20 • 2 | Kaira
So war das nicht geplant. So sollte das nicht. Azvar wollte mir nicht zuhören. Er wollte Najik tot sehen und vielleicht auch mich.
Bei dem Gedanken stiegen mir Tränen in die Augen und ich machte einen kleinen Schritt auf Azvar zu. Die Klinge, die auf meine Brust zeigte, ließ mich wieder stehenbleiben.
"Du musst nichts erklären, Kaira." Die Kälte in seiner Stimme ließ mir eine Gänsehaut über die Arme kriechen. "Du hast diesen Angriff geplant, nachdem du Najik aus seiner Gefangenschaft befreit hast. Du bist Königin. Er ist Thronfolger, euer Vater ist König. Wenn ich tot bin, habt ihr Macht über ganz Ilatharis. Euer Plan geht nur leider nicht auf. Ihr seid beide verletzt und ihr habt keine Chance gegen mich."
Ich schloss die Augen und atmete zittrig ein. Natürlich ging er davon aus. Es war die naheliegendste Erklärung. "Ich habe dich nicht verraten, Azvar. Gib mir drei Minuten, bitte. Und Najik, hör auf dich zu wehren, das macht es nicht besser."
Mein Bruder versuchte Azvar das Messer abzunehmen, das an seiner Kehle anlag. Doch der verletzte Najik war kein Gegner für den ausgeruhten, beinahe unverletzten König.
"Der Idiot kann mich ruhig loslassen", zischte Najik und erhöhte seine Anstrengungen noch einmal. "Ich will ihm nichts tun!" Mit einiger Kraft stampfte er auf Azvars Fuß.
Keine zwei Sekunden später lag er auf dem Boden, die Spitze von Azvars Schwert lag an seiner Kehle an, von einem Fuß auf seiner Brust wurde er unten gehalten. "Ein Wort noch und du bist tot", fauchte Azvar und legte so viel Gewicht auf Najiks Brust, dass dieser nach Luft schnappte. Azvar griff nun nach meinem Schwert und richtete es wieder auf mich.
"Azvar, bitte." Mir wurde bewusst, wie flehend meine Stimme klang. "Ich mache ganz sicher nicht mit Zokaar gemeinsame Sache. Du solltest mich besser kennen. Er ist tot."
Ich sah ihm an, dass ihn diese Worte überraschten, bevor er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte. "Zokaar?", fragte er und richtete den Blick jetzt unverwandt auf mich.
Vorsichtig nickte ich und deutete auf Najik. "Er ist König über Thazanur. Wir sind das Königspaar von Arnarith", stellte ich leise fest. "In dieser Putzkammer sind die drei mächtigsten Wesen dieser Welt. Bitte, lass mich erklären."
Azvar blickte nach unten zu Najik und ganz kurz hatte ich Angst, dass er ihn jetzt umbringen würde, wenn er das Wissen hatte, dass er damit die lazalische Königslinie auslöschen würde. Doch er blickte wieder auf zu mir, ohne etwas zu tun. "Du hast deinen Vater umgebracht?"
Zögerlich nickte ich. "Wir beide. Erzähl mir nicht, dass du Hass gegen den eigenen Vater nicht verstehst."
"Er hat seinen Vater verraten?"
Azvar glaubte mir nicht. Oder war sein zu Najik flackernder Blick doch zweifelnd? Vermutlich war das Wunschdenken. Blieb mir nur, ihn mit der ganzen Geschichte zu überzeugen.
"Wir waren uns einig, dass wir Frieden wollen", begann ich. "Ja, ich habe ihn aus der Gefangenschaft befreit. Es war Najiks eigene Idee, ihn zur Hochzeit einzuladen. Wir haben uns öfter getroffen, nachts, über der großen Bucht. Zweimal bist du aufgewacht, als ich weg war, aber ich konnte deinen Verdacht immer wieder von mir lenken. Dann haben Najik und ich einen Termin ausgemacht und ich musste dich überzeugen, mich den Brief zur Grenze bringen zu lassen. Ab da standen wir beide regelmäßig im Briefverkehr. Ich hatte viel Glück, dass du so Massen an Arbeit hattest und die Briefe nie gelesen hast. Najik hat unseren Vater überzeugt ihn zur Hochzeit gehen zu lassen, weil die Lazaliv dann den Palast angreifen könnten. Von mir wusste Zokaar nichts. Er dachte, ich hätte Najik einfach so eingeladen."
Die auf mich gerichtete Schwertspitze senkte sich um einige wenige Zentimeter, was ich als gutes Zeichen nahm. Auch wenn Azvars Gesichtsausdruck noch immer kalt und verschlossen war.
"Ich habe Najik von meinen Hochzeitsplänen erzählt. Er hat Zokaar davon erzählt. Wir haben mit Absicht gewartet, bis die Krönung abgeschlossen war. Zokaar sollte denken, er könnte mich als Königin der Caraliv kontrollieren und die Fäden im Hintergrund ziehen. Der Aussicht auf Macht über ganz Ilatharis konnte er nicht widerstehen. Najik hat ihn davon überzeugt, selbst mitzukommen. Dich, Azvar, würde man außer Gefecht setzen und Zokaar könnte dich selbst töten. So war der Plan."
Najik lag nun reglos am Boden, konzentrierte sich auf seine Atmung. Er verlor viel Blut. Ich musste mich beeilen. Nicht nur, weil meine eigenen Schmerzen immer schlimmer wurden.
"Kurz nach Beginn des Angriffs habe ich Zokaar vom Kampf weggelockt, unter dem Vorwand, Najik hätte mich gebeten, ihn in Sicherheit zu bringen. Zokaar hat niemandem vertraut, außer seiner eigenen Macht. Wenn er sich in etwas sicher war, dann, dass er im Recht ist. Dass jeder ihn vergöttert. Er war so geblendet von seiner eigenen Gier und Selbstüberschätzung, dass er meine Geschichte nicht in Frage gestellt hat. Als ich ihm erzählt habe, ich bereue meine früheren Taten und würde mir nichts mehr wünschen, als dass er mir verzeiht, hat er sofort seine Chance gewittert. Ich kenne mich im Palast aus und er hatte sowieso nicht vor mitzukämpfen. Vermutlich hätte er mich umgebracht, sobald wir alleine gewesen wären. Mit einem erneuten Kampf hat er nicht gerechnet."
Die tiefe Wunde irgendwo auf Höhe meines Beckenknochens machte mir zu schaffen. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht und stützte mich an der Wand neben mir ab. Dumpfer Schmerz pochte in meiner Hüfte und breitete sich wie in Wellen in meinem Körper aus, sodass ich Mühe hatte, mich zu konzentrieren.
"Najik hat ihm aufgelauert und gemeinsam haben wir ihn bekämpft. Er ist alt und wurde überrascht. Gegen uns beide hatte er keine Chance." Ich schüttelte den Kopf und versuchte davon zu erzählen, ohne das Bild erneut vor Augen zu haben. "Najik hat ihn so schwer verletzt, dass er zu Boden gegangen ist und ich habe ihm das Schwert durch den Hals gestoßen. Er liegt zwei Korridore weiter. Wenn du nachsehen willst, geh nachsehen. Aber Zokaar ist tot. Ich habe meinen eigenen Vater getötet. Najik ist König. Wenn du mir nicht glaubst, schau dir sein Blut an. Er hat Hochverrat begangen."
Azvar schwieg für zwei lange Minuten. Sein schwarzer Blick war unverwandt auf mich gerichtet. Wir beide hatten beinahe vergessen, dass Najik auch noch da war, doch der lag ohnehin ruhig und still am Boden und schien zu spüren, dass dieser Moment nicht ihm gehörte.
"Du hast mich verraten."
Der Schmerz in Azvars Stimme ließ mir erneut die Tränen in die Augen schießen. Meine Beine zitterten und gaben beinahe unter mir nach. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ ich mich auf einen Hocker in einer Ecke sinken und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. Inzwischen pochte auch mein Kopf, immer wieder fing mich der Schwindel ein und brachte schwarze Ränder an mein Sichtfeld.
"Ich habe dich nicht verraten, Azvar", beharrte ich angestrengt. "Du hättest dem Plan niemals zugestimmt, ich hätte erwischt und hingerichtet werden können oder Najik hätte dich verraten können. Aber es war die einzige Möglichkeit, diesen endlosen Krieg zu beenden. Und Zokaar ist jetzt tot. Ihr beide seid für den Frieden und ihr beide seid diejenigen, die darüber entscheiden können."
"Du hast mich trotzdem belogen. Wir sind ein Paar und du machst Pläne, die das ganze Land betreffen. Du benutzt mich als Figur in deinem Spiel. Was sonst ist Verrat?"
"Ich weiß. Und ich verstehe, dass du mir das nicht sofort verzeihen wirst. Aber beende vorher den Krieg, bitte. Najik kann seine Soldaten aus dem Saal zurückpfeifen, wo deine Leute gerade sterben. Unsere Leute. Denk doch darüber nach, Azvar. Keine Toten mehr. Keine Fehden, kein Rache- oder Blutdurst." Meine Stimme wurde wieder flehentlich. "Lass Najik aufstehen. Ich bitte dich."
Wieder herrschte Stille und Azvar blickte zum ersten Mal wieder nach unten zu meinem Bruder. Der Hass stand deutlich in sein Gesicht geschrieben. "Nenn mir einen Grund, wieso es nicht mehr Vorteile für mich hat, ihm hier und jetzt den Kopf abzuhacken", zischte er und das Schwert lag wieder an der schweißbedeckten, blutverschmierten Kehle meines Bruders. Ich sah, wie Najiks Adamsapfel sich einmal auf und wieder ab bewegte, als er schwer schluckte.
"Er ist mein Bruder", flüsterte ich leise. "Und wenn dir das gerade egal ist, was ich durchaus verstehen könnte, dann denk einen Schritt weiter. Wenn du Najik umbringst, hast du deine Rache bekommen. Aber irgendwer wird Rache für ihn suchen. Ein neuer Herrscher wird früher oder später auf den lazalischen Thron steigen und der wird den Krieg wieder befeuern. Es wird für immer so weitergehen. Caraliv sterben, Lazaliv sterben, Familien werden auseinandergerissen und Städte werden brennen. Nutz diese Gelegenheit und beende das Leid ein für allemal."
"Was ist mit eurer Mutter?", fragte Azvar herausfordernd.
"Eine lazalische Frau? Als ob die etwas zu sagen hat", murmelte ich seufzend. "Sie wird den Thron an ihren Sohn abgeben."
Er zögerte. Sein Blick wanderte von mir zu Najik und wieder zurück, flackerte dann kurz zur Tür. Ich hätte gerne seinen Gesichtsausdruck interpretiert, doch seine vertrauten Züge waren so verschlossen und kühl wie selten. Ich hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging.
"Eine letzte Frage", meinte er schließlich und diesmal richtete er sich an uns beide. "Es hat auch in der Vergangenheit schon Versuche gegeben, zwischen unseren Völkern Frieden zu schließen. Jeder Einzelne ist früher oder später gescheitert. Keiner hat sich länger als einige wenige Jahre gehalten, die meisten nur wenige Monate. Wieso sollte es jetzt anders sein?"
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, denn ich hatte Najik in den Anfangsphasen unseres Plans genau dieselbe Frage gestellt. Auch jetzt war er es, der antwortete.
"Du vergisst Kaira." Seine Stimme war heiser und flach. Er brauchte dringend einen Heiler und dringend mehr Luft. "Jemanden wie sie hat es noch nie gegeben. Sie ist eine lazalische Prinzessin auf dem Thron der Caraliv. Sie ist das Bindeglied zwischen unseren Völkern, das vorher immer gefehlt hat."
Wieder dachte Azvar darüber nach und wieder konnte ich ihm nicht ansehen, was er dachte. Würde er meinen Bruder doch gleich noch umbringen? Oder uns beide? Hatte ich ihn überzeugt? Glaubte er mir? Würde er mir je wieder irgendetwas glauben? Hatte ich unsere Ehe verspielt? Ich wollte nicht, dass dieser Plan alles zerstört hatte, was ich mir so mühsam aufgebaut hatte. Ich wollte meinen liebevollen, sanften Azvar wieder, der jetzt so wütend und kalt war.
Dann, langsam, ganz langsam, nahm er den Fuß von Najiks Brust.
Mit tiefen Atemzügen füllte er seine Lunge wieder mit Luft und machte sich vorsichtig daran aufzustehen. Ich sah ihm an, dass die Wunden ihm schwer zu schaffen machten, doch ich selbst hatte nicht die Kraft ihm zu helfen. Er hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten, dennoch war sein Stolz ungebrochen, als er Azvar in die Augen sah.
"Ich werde meine Soldaten aus dem Palast zurückziehen." Selbst in seiner Stimme schwang der Schmerz mit, den die Wunden ihn erleiden ließen. "Du wirst mich nicht töten und ich werde dich nicht töten."
Azvar schnaubte verächtlich. Wir alle wussten, dass wenn hier ein Mord geschah, nicht Najik ihn begehen würde. Es würde mich überraschen, wenn er noch ein Schwert halten konnte. Die Farbänderung des Blutes hatte ihn ihm genauso viele Qualen hervorgerufen wie in mir damals. Er war stark geschwächt.
"Unsere Länder befinden sich nicht mehr im Krieg. Genaueres können wir klären, wenn im Raum neben uns keine Leben mehr ihr Ende finden." Er streckte Azvar seine blutige Hand entgegen und sah ihm fest in die Augen. "Stimmst du zu?"
Der Moment war gekommen. Der, auf den ich seit Monaten hinarbeitete. Auf den alles ankam. Wenn Azvar jetzt ablehnte, war alles umsonst. Najik würde vermutlich sterben, genauso wie Tausende weitere Soldaten und Zivilisten. Die Lazaliv hätten keinen König mehr und die Caraliv einen, der von seiner Frau verraten wurde.
Wieder erschienen die schwarzen Ränder an meinem Sichtfeld. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Mein Blick verschwamm. Der Schmerz nahm Überhand. Konnte ich es mir leisten, bewusstlos zu werden? Nein. Najik und Azvar brauchten mich, sonst würden sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. So viel war sicher.
Also kämpfte ich mich zurück. Ich legte eine flache Hand auf die kühle Steinwand neben mir und konzentrierte mich auf dieses Gefühl. Es half mir, nicht ins schwarze Nichts abzudriften. Nach einigen Sekunden konnte ich auch wieder klar sehen und mich auf die beiden Könige vor mir konzentrieren.
Azvars Blick war fest mit dem Najiks vereint. Keiner der beiden sah auch nur eine Sekunde zu mir oder sonst irgendwohin.
"Ich stimme zu."
Und sie schüttelten sich die Hände.
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