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Dienstag, 03. Dezember 2019

"Sora ist absolut wundervoll!", schwärmt Paddy, nachdem sie an ihrer heißen Schokolade genippt hat und sich nun in ihrem Sessel zurücklehnt. Eine feine Sahneschicht ziert ihre schön geschwungene Oberlippe, doch schon in der nächsten Sekunde fährt sie mit ihrer Zunge darüber wie Kitti, meine Perserkatze.

Bereits seid wir das Café betreten haben, haben sämtliche Worte aus dem Mund der Brünetten mit der ihr zugeteilten Austauschstudentin zu tun. Ich kann es ihr nicht verdenken. Wenn das Mädchen auch nur halb so umwerfen ist wie sie in Patrizia's Beschreibungen klingt, dann zieht sie ohnehin die gesamte Welt in ihren Bann. Mit dem kinnlangen Bob und dem Pony, sieht sie sowieso beinahe schon befremdlich brav aus. Dazu noch die für Koreaner, Asiaten und Japaner typisch glatte Haut, verleiht ohnehin jedem etwas engelhaftes.

Mit einem leisen Klirren stelle ich die beigefarbene Tasse auf dem kleinen Tisch zwischen uns ab und lasse den Blick von Patrizias Gesicht zu dem großen Fenster nach rechts gleiten. Menschen in dicken Jacken, mit Mützen und Handschuhen bewaffnet, eilen über die Pflastersteine. Das letzte Laub des Jahres wird vom Wind über den Boden gezerrt und stellt ein wildes Spiel dar. Die ansonsten vollkommen kahlen Bäume werfen dank der wärmenden Sonne lange Schatten auf den Boden.

"Du kannst von Glück reden, dass Sora so ein Glücksgriff ist. Ich glaube mit Jin habe ich wahrhaftig das Haar in der Suppe erwischt." Seufzend verdrehe ich die Augen und fahre mir mit der Hand über die Stirn um die Verzweiflungsfalten zu glätten. Die Führung durch die Hochschule wurde so kurz wie nie, jeder Versuch ein Gespräch mit Jin anzufangen scheiterte kläglich und seine Freundlichkeit mir gegenüber wurde auch nicht gerade mehr. Von der Höflichkeit mal ganz zu schweigen. Ich habe eigentlich überhaupt keine Ahnung, ob er mir überhaupt zugehört hat. Dabei habe ich mich bei der Führung wirklich nur auf das Wichtigste beschränkt. Was zugegebenermaßen sogar ziemlich einfach war, denn mir ist nicht nur die Energie verpufft. Ich habe mich sogar schon lange nicht mehr so unwohl gefühlt, wie in den Momenten in denen ich einen halben Meter vor dem Austauschschüler durch die Hochschule gehetzt bin.

Im Prinzip hätte ich ein Gespräch mit einem Stein führen können. Der wäre kommunikativer als Jin gewesen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Paddy nach ihrem Schokoladen-Muffin greift und dann den Blick wieder auf mich richtet. "Er sieht überhaupt nicht so gemein aus, wie du ihn mir gestern beschrieben hast."

Nachdem der Tag dank der fürchterlichen Führung relativ schnell für mich gelaufen war, habe ich mich mühevoll durch die Nachmittagsvorlesung gequält. Zu Hause habe ich mich dann sofort in mein Bett verkrochen, wo ich nach dem Abendessen noch einen Anruf von Paddy entgegengenommen habe und ihr mein Leid klagen durfte.

"Um ehrlich zu sein habe ich ihn mir nicht einmal wirklich angesehen. Nachdem er mir ohne jeglichen Grund so eine Ansage gemacht hat, habe ich nicht wirklich das Bedürfnis gehabt mich mit ihm abzugeben.", grummle ich und sehe meine Freundin schließlich wieder an. Ich bin froh, dass die Vormittagsvorlesung heute ausfällt. Mein Bedürfnis unserer Dozentin durch die Psychologie zu folgen, ist nicht besonders groß. Wie ich mich kenne würde ich nur damit beginnen, das Verhalten meines Austauschstudenten zu analysieren. Nichts, was ich mir zumuten sollte. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich mich damit nur selbst fertig mache. 

"Ach kommt schon Charlie. Meinst du nicht, du solltest ihm erstmal eine Chance geben hier anzukommen? Vielleicht ist er einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden oder?" Paddy sieht mich über den Tisch hinweg mit hochgezogenen Augenbrauen an. Natürlich fällt es ihr schwer, meiner Erzählung glauben zu schenken. Das würde jedem so gehen, der es nicht direkt miterlebt hat. Ich kann es niemandem verdenken.

Im Grund hat Jin mir ja auch nichts getan. Er hat mich nicht angebrüllt oder beleidigt. Ich weiß auch nicht, warum mir seine Worte gestern so zugesetzt haben. Doch auch heute liegen sie mir noch bleischwer im Magen. Seit ich Jin gestern bei den anderen Studenten abgeliefert habe und dann regelrecht vor ihm geflohen bin, rästle ich schon darüber was in seinem Kopf wohl vorgeht. Es ist offensichtlich, das Jin ein Problem hat. Ob es jedoch an mir liegt oder nicht, kann ich unmöglich sagen. Dazu müsste er mit mir reden und das tut er nicht. Obwohl ich ihm meine Handynummer auf einen Zettel gekritzelt und ihm in die Hand gedrückt habe, hat er sich gestern nicht mehr bei mir gemeldet. Kein Wunder, nachdem er auf der Führung auch kein Wort gesagt hat und sich am Ende wie angeküdigt weder bedankt noch verabschiedet hat.

Seufzend greife ich nach meiner Tasse, nehme erneut einen großen Schluck des süßen Schokoladengetränks und greife dann nach meiner Gabel, um mich über den Heidelbeerkuchen herzumachen. Nachdem der gestrige Tag alles andere als rund verlaufen ist, kann mir heute nur eine ordentliche Portio Zucker zum Frühstück den Tag aufhellen. Da können nicht einmal die Sonnenstrahlen und der blaue Himmel etwas ändern.

Bereits seit dem Frühstück mit Paddy verfolgen mich ihre Worte. Das wurde auch während der Nachmittagsvorlesung nicht besser. Nicht einmal als sich der gesamte Kurs über eine ganze Stunde Entfall freuen konnte, wurden meine Gedanken etwas freundlicher. Mit dröhnend lauter Musik aus meinen Kopfhörern versuche ich den Weg zurück in die Stadtmitte Stuttgarts zu überbrücken. Oder viel eher, meine Gedanken zu übertönen. Leider funktioniert mein Plan nicht ganz so gut wie erhofft und die Worte in meinem Kopf werden immer lauter statt leiser. Sie schwirren wie er ganzer Bienenstock hinter meiner Stirn herum. So schnell, dass ich nicht einen von ihnen für längere Zeit greifen kann.

Mir ist bewusst, das Patrizia mit ihrer Vermutung durchaus Recht haben könnte und auf eine merkwürdige Art und Weise will ich ihr auch glauben. Aber ich kann es nicht. Ich kann einfach nicht glauben, Jin wäre gestern nur mit dem falschen Fuß aufgestanden. Ich gebe ja zu, dass ich auch nicht immer bester Laune bin und es manchmal auch an anderen auslasse, aber er hat mir nicht einmal die Chance geben mich überhaupt vorzustellen.

Was mich an dieser Sache aber noch um einiges mehr stört ist die Tatsache, dass ich mir überhaupt einen Kopf darüber mache. Ich bin doch sonst nicht so. Klar, seine Gedanken macht man sich irgendwie immer. Aber das unfreundliche und vor allem unfaire Verhalten von Jin setzt mir mehr zu als es sollte. Und das stört mich.

Das Vibrieren meines iPhones reißt mich aus meinen Gedanken und ich werfe einen Blick auf das Display. Eine neue Nachricht von Jenny hüpft mir entgegen und ich öffne automatisch den Gruppenchat, dem die Nachricht entspringt. Aus den Augenwinkeln bemerke ich einen jungen Mann, der sich neben mir auf den Sitzplatz fallen lässt und aus Rücksicht stelle ich die Musik aus meinen Kopfhörern etwas leiser.

Nachdem sich der Chat geöffnet hat, blicke ich auf ein Meme das Jenny in die Gruppe geschickt hat. Ein Kind mit mehr als nur irritiertem Gesichtsausdruck und dem Kommentar: Mein Gesicht wenn jemand keinen Glühwein mag.

Automatisch muss ich grinsen. Ja, das könnte wirklich Jenny höchstpersönlich sein. Ich glaube ich kenne niemanden, der Glühwein so sehr liebt. Neben meiner Cousine Lucie ist Jenny meine beste Freundin. Mit ihr teile ich nahezu all meine Sorgen und könnte ich meine Zwillingsschwester eintauschen, würde ich definitiv den rothaarigen Wirbelwind wählen. Da wir bereits Dezember haben und der Weihnachtsmarkt seit der letzten Woche geöffnet hat, lebt Jenny ihre Liebe zum Glühweihn überverholen aus. Ich kenne wirklich niemanden der so viel von dem Getränk in sich hinein pumpen kann wie Jenny. Wohl bemerkt ohne sich zu übergeben. Aber vermutlich muss sie die Zeit einfach nutzen in der sie noch hier ist. Vor Weihnachten fährt sie immer mit ihrer Familie und einer befreundeten Familie in die skandinavischen Länder. Da muss sie dann die Tage mit einem Kerl verbringen den sie überhaupt nicht leiden kann und das beruht auch noch auf Gegenseitigkeit. Statt sich jedoch einfach in Ruhe zu lassen, ärgern die beiden dich wie kleine Kinder beinahe pausenlos. Obwohl Jenny so alt ist wie wir und sie damit auch gut allein zu Hause bleiben könnte, steht sie am meisten unter der Fuchtel ihrer Eltern.

Gut, Lucie und ich sind kein besonders gutes Beispiel. Während Onkel Will nach dem Tod von Tante Annabelle sich vollkommen in seine Arbeit gestürzt hat und damit kaum mehr Zeit für seine drei Kinder hatte, sieht es bei mir zu Hause auch nicht wirklich besser aus. Seit wir vom Killesberg in die Stadtmitte gezogen sind und unser Wohnraum von einem Haus auf eine größere Wohnung geschrumpft ist, ist bei uns zu Hause auch nichts mehr wie es einmal war. Während Papa beinahe 24/7 in seiner Kanzlei arbeitet und Mama ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich nur noch auf meinen kleinen Bruder legt, ist praktisch vollkommen egal was ich eigentlich tue. Hannah hat es wenigstens richtig gemacht und sich ein Studium weit weg - in Chemnitz - gesucht. Ich hingegen werde noch bis zum Ende meines Studiums hier festhängen. Ich kann nur hoffen, dass mein Bruder dann alt genug ist und ich nicht mit einem all zu großen schlechten Gewissen diese Stadt oder zumindest mein Elternhaus verlassen werde.

Ich sperre mein iPhone wieder und konzentriere mich stattdessen auf die Musik. Die Spiegelung des Abteilinneren in der Fensterscheibe nehme ich kaum wahr und allmählich verschwinden auch die Gedanken. All jene an Jin und sein Verhalten, sowie meine Familie und ihre für mich nicht nachvollziehbaren Probleme.

Nach einer beinahe halbstündigen Fahrt und einmaligem Umsteigen erreiche ich endlich meine Station. Ich lasse das Einkaufszentrum Milaneo links liegen und umrunde einen Teil der Großbaustelle Stuttgart 21, bevor ich die Stadtbibliothek betrete. Heiße Luft empfängt mich im Windfang und ich habe sofort das Bedürfnis mir Schal sowie Mantel vom Leib zu reißen. Sobald ich jedoch den Eingangsbereich erreiche, werde ich von einer angenehmen Wärme eingehüllt wie von einer Decke. Nachdem ich zwei meiner Bücher an den Rückgabeautomaten zurückgegeben habe, fahre ich mit dem Fahrstuhl bis in die sechste Etage. Von dort würde ich mich nach unten arbeiten und mir einige neue Bücher heraussuchen. 

Während ich durch die sterilweise, aber sehr fotogeeignete Bibliothek wandere und den Blick über die Bücherrücken geleiten lasse, huschen meine Gedanken immer wieder zum vergangenen Tag zurück. Ich habe durchaus Gefallen daran, wenn die Vorlesungen am Morgen ausfallen und ich mich mit Paddy zu einem gemütlichen Frühstück bei Starbucks treffen kann. Auch die verkürzte Mittagsvorlesung ist ziemlich positiv. So habe ich mehr Zeit mich um meine Hausarbeit zu kümmern. Außerdem befinden sich die Austausstudenten heute auf einer Stadtführung und man hat von ihnen den ganzen Tag nichts an der Hochschule gesehen. Wäre ein gewisses Mitglied des Austauschprogramms nicht ständig in meinem Kopf, wäre der Tag sogar wirklich erträglich gewesen. 

Nachdem ich mir den neuen Fantasyroman von Kiera Cass an einem der Automaten selbst ausgliehen habe, schiebe ich das Buch in meine Tasche und fahre mit dem Fahrstuhl bis in den achten Stock und von dort aus mit einem separaten Fahrstuhl auf die große Dachterrasse der Bibliothek hinauf. 

Kaum habe ich den Aufzug verlassen erwischt mich eine eisige Windböe. Schnell schließe ich meinen schwarzen Mantel und ziehe den dicken rotkarierten Schal nach oben. Trotz der Thermostrumpfhose, die ich unter meinem schlichten schwarzen Kleid trage, beginne ich zu frösteln. Unten auf dem Boden erschien mir das Wetter heute nicht so kalt wie etliche Meter in der Höhe. Da können auch die Sonnenstrahlen nicht besonders viel retten.

Dennoch lasse ich mich davon nicht abschrecken und trete weiter vom Aufzug weg. Die Türen schließen sich hinter mir. Ich wende mich ab, erklimme die wenigen Treppenstufen zu meiner linken auf die Plattform und atme mit geschossenen Augen erstmal tief durch. 

Freiheit. 

Wenn man sie riechen könnte, würde man das genau hier tun. 

Langsam laufe ich über den Gitterboden, näher an die Brüstung heran. Die flachen Sohlen meiner Overknee-Stiefel geben kein Geräusch von sich und wenn doch, würde es vom kalten Wind über die Dächer der Stadt getragen werden. Kaum an der Brüstung angekommen, lasse ich den Blick über die Dächer von Stuttgart gleiten. Wenn ich mich an der Brüstung entlang bewege, kann ich auf die Gleise der Bahnhofszufahrt blicken, auf den Platz zwischen dem Einkaufszentrum Milaneo und Bibliothek, sowie über die zum Bahnprojekt Stuttgart 21 gehörenden Baustelle.

Ich mag diesen Ort. Hier oben ist man weit weg vom Trubel der Stadt, der einige Meter unter einem auf der Straße herrscht. Auf dem Dach der Bibliothek ist es zwar kalt und windig, aber zu dieser Jahreszeit ist man überwiegend allein. Und genau das ist es, was ich will. Allein sein und einfach mal abschalten. Zu Hause würde Mama sicherlich da sein und vermutlich sogar mein kleiner Bruder. Dann hätte ich sicherlich keine Ruhe mehr.

Hinter mir höre ich Stimmen, die vom Wind an mein Ohr getragen werden. Dennoch drehe ich mich nicht um. Sicherlich nur ein paar Touristen, die einmal die Aussicht genießen wollen. Solange sie mich nicht belagern, störe ich mich auch nicht weiter an ihnen. Immerhin ist das hier ein öffentlicher Ort und jeder kann ihn besuchen.

Mit jeder Minute die ich auf dem Dach verbringe, schalten meine Gedanken immer weiter ab. Ich höre auf über die Uni, meine Familie, meine Freunde nachzudenken. Und vor allem höre ich endlich auf immer wieder Jin in meinem Kopf auftauchen zu sehen.

Ich habe keine Ahnung was der Koreaner mit meinem Gehirn angestellt hat, aber er ist beinahe wie ein GIF, das einfach immer und immer wieder an egal welcher Stelle auftaucht. Möglicherweise würde das ja aufhören, wenn endlich die "Einführungswochen" vorbei sind und ich nicht mehr den Großteil meiner Zeit mit ihm verbringen muss. Aber das ist noch eine lange Zeit.

Nachdem ich meine Fingerspitzen trotz Manteltaschen nicht mehr spüren kann und meine Nase sicherlich mit der von Rudolf konkurrieren kann, entscheide ich mich dazu das Dach zu verlassen und endlich nach Hause zu gehen. Ich sollte noch eine Aufgabe für morgen fertig machen und meine aktuelle Serie benötigt auch dringend wieder etwas Aufmerksamkeit.

Als ich mich umdrehe und zurück zum Fahrstuhl laufen will, bleibt mein Blick an einer Gruppe in der gegenüberliegenden Ecke der Dachterrasse hängen. Mehrere Menschen habe ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann gerichtet, dessen Haare vollkommen von einer schwarzen Mütze verdeckt sind. Er ist größer als der Rest und deutet auf unterschiedliche Punkte in der Ferne, während er zu sprechen scheint. Seine Worte werden vom Wind jedoch in die entgegen gesetzte Richtung getragen.

Eine Person jedoch scheint kein Interesse an dem Vortrag zu haben, sondern scheint seine Stalkerfähigkeit perfektionieren zu wollen. Obwohl das Dach nicht besonders groß ist, kann ich die Augenfarbe nicht erkennen. Aus Erfahrung weiß ich jedoch über ihre Schwärze Bescheid. Der Blick des jungen Mannes ist unverwandt auf mich gerichtet, während er die Hände in den Taschen seine schwarzen Mantels vergräbt. Im Gegensatz zu dem Mädchen schräg vor sich tritt er nicht unruhig von einem Bein auf das andere, sondern steht dort mitten auf dem Dach im Wind wie ein Fels in der Brandung. Die Beine ein kleines Stück auseinander zu einem festen Stand. 

Eine Windböe wirbelt mir eine lose Haarsträhne in's Gesicht, doch mein Blick ist so gefangen von seiner Anwesenheit, dass es mich überhaupt nicht kümmert. Ich weiß nicht was genau es ist, doch ich kann meinen Blick unmöglich von ihm lösen. Mein Herz schlägt ruhig und kräftig, während ich ihn einfach über die Distanz anstarre und seinem Blick nicht ausweiche. Ich habe ihn gestern bereits Mustern können, zumindest bis er mir gesagt hat ich solle bloß keine Höflichkeiten von ihm erwarten. Doch jetzt über mehrere Meter kann er mir nichts anhaben. Kann mir keine Gemeinheiten an den Kopf werfen oder mich genervt anblicken. Denn Emotionen sind über die Entfernung nicht zu erkennen. 

Unter dem knielangen Mantel erkenne ich eine ebenso schwarze Jeans. Seine Füße stecken trotz der Jahreszeit in schwarzen Sneaker mit weißer Sohle und ich frage mich, ob es ihm nicht an den Knöcheln etwas zu kalt ist. Aber vermutlich geht ihm der Style über alles und ich kenne mich selbst gut genug mit dem Motto "Wer schön sein will muss leiden" aus. Und leider muss ich zugeben, dass ihm der Mantel überaus gut steht. Er bringt seine schlanke Figur, die breiten Schultern und die schmale Hüfte mehr als gut zur Geltung.

Jin sieht gut aus, das muss man ihm wirklich lassen. Ich habe nicht erwartet, dass er so etwas wie modisches Gefühl besitzt. Aber wenn man mal ehrlich ist, habe ich nach gestern generell nicht mehr all zu viel erwartet. Hätte ich ihn irgendwo in der Stadt gesehen, hätte ich ihn sicherlich auch angesprochen (ja, nicht nur Jungs können so etwas machen) oder ihn zumindest beobachtet. Doch nach gestern kommt mir Ersteres nicht einmal in den Sinn. Mein Interesse mir irgendetwas Gemeines an den Kopf werfen zu lassen - das mich sicherlich auch noch aus der Bahn wirft - ist nicht besonders groß. 

Ein weiterer Windstoß zerrt an meinen Haaren und auch seine Haare bewegen sich im Wind.

Merkwürdigerweise frage ich mich tatsächlich, ob sie genauso weich sind wie sie im Moment aussehen. Nur zu gerne würde ich es herausfinden. Doch dazu müsste ich zu ihm gehen und mit ihm sprechen. Und das würde ich heute auf keinen Fall tun. 

Prompt kommt mir das Gespräch mit Paddy am  Morgen wieder in den Sinn. Vielleicht hatte er gestern nur einen schlechten Tag, ist mit dem falschen Fuß aufgestanden oder hat Jetlag. Vielleicht ist Jin überhaupt nicht gemein, so wie er den ersten Eindruck bei mir hinterlassen hat. Während ich es auf der einen Seite gerne herausfinden würde, will ich auf der anderen Seite aber nicht die Bestätigung des Schlechten. Ich will nicht erkennen müssen, dass Jin eventuell doch kein freundlicher Zeitgenosse ist.

Es können Sekunde oder Minuten oder gar Stunden sein, die ich wie festgewachsen an dieser Stelle stehe und meinen "Schützling" anblicke. Mein Gehirn hat aufgehört zu arbeiten, denn alles dreht sich nur um Jin. All mein Wissen oder eher Nicht-Wissen kreist um diese eine Person. Eine Person mit der ich bisher kaum ein Wort gewechselt habe. Eine Person an die ich eigentlich nach gestern keinen weiteren Gedanken verschwenden sollte - zumindest würde mir das Naomi raten. Eine Person mit der ich nicht umzugehen weiß. Eine Person die ich nicht einschätzen kann.

Eine winzige Schneeflocke landet auf meiner Nasenspitzen und verwandelt sich sofort in einen kleinen Wassertropfen.

Super, der erste Schnee des Winters und ich stehe hier auf dem Dach der Bibliothek, starre eine unberechenbare Person an und all meine Gedanken kreisen nur um ihn. 

Als wäre die Schneeflocke eine Weckruf, gebe ich mir einen Ruck. Ich schüttle den Kopf und schließe für einen Moment die Augen. Tief atme ich die kalte aber frische Luft ein und als würde mein Gehirn dadurch gereinigt werden, erinnere ich mich an mein Vorhaben. Nach Hause gehen und lernen. Serie schauen und dabei Schokolade essen. 

Mit einem Ruck setze ich mich in Bewegung und laufe endlich in Richtung Fahrstuhl. Mein Blick dabei stur auf mein Ziel gerichtet, hauptsache ich würde nicht noch einmal zu ihm sehen. Mein Herz schläft mir bis zum Hals und ich bin sicher, dass jeder im Umkreis von 100 Kilometern es hören kann. Mein Körper brennt, als hätte ihn jemand mit Benzin übergossen und dann angezündet. In meinen Ohren rauscht es, als würde ich neben einem Wasserfall stehen. All meine Sinne sind überstrapaziert und erst, als sich die Fahrstuhltüren hinter mir schließen und ich mich gegen die Wand sinken lasse, beruhigen sie sich wieder.

Noch bevor ich im achten Stock den Fahrstuhl verlasse und mich auf den Weg ins Erdgeschoss mache, durchzuckt nur ein einziger Gedanke meinen Kopf. 

Was war das?

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