sich in meine schiebt und wende den Blick von dem Objekt meiner Begierde ab. Stattdessen blicke ich zu Ben, der grinsend an meiner Hand zieht. Mit leicht geöffnetem Mund sehe ich zu Jin, der jedoch vollkommen überrascht nach unten blickt. Ich folge seinem Blick und sehe meinen Bruder, der seine kleine Hand in die große von Jin gelegt hat.
"Ich bin Moritz. Und wenn du meiner Schwester weh tust, tu ich dir weh."
Mein Herz schwillt in meiner Brust an und klopft gleichzeitig so schnell das ich glaube, es könnte mir gleich aus der Brust springen. Ich war schon oft stolz auf meinen Bruder, aber dieser Moment wird eindeutig in die Geschichte eingehen. Auch wenn Jin keine Ahnung hat was mein Bruder gerade auf Deutsch gesagt hat, hat er einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt und nickt beinahe schon geschäftig.
In der nächsten Sekunde huscht ein Grinsen über Moritz Gesicht und mit der anderen freien Hand greift er nach Ben's kleiner behandschuten Hand. Beide sehen zu uns nach oben und zu viert machen wir uns Hand in Hand auf den Weg zu unserem Wohnkomplex. Über die beiden Zwerge zwischen uns hinweg grinse ich zu dem Koreaner hinüber und dieser erwiedert es mit einem ebenfalls amüsierten Funkeln in den Augen.
Und obwohl ich noch immer keine Ahnung habe wie die Sterne zwischen Jin und mir stehen, wo unser Weg uns noch hinführen wird und was noch auf uns zukommt, könnte ich in genau diesem Moment nicht glücklicher und zufriedener haben.
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