Donnerstag, 12. Dezember 2019
"Moritz!", quietscht meine kleine Cousine, als Onkel Will uns die Haustür öffnet und noch bevor mein Bruder seine Schuhe ausziehen kann, umklammert Luna ihn auch schon. Jedes Mal wenn ich die überschwängliche Begrüßung der beiden beobachte geht mir das Herz auf und ich hoffe so sehr, dass es auch so bleiben wird. Ich weiß, dass wir alle innerhalb der Familie ein ziemlich gutes Verhältnis haben - zumindest wir Kinder. Und ich weiß auch, dass es nicht überall so ist und es absolut keine Selbstverständlichkeit ist.
"Hallo Onkel Will.", begrüße ich den Mann an der Tür. Ohne gemein klingen zu wollen, aber der Amerikaner hat im Vergleich zu letztem Jahr tatsächlich zugenommen. Was jedoch absolut nichts Schlechtes ist.
Jeder in unserer Familien weiß, wie schwer die letzten Jahre waren. Heute vor genau acht Jahren starb Tante Anabelle. Es war der schönste und zugleich der traurigste Tag des Jahres 2011. Ein Tag an dem uns allen verdeutlicht wurde, wie nahe Leben und Tod beieinander liegen. Ein Leben wurde geschenkt und eines wurde genommen.
Obwohl mich dieser Gedanke betrübt und mir einen Kloß im Hals entstehen lässt, verlässt das Lächeln nicht mein Lippen. Heute ist kein Tag für Tränen. Heute ist ein Tag zu feiern.
Trotz das der Geburtstag von Luna auf den Todestag ihrer eigenen Mutter fällt, war für unsere Familie eines sofort klar: Niemals würden wir beide Tage an einem Tag zelebrieren. Obwohl Anabelle Brown am 12. Dezember verstarb, geht keiner von uns vor dem 13. Dezember auf den Friedhof. Es wäre einfach nicht fair Luna den Geburtstag zu trüben.
Ich trete meine nassen Schuhe auf der Matte ab. Das Wetter draußen ist grau und es hat mehr als den halben Tag geregnet, also die absolut besten Voraussetzungen für einen gemütlichen Abend im Haus. Während ich meine Boots von den Füßen streife und die schwarze Feinstrumpfhose etwas zurecht ziehe, begrüßt Mama ihren Schwager und entschuldigt dabei auch noch ganz passend Papa. Da es ein Wochentag ist, an dem die Geburtstagsfete mit Familie steigt, arbeitet Papa einfach lange in der Kanzlei. Offiziell zumindest. Was er tatsächlich tut kann ich überhaupt nicht sagen. Seit gestern Abend habe ich ihn weder gesehen noch gehört.
Heute Morgen war er bereits außer Haus als ich aus dem Bett gekrochen bin. Ich kann ja nicht einmal sagen, ob er die Nacht überhaupt zu Hause verbracht hat oder eben nicht. Mama hat Moritz gewohnt liebevoll geweckt und sich überhaupt nichts anmerken lassen. Selbst als ich sie schräg von der Seite angesehen habe und mich nach ihrem Gemütszustand erkundigt habe, hat sie nur gelächelt und genickt. Wie ich es gestern vor dem Einschlafen bereits vermutet habe, wird das Thema einfach tot geschwiegen.
Ich hasse es, dass Mama so tut als wäre überhaupt nicht's passiert. Ich hasse es so sehr, dass ich während den Vorlesungen nur an die beiden Erwachsenen in unserem Haushalt denken konnte. Nicht einmal Jin hat es geschafft in meinen Gedanken einen Platz zu finden. Es war der erste Tag seit Anfang des Monats den ich ohne Gedanken an Jin verbracht habe. Doch jetzt, nachdem ich meiner Cousine zu ihrem Geburtstag gratuliert habe und meinen schwarzen Mantel in den abgetrennten Garderobenbereich hänge, ploppt er einfach wieder auf.
Ob er wohl auch auf den Gängen Ausschau hält?
Wieso mache ich das eigentlich?
Ich habe keine Ahnung ob es ein gutes Zeichen ist oder eher nicht. Ich weiß nicht ob es besser ist meinen Kopf mit Jin zu beschäftigen oder mit meinen zerstrittenen Eltern. Beides bereitet mir auf Dauer Kopfzerbrechen und scheint mir die Energie aus den Ohren zu ziehen.
Während Mama und Onkel Will noch im Flur stehen bleiben und sich über die neuesten Ereignisse austauschen, laufe ich schon einmal ins Wohnzimmer, wo ich bereits Lucie und Milan vorfinde. Beide lümmeln auf dem Sofa vor dem Fernseher und verfolgen eine Sitcom die über den riesigen Bildschirm flackert. Luna, die in ihrem zartrosa Kleidchen wirklich zuckersüß aussieht, sitzt mit Moritz bereits bei einer Box voller Legospielsteine. Die beiden werden für die nächste Zeit definitiv beschäftigt sein.
"Hallo meine Lieblingsmenschen.", grinse ich breit und lasse mich neben meinen Cousin fallen, nachdem ich das eingepackte Geschenk von Hannah und mir zu den anderen Geschenken auf die Kommode gestellt habe. "Ist Oma schon da?"
"Du hast aber gute Laune dafür, dass es erst Donnerstag ist." Milan grinst mich breit an und stößt seine Schulter an meine. Mein Cousin ist nicht besonders auf Umarmungen bedacht und das ist vollkommen okay. Ich kann mich trotzdem immer auf ihn verlassen, obwohl er erst in einem pubertären Alter von 17 Jahren ist. Außerdem ist er für jeden Spaß zu haben. Lucie grinst mich über ihren Bruder hinweg an und zwinkert mir zu.
Um auf Milan's Aussage zu reagieren zucke ich nur mit den Schultern und sage: "Das Wochenende steht praktisch vor der Tür und morgen fällt meine Nachmittagsvorlesung aus. Das ist Grund zur guten Laune. Außerdem hat Luna Geburtstag und die kleine Prinzessin ist sowieso der Sonnenschein auf Erden."
Für mich sind das sehr überzeugende Argumente - vor allem wenn man keine anderen hat. Ob sie jedoch für die anderen auch gelten ist mir schleierhaft. Ich werde es jedoch nie erfahren, denn gerade als ich Lucie tief einatmen höre, betritt meine Mutter den Raum und lenkt meine Cousine sowie meinen Cousin nach einer Begrüßung geschickt mit Fragen von mir ab. Und ich könnte Mama nicht dankbarer sein, denn besonders bei Lucie höre ich die unangenehmen Fragen bereits in meinem Kopf. Meine Cousine hat einen sechsten Sinn - zumindest nenne ich es so. Sie bezeichnet es eher als eine Gabe oder einfach als ein Bauchgefühl.
Es ist nicht so als könnte man sie nicht anlügen, denn das kann man. Aus Erfahrung weiß ich das sehr gut, immerhin habe ich auch ab und an zu einer kleinen Notlüge gegriffen. Fakt jedoch ist, dass sie einfach spürt wenn etwas nicht stimmt oder wenn jemand etwas verheimlicht über das man am Besten sprechen sollte. Ich weiß jedoch nicht ob ich schon dazu bereit bin über Jin zu reden. Ja, mit Jenny habe ich vorgestern darüber gesprochen. Aber die Fakten haben sich verändert. Wenn ich jetzt über ihn erzählen würde, dann müsste ich pausenlos an den Kuss denken. Und die Gefahr, dass mir dieses Geheimnis herausrutscht ist einfach viel zu groß.
Also schweige ich, versuche nicht aufzufallen und hoffe darauf, dass sich über den Abend hinweg keine Gelegenheit des Gesprächs bietet.
∞
Nach dem Abendessen finden wir uns wieder im Wohnzimmer ein. Die Älteren der Familie - sprich Onkel Will, Oma und Mama - auf dem Sofa und wir Jüngeren auf das Sofa sowie die restlichen Sitzgelegenheiten verteilt. Moritz lümmelt halb auf Oma's Bauch und reibt sich immer wieder die müden Augen.
Obwohl Luna ein Jahr jünger ist als mein Bruder, ist bei ihr noch nicht die Spur von Müdigkeit zu sehen. Sie scheint noch voller Adrenalin zu sein und spring vergnügt vom einen Fleck zum Nächsten. Meine Vermutung woran das liegt ist ziemlich klar bei den Geschenken. Allerdings könnte auch die Anwesenheit ihres Vaters mit ein Grund dafür sein. Es gab lange keinen Geburtstag mehr, an dem Onkel Will hier war. Normalerweise befindet er sich immer auf irgendeinem super wichtigen Ärztekongress und kommt erst einige Tage nach dem Geburtstag meiner Cousine wieder zurück nach Stuttgart. Ich weiß, dass er es wegen dem Tod seiner geliebten Ehefrau macht und nicht um Luna zu bestrafen. Doch was ist dieses Jahr anders? Ich habe keine Ahnung was sich in den letzten 12 Monaten verändert hat, doch irgendetwas muss es gewesen sein.
"Na dann pack mal deine Geschenke aus." Lucie grinst ihre kleine Schwester an und es fehlt nur noch, dass sie freudig in die Hände klatscht. Ich kann ein Lächeln nicht zurückhalten und öffne an meinem Handy die Kamera. Von meiner Position aus habe ich eine gute Sicht auf Luna, wenn sie direkt vor dem Sofa die Geschenke öffnen wird. Auch Onkel Will wird mit auf den Bilder sein, was sicherlich ein schönes Andenken sein wird.
Während Luna nach dem ersten eisblau verpackten Geschenk greift, beugt sich meine Cousine zu mir. Ihre Haare hat sie mit einem Lockenstab bearbeitet und eine Strähne hängt ihr ins Gesicht. Während sie diese zur Seite streicht flüstert sie: "Du bist Samstag beim Kindergeburtstag noch dabei oder?"
Ich nicke und schenke ihr ein zuversichtliches Lächeln. Wir machen die Kinderparty schon seit Jahren zusammen und sind bereits ein eingespieltes Team. Es wird ein Klacks die Kinder zu schauckeln. Vor allem wenn man bedenkt, dass Luca dieses Jahr ebenfalls mit von der Partie ein wird. Zu dritt werden wir doch 10 Halbstarke unter Kontrolle halten können. "Klaro."
Das ich am Morgen noch ein Planungstreffen wegen der Christmas-Party unserer Hochschule haben werde verschweige ich meiner Cousine. Ich bin so organisiert, dass ich das schon unter einen Hut bringe und ich rechtzeitig hier auf dem Killesberg sein werde. Würde ich Lucie von meinen anderen Plänen erzählen, würde sie sich nur schlecht fühlen weil ich dann kaum Zeit zu lernen habe. Das ich jedoch genau das umgehen will, muss ich auch nicht so besonders laut sagen.
"Eine neue Barbie!", quietscht Luna vergnügt und hält den in Plastik eingepackten Karton in die Höhe. Unter der glänzenden Schicht erkenne ich eine blonde Puppe mit langem Haar und einem Wechseloutfit daneben. Schnell knipse ich ein paar Fotos um sie später meiner Familie weiterzuleiten. "Danke Granny!"
Luna drückt Oma einen Kuss auf die Wange und platziert das Geschenk dann vor dem Fernseher. Sofort greift sie zum nächsten Päckchen. Es ist ein kleines Geschenk, in rotes Papier eingewickelt. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass sich das Lächeln meiner Cousine noch verbreitert und sofort weiß ich, dass es sich um ihr Geschenk handelt. Und tatsächlich packt Luna nur Sekunden später eine schwarze Samtschachtel aus und präsentiert uns allen stolz die zierliche Kette. Ich schaffe es ein Foto zu machen bei dem sie direkt vor mir steht und breit mit einer Zahnlücke in die Kamera grinst. Die Kette glitzert auf dem Foto vielleicht etwas zu stark, aber man sieht meiner Cousine die Freunde an. Und bei den blitzenden grünen Augen achtet ohnehin keiner auf mehr als ihr wunderschönes Gesicht.
Das aufgeklappte Kästchen findet ebenfalls vor dem Fernseher seinen Platz und meine nun achtjährige Cousine wendet sich meinem Geschenk zu. Gespannt beobachte ich dabei, wie sie das Geschenkpapier herunter reißt und staunend das Lego-Friends-Set in den Händen fällt. Ihre Augen huschen über den lilafarbenen Karton und sie scheint gar nicht wissen worüber sie zuerst staunen soll.
Während ich ein Foto von ihr mache blicke ich durch die Kamera. Eine neue Nachricht wird mit angezeigt. Eine Instagram-Chat-Nachricht. Von einem mir nun bekannten Nutzernamen. Von einer Person bei deren Namen mein Herz ein kleines bisschen schneller beginnt zu schlagen und bei dem meine Finger anfangen zu zittern, während ich das iPhone auf meine Cousine gerichtet halte und eigentlich ein Bild machen sollte. Eine Person die mein Gehirn dazu bringt wieder auszusetzen und einfach in den Standby-Modus zu verschwinden.
jeong_j: Wir müssen reden.
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