I Can't Help It
Ich hatte beschlossen, dem Warten noch eine Chance zu geben.
Vielleicht war es töricht, nach gestern, aber irgendetwas in mir konnte nicht aufgeben. Ich saß auf der Bank im Hof, spürte die Sonne, die durch die Äste der Bäume brach und hörte den Wind, der leise zwischen den Gebäuden spielte.
Und dann waren sie wieder da - diese Schritte. Leicht und lebendig, wie ein Lied, das man nicht aus dem Kopf bekommt.
„Minho!" rief Jisung, und ich richtete mich auf. Mein Herz schlug schneller.
„Du bist spät", sagte ich, versuchte, meinen Ton neutral zu halten.
Jisung seufzte und setzte sich neben mich. „Es tut mir leid. Ich... musste mich um etwas kümmern."
Ich wandte ihm das Gesicht zu. „Was ist passiert?"
Er schwieg kurz, dann sagte er: „Ein Mensch in meiner Nähe... hat sich umgebracht." Seine Stimme war leise, fast wie ein Flüstern.
„Ich habe es gespürt. Den Schmerz. Es hat den ganzen Tag nicht aufgehört."
Mein Atem stockte. „Geht es dir gut?" fragte ich sofort, ohne nachzudenken.
„Ja", sagte er. Seine Antwort kam schnell, aber ich hörte die Schwere in seiner Stimme.
„Es ist vorbei. Ich bin hier. Bei dir."
Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte ihn trösten, ihm helfen, aber wie tröstet man jemanden, der Schmerzen fühlt, die nicht einmal seine eigenen sind?
Doch dann sprach er weiter, seine Stimme hellte sich auf, als wolle er die Dunkelheit vertreiben.
„Übrigens, ich habe dir etwas mitgebracht. Eine Überraschung."
„Eine Überraschung?" fragte ich misstrauisch.
„Mhm", machte er geheimnisvoll. Ich hörte das Rascheln von Stoff und dann drückte er mir etwas Weiches in die Hand.
Ich ertastete es vorsichtig. Es war glatt und warm, mit einer festen Struktur, aber einer weichen Oberfläche. „Was... was ist das?"
„Ein Schal", sagte Jisung. „Ich hab ihn selbst gestrickt. Naja, fast. Meine Mutter hat ein bisschen geholfen."
Ich hielt den Schal in meinen Händen, fuhr mit den Fingern über die dichten Maschen. Er fühlte sich an wie Wärme, wie Geborgenheit.
„Er ist... schön. Zumindest fühlt er sich so an", sagte ich leise.
„Er ist grün", erklärte Jisung. „Ein kräftiges Grün. Wie... Hoffnung."
Ich schluckte. Worte blieben mir im Hals stecken, also sagte ich stattdessen: „Danke."
„Hör auf, dich zu bedanken", sagte er lachend. „Ich hab's gern gemacht."
Wir saßen eine Weile schweigend da, dann fragte ich: „Was machen wir heute?"
„Ich dachte, wir könnten wieder rausgehen. Es gibt einen Park in der Nähe, mit einem kleinen Teich. Es ist nicht weit, und ich dachte, du könntest den Wind dort fühlen. Er ist anders als hier. Freier."
Ich nickte. „Klingt gut."
Wir gingen langsam, Jisung führte mich über den Weg. Der Park war ruhig, bis auf das leise Rauschen der Bäume und das Plätschern des Wassers. Wir setzten uns auf eine Bank am Rand des Teichs.
„Weißt du", begann Jisung plötzlich, „manchmal frage ich mich, wie die Welt für dich aussieht."
„Dunkel", antwortete ich trocken.
„Nein, ich meine, wie du sie... erlebst. Ohne Farben. Ohne Formen."
Ich dachte einen Moment nach.
„Ich weiß es nicht. Ich fühle die Dinge. Ich höre sie. Aber sehen..." Ich schüttelte den Kopf.
„Ich kann es mir nicht vorstellen."
Er griff nach meiner Hand. „Vielleicht musst du das auch nicht. Vielleicht ist deine Art, die Welt zu sehen, genauso schön."
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Also saßen wir einfach da, die Hände ineinander verschränkt, während der Wind sanft um uns spielte.
Als wir zurück zum Heim gingen, ließ ich meine Finger über den neuen Schal gleiten, den Jisung mir geschenkt hatte. Das dichte Gewebe fühlte sich an wie eine Umarmung, warm und beruhigend. Die Zeit mit ihm war immer wie ein Moment des Aufatmens, ein Fluchtpunkt aus der monotonen Art meiner Tage.
„Danke, dass du mich wieder nach Hause bringst", sagte ich, als wir die Eingangstür erreichten.
„Natürlich. Außerdem schuldest du mir noch eine Geschichte", sagte Jisung mit einem Grinsen, das ich an seinem Tonfall erkennen konnte.
Ich seufzte gespielt genervt. „Du wirst langsam ganz schön fordernd, weißt du das?"
„Ich nenne es Charme", entgegnete er und lehnte sich gegen die Wand.
Ich dachte kurz nach. „Okay, hier ist eine Geschichte. Als ich klein war, wollte ich immer Astronaut werden. Ich wusste natürlich nicht, wie der Himmel aussieht oder die Sterne, aber ich hab mir vorgestellt, wie es wäre, sie zu berühren. Einfach wegzufliegen, dorthin, wo niemand mich finden kann."
Jisung schwieg einen Moment. „Das ist... traurig. Aber auch schön."
„Vielleicht beides", sagte ich leise.
„Okay", sagte er schließlich, „jetzt bist du dran, eine Farbe zu bekommen."
Ich richtete mich auf. „Welche?"
„Lila", antwortete er, ohne zu zögern.
„Lila", wiederholte ich, als würde ich das Wort zum ersten Mal schmecken.
„Lila ist... ein bisschen wie ein Traum", begann er.
„Es ist eine Mischung aus Rot und Blau, warm und kühl zugleich. Es fühlt sich an wie ein Geheimnis, wie etwas, das du noch nicht ganz verstehst, aber unbedingt herausfinden willst. Es ist die Farbe des Sonnenuntergangs, wenn die Welt ein bisschen stiller wird. Und es ist weich, wie der Schal, den du jetzt trägst."
Ich ließ die Beschreibung auf mich wirken. „Ein Traum", murmelte ich. „Das klingt... Interessant."
Jisung lachte leise. „Das ist es auch."
Nach dem Abendessen zog ich mich ins Badezimmer zurück. Die warme Dusche spülte die Müdigkeit und die Kälte des Tages von meiner Haut, doch in meinem Kopf war ich weit weg.
Jisung hatte sich in mein Denken eingenistet.
Sein Lachen und die Wärme seiner Hand auf meiner, als er mir half, die Welt zu verstehen. Und dann war da sein Gesicht, so deutlich in meinem Gedächtnis, als hätte ich ihn wirklich gesehen. Meine Finger wussten mehr von ihm, als ich es mit Worten ausdrücken konnte.
Nach der Dusche ging ich in mein Zimmer. Ich ließ mich auf das Bett fallen, der Stoff des Schals immer noch zwischen meinen Fingern.
Doch obwohl ich müde war, konnte ich nicht schlafen. Es war diese seltsame Aufregung in meinem Bauch, ein Kribbeln, das ich nicht zuordnen konnte. Ich dachte an Jisung, an seine Nähe, die Wärme seiner Stimme, die Farben, die er mir schenkte.
Und dann, plötzlich, kam der Gedanke.
Wenn ich eines Tages sehen könnte - wenn dieser Fluch jemals gebrochen würde - dann wollte ich, dass Jisung das Erste war, was ich sah.
Nicht den Himmel. Nicht die Sterne.
Nur er.
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