20 • 1 | Azvar
Glas splitterte. Holz zerbarst. Flügel schlugen.
Panik kam auf.
Durch jedes Einzelne der hohen Fenster im Thronsaal schoss ein Lazaliv, die Flügel schützend um den Körper gelegt. Noch mehr von ihnen flogen durch die zersplitterten Glasscheiben. Wie Raubvögel über der Beute kreisten sie unter der Decke des Saals.
Dann flogen die breiten Eingangspforten auf und König Zokaar blickte mir mit einem siegessicheren Grinsen entgegen.
Mit erhobener Hand gab er den Befehl zum Angriff. Im Sturzflug schossen die Lazaliv von ihren erhöhten Positionen, nutzten den Vorteil ihrer Flügel für kurze Attacken und stiegen dann wieder auf, bevor ein Caraliv das Schwert auch nur in ihre Nähe brachte.
Während ich meine eigene Waffe zog, flackerte mein Blick durch den Saal. Kaira war nicht mehr neben mir. Gerade eben hatte sie noch meine Hand gehalten, nun war sie weg. War sie bewaffnet? Konnte sie sich verteidigen?
Ein Lazaliv zog meinen Blick auf sich. Er kreiste nicht wie die anderen oben an der Decke. Er befand sich im Nahkampf mit Eljina.
Najik.
Dieser verdammte Bastard war doch schuld an diesem Hinterhalt. Daran hatte ich keinen Zweifel. Wer sonst hätte den Lazaliv den perfekten Zeitpunkt für einen Angriff genannt?
Ein Flattern über mir machte mich auf einen Angreifer aufmerksam, der gerade in den Sturzflug überging. Meine Muskeln spannten sich schon an um auszuweichen, doch mühsam unterdrückte ich den Reflex und wartete, bis ich das Schwert senkrecht nach oben stechen konnte.
Die Klinge fand ihr Ziel. Kreischend ging der Lazaliv zu Boden, sein Schrei vermischt mit dem zahlreicher Caraliv.
Ich nahm mir nicht die Zeit, ihn zu erledigen. Graues Blut triefte von meinem Schwert, als ich die Klinge schmatzend aus der Magengegend zog. Mit einem Brüllen machte ich meiner Wut Luft, als ich auf Eljina und Najik zustürmte.
Nicht, dass ich meiner Generalin nicht vertraute, ihn erledigen zu können. Ich wollte es nur selbst tun. Es kümmerte mich nicht, dass er Kairas Bruder war. Er war der lazalische Thronfolger und er würde sterben.
Sobald er auf mich aufmerksam wurde, schlug er mit den Flügeln und entzog sich dem Kampf gegen zwei Gegner.
"Feigling!", brüllte ich ihm hinterher, doch er zeigte keine Reaktion. Wut durchflutete mich wie heiße Lava und schien meine Eingeweide in Brand zu stecken. Das Feuer steuerte meine Bewegungen, blockte meine Gedanken und ließ mich meinen Dolch ziehen. Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte ich die schmale Klinge in Richtung des Prinzen.
Es blieb keine Zeit darauf zu achten, ob ich getroffen hatte. "Eljina", wandte ich mich an sie. "Schlag Alarm und finde heraus, ob sie nur hier oder überall im Palast oder gar der Stadt angreifen. Ordne deine Soldaten, lass die Hochzeitsgäste in die Schutzräume bringen. Halte dich zurück, was den offenen Kampf angeht."
Ich war froh, als Eljina widerspruchslos nickte und davoneilte. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich mich um. Ich musste Kaira finden und ich musste Zokaar finden. Erstere um sie in Sicherheit zu bringen, Letzteren um ihn ins Jenseits zu befördern und so hoffentlich die Moral seiner Soldaten zu zerstören.
Wie sich herausstellte, musste ich sie gar nicht getrennt suchen.
Kaira sprach mit ihrem Vater. Sie gestikulierte, schien aufgebracht, nervös, doch sie sprach mit ihm und er antwortete. Sie kämpften nicht und sie trugen keinen alten Streit aus.
Das war der Moment, in dem mir der ohnehin wackelnde Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Meine Knie gaben für zwei Sekunden nach und beinahe glitt mir das Schwert aus den Händen. Die glühende Wut in meinem Inneren erlosch, als wäre sie mit kaltem Wasser übergossen worden. Zurück blieb Leere. Leere und das dumpfe Gefühl von Schmerz.
Mein Körper bewegte sich wieder und führte das Schwert gegen die Lazaliv, doch ich nahm davon kaum etwas wahr.
Nicht Najik hatte König Zokaar den Angriff vereinfacht. Nicht er hatte mich verraten.
Es war Kaira. Kaira hatte ihrem Vater weitergegeben, wann alle einflussreichen Caraliv in einem Raum sein würden. Wann sie und ich dort sein würden. Wann er angreifen sollte.
Meine Finger waren taub. Mein Kopf wie mit Watte vollgestopft. Meine Muskeln zitterten. Meine Reflexe wehrten Schwerter ab und starteten Gegenangriffe. Meine Gedanken kreisten um diesen unfassbaren Verrat.
Hatte sie die ganze Hochzeit darauf ausgelegt, ihren Verbündeten eine möglichst gute Angriffsgelegenheit zu bieten? Hatte sich der Plan spontan ergeben? War das Ziel mein Tod? Ihre Rückkehr nach Thazanur? Der Tod aller Fürsten und Ratsmitglieder? Die Auslöschung der Führungsebene der Caraliv?
Ein weiteres Mal glitt mein Blick zu Kaira und Zokaar. Er folgte ihr, sie eilte zwischen den Kämpfenden hindurch auf den Ausgang des Saals zu. Natürlich. Zokaar war ein alter Mann, er würde nicht kämpfen. Er war nur hier, um einen großen Auftritt hinzulegen und das Spektakel zu beobachten.
Mit dieser Erkenntnis kam auch die Wut wieder. Stärker als zuvor. Sie war keine schwelende Glut mehr. Sie war ein flammendes Inferno, das mich hinter den beiden herstürzen ließ.
Zwei Lazaliv, die mich gleichzeitig angriffen, hielten mich davon ab. Mit aller Kraft und jeglicher Schnelligkeit, die ich aufbringen konnte, wehrte ich ihre Angriffe ab und zielte auf ihre Schwingen. Der Jüngere der beiden war zu langsam.
Das dumpfe Geräusch, mit dem die Hälfte seines Flügels auf dem Boden auftraf, wurde beinahe übertönt vom schrillen Schrei des jungen Mannes, der abrupt abbrach, als meine Klinge seine Kehle durchtrennte.
Ich sah die Panik in den Augen des anderen, als ich mich ihm zuwandte und einen halbherzigen Schwerthieb parierte. Angst schien seine Glieder zu lähmen und keine Minute später lag auch er halbtot am Boden.
Mein Blutdurst wurde davon nicht gestillt. Ich wollte silbernes Blut. Najiks. Zokaars. Ich wollte Rache für Enlaya, für meine Mutter, für den Verrat meiner eigenen Ehefrau.
Wutschnaubend stürmte ich auf die Saaltore zu, überzeugt, mich jetzt nicht mehr aufhalten zu lassen. Mit einer Wendigkeit, die nur das Adrenalin hervorrufen konnte, wich ich herabstürzenden Lazaliv und anderen kämpfenden Paaren aus.
"Sie blockieren die Tür! Ihr werdet hier nicht rauskommen!", rief mir irgendjemand hinterher - Kuladr vielleicht? - und mir wurde die Genialität des Plans bewusst.
Die meisten Gäste trugen nicht einmal eine Waffe bei sich, hatten sie sich doch auf einen gemütlichen Nachmittag mit Speisen, Tanz und Alkohol eingestellt. Die meisten Wachen lagen tot am Boden. Niemand konnte den Saal verlassen, außer die Lazaliv, die die meterhohen Fenster erreichen konnten. Wir saßen in der Falle wie Kälber in einem Wolfsrudel.
Trotzdem stürmte ich weiter auf die Tür zu. Ich musste es versuchen. Egal, wie sinnlos dieses Unterfangen sein würde.
Als ich einige Meter vor den geschlossenen Toren war, öffneten sie sich von selbst und niemand anderer als Najik kam hindurch.
Seine Schwingen waren verklebt von Blut, das ebenfalls an seiner Hüfte und seinem Bein die Kleidung färbte. Kurz stutzte ich. Etwas war falsch. Doch ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er war verletzt. Geschwächt. Gute Voraussetzungen.
Mit so viel Kraft wie mein Arm hergab ging ich auf ihn los. Mühelos wich er mir aus, kaum zwei Flügelschläge brauchte er dafür. Wieder wollte ich mit dem Schwert nach ihm schlagen, wieder wich er aus. Kein Gegenangriff, Najik blieb defensiv.
Ich zwang mich zu einem tiefen Atemzug. Kaira hatte mir erklärt, wie man Lazaliv besiegte. Nun würde es ihren Bruder das Leben kosten und sie hatten beide nichts anderes verdient.
"Azvar, warte."
Najiks ruhige Stimme zwischen dem Lärm der Kämpfe rief milde Überraschung irgendwo am Rande meines Bewusstseins hervor, doch drang diese Emotion nicht durch das Feuer der Wut. Niemals würde ich mich von einem solch billigen Trick reinlegen lassen.
Verbissen ging ich wieder auf ihn los, legte diesmal nicht meine ganze Kraft in den Hieb, sondern konzentrierte mich auf die Schnelligkeit, die es brauchte, um seine Ausweichmanöver zu umgehen. Mühelos wie ein Messer durch zartes Fleisch glitt mein Schwert in seinen Arm und er schrie auf.
Mit drei kräftigen Flügelschlägen brachte er sich außer Reichweite und hielt sich den Schwertarm. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Der Anblick erfüllte mich mit Genugtuung. Bis mir einfiel, was falsch war. Er war der Thronfolger der Lazaliv. Mitglied der Königsfamilie. Er hatte silbernes Blut.
Seine Hand war überströmt von schwarzer Flüssigkeit.
Noch während ich entgeistert auf seine Wunden starrte, erhob sich Najik vollständig in die Luft. Doch er stieg nicht auf, flog nicht aus meiner Reichweite an die Decke. Er blieb einen, zwei Meter über dem Boden und verließ den Saal durch die geöffneten Türen.
Ohne zu zögern folgte ich ihm. Und wenn er mich in einen Hinterhalt führen wollte - so sei es. Vielleicht könnte ich ihn wenigstens mit mir nehmen. Die Farbe seines Blutes war egal. Hauptsache, er vergoss möglichst viel davon.
Die Lazaliv im Korridor, die scheinbar jeden von der Flucht abhalten sollten, ließen mich jedoch passieren. Ich machte mir keine Gedanken darüber. Ich stürzte Najik hinterher und alles, an was ich denken konnte, war Enlaya und der leere Blick in ihren Augen, nachdem er ihr die Kehle durchgeschnitten hatte.
Najik landete und drehte sich zu mir um. Er war stark geschwächt, konnte kaum stehen, verlor immer mehr Blut. So wäre er kein Gegner für mich, der ich noch bis auf einen Kratzer an der linken Schulter unverletzt war.
Kurz bevor er in Reichweite meiner Klinge kam, stürzte er zur Seite durch eine der verborgenen Türen, die in die Bedienstetenkorridore führten. Ich hatte so viel Schwung, dass ich schon zwei Meter weiter war, ehe ich umdrehte und ihm hinterher durch die Tür platzte.
Wider meiner Erwartung sah ich ihn nicht von hinten, wie er versuchte seinen Tod noch einige Sekunden herauszuzögern, wie er kläglich davonrannte. Wir befanden uns in einem kleinen Raum, auf den ersten Blick eine Putzkammer. Gerade, als ich eintrat, drehte Najik sich zu mir um. Doch er war nicht allein.
"Es ist nicht das, wonach es aussieht, Azvar", flüsterte Kaira und ich hörte die Angst in ihrer Stimme. Die Angst, die sie mir ausgezeichnet vorspielte. "Bitte, lass mich erklären."
Ich hörte sie schon gar nicht mehr. Darauf würde ich nicht hereinfallen. Das konnte sie vergessen.
Das Überraschungsmoment war auf meiner Seite, als ich einen Satz nach vorn machte, Najik am Kragen packte und ihn zu mir zog. Aus seinem Gürtel zog ich ein Messer, das ich an seine Kehle legte. Sein Rücken presste sich an meine Brust. Mehr als einen überraschten Laut brachte er nicht zustande. Er war so stark verletzt, dass Gegenwehr kaum möglich sein würde. Mit erstaunlich wenig Kraftaufwand schlug ich ihm das Schwert aus der Hand.
Die Spitze meiner eigenen Klinge richtete sich auf Kaira. Das goldene, so schöne Kleid war an zwei Stellen zerrissen, von schwarzem Blut gefärbt. Auch die Halskette, die ich ihr vor keiner halben Stunde umgehängt hatte, war verklebt von schwarzer Flüssigkeit. Genauso wie ihr Bruder war sie nicht gerade geringfügig verletzt und ich konnte mich nicht entscheiden, ob mir das leidtat oder ob sie alles verdiente. Ihre Frisur war zerstört, die meisten Strähnen fielen wirr und verknotet auf ihre Schultern. Schock zeichnete sich in ihrem Gesicht ab, als sie einen Schritt zurückwich und langsam den Kopf schüttelte. "Das ist falsch, Azvar. Hör mir zu. Bitte."
"Lass die Waffe fallen." Ich war selbst erschrocken, wie eisig meine Stimme klang, als ich mit meiner frisch vermählten Geliebten sprach. "Sofort."
Das schmale, lange Schwert glitt zu Boden und Kaira hob halb die Hände. Tränen glitzerten in ihren Augen. Sie war eine gute Schauspielerin. "Azvar, bitte. Lass mich erklären."
"Nein!", fauchte ich und mehr ausversehen als absichtlich drang das Messer durch Najiks Haut und fügte ihm einen kleinen Kratzer an der Kehle zu. "Du wirst nichts erklären. Es gibt nichts mehr zu sagen. Du hast mich verraten. Genauso wie er."
Ich verstärkte meinen Griff um Najik, als seine Hand nach oben tastete und versuchte mir das Messer zu entwenden. "Und dafür werdet ihr bezahlen."
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