Next To You
Der nächste Tag begann, wie fast jeder andere. Das Licht der frühen Sonne, das ich nie sehen würde, schien durch die Fenster des Heims. Ich hörte, wie die anderen Bewohner sich im Flur unterhielten, das Klappern von Geschirr aus der Küche, das dumpfe Brummen des Fernsehers im Gemeinschaftsraum. Es war alles wie immer - eintönig, vertraut, langweilig.
Doch dann hörte ich wieder diese Schritte. Leicht, lebendig, ein Hauch von Energie, der sich vom üblichen Trott im Heim abhob. Mein Herz schlug schneller, bevor ich es stoppen konnte.
„Hey, Minho!"
Jisungs Stimme war wie ein Sonnenstrahl in der Dunkelheit, warm und unaufdringlich.
Ich richtete mich von der Bank auf, auf der ich gesessen hatte. „Du bist wirklich wiedergekommen?"
„Natürlich", sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Ich hab doch gesagt, bis morgen."
Ich schüttelte den Kopf. „Die meisten Leute sagen so was nur, um höflich zu sein."
„Ich bin nicht ‚die meisten Leute'", erwiderte er frech, und ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören.
Wir setzten uns gemeinsam auf die Bank, und Jisung begann, mich mit Fragen zu löchern. Es war, als hätte er keine Bremse, wenn es darum ging, mich auszufragen.
„Was machst du den ganzen Tag?"
„Wie ist das hier so?"
„Hast du Freunde?"
„Was war das Verrückteste, was du je gemacht hast?"
Ich antwortete so gut ich konnte, aber seine Fragen waren so sprunghaft, dass ich kaum nachdenken konnte. Es war fast anstrengend, aber irgendwie auch erfrischend.
„Okay, deine Stimme klingt, als würdest du mich gleich umbringen wollen", sagte er lachend, nachdem ich eine besonders genervte Antwort gemurmelt hatte. „Ich höre schon auf. Aber nur unter einer Bedingung."
„Und die wäre?"
„Lass uns was zusammen machen."
„Was denn?" fragte ich skeptisch.
„Keine Ahnung. Irgendwas."
Wir saßen eine Weile zusammen, und schließlich sagte ich: „Ich will mir ein Bild von dir machen."
Jisung verstummte kurz. „Ein Bild? Wie meinst du das?"
„Ich meine... ich will wissen, wie du aussiehst." Ich räusperte mich, unsicher, ob ich das wirklich vorschlagen sollte.
„Ich kann dich anfassen, wenn das okay ist. Dein Gesicht, deine Hände. Ich will mir ein Bild machen."
Für einen Moment sagte er nichts, und ich befürchtete, dass ich zu weit gegangen war. Doch dann hörte ich ihn leise lachen.
„Klar, warum nicht? Aber sei bitte vorsichtig, ich bin kitzlig."
Er setzte sich näher zu mir und ich hob zögernd die Hände. Langsam streckte ich sie aus, bis ich seine Wangen berührte.
Seine Haut war warm und glatt, unterbrochen von der leichten Krümmung seiner Wangenknochen. Ich ließ meine Finger langsam über seine Stirn gleiten, fühlte den weichen Bogen seiner Augenbrauen, die Härchen seiner Wimpern.
„Du hast... schmale Augen", sagte ich nachdenklich und er lachte.
„Hab ich."
Meine Finger wanderten tiefer, über die geschwungene Linie seiner Nase bis hin zu seinen Lippen. Sie waren weich, mit einer feinen, festen Kontur. Es war seltsam intim, aber Jisung bewegte sich nicht, ließ mich gewähren.
„Okay, jetzt fühl ich mich ein bisschen wie ein Kunstwerk", sagte er, und ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören, es gleichzeitig auf seinen Lippen spüren.
„Vielleicht bist du das auch", erwiderte ich trocken, während ich weitermachte.
Dann nahm ich seine Hände. Sie waren schmal und überraschend weich, doch als ich mit den Fingern über die Rückseite strich, spürte ich die feinen, hervorstehenden Venen, die sich wie kleine, lebendige Straßen unter seiner Haut abzeichneten.
„Deine Hände sind... interessant", sagte ich leise.
„Interessant? Das klingt irgendwie beleidigend."
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich meine... sie sind weich, aber die Venen machen sie irgendwie... lebendig."
„Lebendig, huh?" Er lachte leise. „Du bist wirklich besser mit Worten, als ich dachte."
Nach einer Weile zog ich meine Hände von ihm weg und lehnte mich zurück. „Und? Weißt du jetzt, wie ich aussehe?"
Ich nickte langsam. „Ich glaube schon."
„Und? Bin ich schön?"
Ich zögerte.
„Ich... habe keinen Vergleich."
Er lachte so laut, dass ein paar Leute uns neugierig ansahen. „Du bist echt einzigartig, Minho."
„Das kannst du laut sagen."
„Aber sag mal", begann ich schließlich, „wie ist es eigentlich... zu sehen?"
Jisung wurde plötzlich ernst.
„Das ist schwer zu erklären. Es ist, als ob du die Welt gleichzeitig fühlst und siehst. Farben, Formen, Bewegungen... Es ist wie ein ständiges Flüstern, das dir zeigt, was um dich herum ist."
Ich schwieg, ließ seine Worte auf mich wirken.
„Und manchmal...", fuhr er fort, „ist es mehr als das. Manche Dinge sind so schön, dass sie dir den Atem rauben. Der Sonnenaufgang zum Beispiel. Oder..." Er hielt inne. „Grün."
Ich runzelte die Stirn. „Grün wieder? Warum Grün?"
„Weil es... lebendig ist. Es fühlt sich wie Hoffnung an. Und du brauchst Hoffnung, oder?"
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Doch bevor ich antworten konnte, hörte ich wieder Schritte.
„Jisung!", rief seine Mutter.
Er sprang auf. „Okay, ich muss los."
„Schon wieder?" fragte ich trocken.
„Tut mir leid." Er lachte. „Aber hey, ich komme wieder. Versprochen."
Und dann war er weg.
Der Rest des Tages verlief wie immer, doch die Worte der anderen Bewohner schienen heute schärfer zu sein.
„Hey Minho, wusstest du, dass die Stromrechnung bei dir sicher total niedrig ist? Du brauchst ja nie Licht."
Ich ignorierte sie, aber einer kam näher.
„Warum brauchst du überhaupt Augen, wenn du sie eh nicht benutzt?"
Das Lachen, das folgte, brannte wie Feuer unter meiner Haut, aber ich ließ mir nichts anmerken.
Am Abend, als ich wieder in meinem Zimmer lag, dachte ich an Jisung. An seine Worte, sein Lachen, die Wärme seiner Haut unter meinen Händen.
Vielleicht war er wirklich das, was er sagte: Hoffnung.
In der Dunkelheit meines Zimmers, die auch in meinem Kopf und vor meinen Augen herrschte, umgeben von der Stille, die mich immer begleitet, sank ich langsam in den Schlaf. Doch diesmal war es anders. Es war, als würde meine innere Welt lebendig werden, als wäre die Dunkelheit weniger bedrückend und mehr... bedeutungsvoll.
Ich träumte.
Nicht von Farben oder Formen - davon träume ich nie -, sondern von Gefühlen.
Ich spürte wieder die Wärme von Jisungs Haut unter meinen Fingern, die weiche Linie seiner Wangen, den leichten Widerstand seiner Lippen, die Venen auf seinen Händen, die so seltsam beruhigend waren. Doch diesmal war es anders.
Meine Hände zögerten nicht, sie erkundeten ihn mit einer Sicherheit, die ich im Wachzustand nie besessen hatte.
Ich fühlte, wie er näherkam, seine Atmung schwerer würde. Es war, als ob unsere Körper miteinander sprachen, ohne Worte, ohne Zögern.
Meine Finger glitten erneut über seine Wangen, hinunter zu seinem Hals. Ich fühlte den Puls unter seiner Haut, stark und lebendig, und es war, als würde dieser Rhythmus mich durchfluten, meinen eigenen Herzschlag anpassen.
„Du bist hier", flüsterte ich im Traum, obwohl ich nicht sicher war, ob es meine Stimme oder seine war.
Er griff nach meiner Hand, legte sie auf seine Brust, wo ich den gleichmäßigen, beruhigenden Schlag seines Herzens spürte. Es war warm, so warm, dass ich fast das Gefühl hatte, die Dunkelheit in mir schmelzen zu spüren.
Dann war da ein Hauch. Ein Atemzug, der näher kam. Seine Stirn gegen meine, seine Nase leicht an meiner entlang, und ich konnte die vertraute Wärme seiner Lippen fühlen, ohne dass sie sich tatsächlich berührten. Es war nicht einmal ein Kuss, aber es fühlte sich an wie alles, was ich jemals gesucht hatte.
Doch bevor ich den Moment festhalten konnte, zog er sich zurück, seine Wärme verblasste, und ich erwachte.
Meine Hand lag auf meiner Brust, genau dort, wo ich in meinem Traum sein Herz gefühlt hatte. Der Raum war kalt, leer, aber die Erinnerung an diesen Traum blieb.
Vielleicht war es nichts weiter als ein Hirngespinst, ein Abbild meiner einsamen Wünsche. Oder vielleicht, dachte ich, war es ein Versprechen, das irgendwo tief in meiner Seele verborgen lag.
🦋
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro