18 • 3 | Kaira
Gekleidet in eine weite Stoffhose und einen dunklen Umhang verbrachte ich die restliche Nacht in der lazalischen Stadt Zintabur, wo ich mir mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze ein Zimmer über einem gut besuchten Wirtshaus mietete und einige Stunden schlief. Kurz nach Sonnenaufgang verschwand ich wieder und kaufte mir etwas Besseres zu essen als den Reiseproviant, den ich aus Samalfar mitgenommen hatte.
Als eine von vielen verließ ich die Stadt in der Luft, doch ich stieg weiter auf als die meisten. So würde es nicht allzu sehr auffallen, wenn ich nicht weiter ins Landesinnere flog, sondern in die gegensätzliche Richtung zur Grenze. Es war dennoch ein seltsames Gefühl, nicht die Einzige im Himmel zu sein und ich hatte durchgehend Angst, dass jemand zu genau hinsah und meine Flügel als weiß erkennen würde. Doch in der Hose, die ich trug, würde man sowieso nicht denken, ich sei eine Frau. Kurz nach der Grenze zog ich mich jedoch wieder um, damit spätestens in Samalfar die Wachsoldaten wissen würden, dass ich keine Gefahr darstellte.
Dunkle Wolken verhingen heute den Himmel und ich nutzte diese, um ungesehen Richtung Samalfar zu fliegen. Muskelkater brannte in meinem Rücken, doch nach ein oder zwei Flugstunden wurde dieser langsam besser. Nur ab und an tauchte ich unter den Wolken ab, um meinen Kurs zu kontrollieren. Der Wind blies von vorne und machte mich um einiges langsamer. Es war ein trockener, starker Wind, nicht kalt, doch so, dass ich den kommenden Sturm spüren konnte. Durch das Kondenswasser der Wolken war ich nach einigen Stunden durchnässt und fröstelte trotz des lauen Windes.
Es musste bereits nachmittags sein, als der Sturm mich einholte. Mit neuer Kraft fegte es mir von rechts vorne entgegen und brachte mich immer wieder vom Kurs ab, die Sicht wurde durch starken Regen auf etwa zwei Meter beschränkt, das Kleid flatterte mir um die Beine und Blitze zerteilten im Sekundentakt die dicke Wolkendecke. Für einen Moment überlegte ich, ob ich versuchen sollte, über den Gewittersturm ins schöne Wetter zu fliegen, doch es wäre ein Risiko, jetzt wieder in die Wolken einzutauchen. Vom Blitz getroffen werden war kein Spaß, wenn man zweihundert Meter über dem Boden war. Außerdem war ich mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch richtig flog.
Also nutzte ich die Gelegenheit, als ich unter mir Lichter erkennen konnte, und segelte in weiten Kreisen hinab. Donner krachte direkt über mir und jagte mir einen solchen Schrecken ein, dass ich beinahe abstürzte. Schon bald erkannte ich, dass mein Ziel kaum mehr als ein kleines Dorf war, vielleicht hundert Häuser, wenn ich großzügig schätzte. Ein besonders starker Windstoß brachte mich aus dem Gleichgewicht und ich sackte einige Meter unkontrolliert ab, bevor ich mich wieder fing. Natürlich war mir klar, dass ein kleines, caralisches Dorf mich nicht besonders herzlich empfangen würde, doch ich hoffte, dass meine Position als Verlobte des Königs genug wäre, um mir zumindest Unterschlupf zu gewähren.
Als ich tief genug über dem Boden war, um im Dorf mehr als die groben Schemen der Häuser zu erkennen, wurde mir klar, dass irgendeine Art von Fest gerade am Laufen war. Auf dem Dorfplatz in der Mitte der Häuseransammlung befand sich ein großes, weißes Festzelt. Die Gebäude schienen größtenteils unbeleuchtet zu sein und nur in unmittelbarer Nähe des Zeltes waren die Straßen erhellt. Scheinbar war die gesamte Dorfgemeinschaft dort versammelt.
Fantastisch.
Ich landete am Rande des Platzes und war froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Bis auf die Knochen war ich durchnässt, inzwischen war mir auch kalt. Vom stürmenden Wind, der die ganze Zeit an mir zerrte, schmerzten meine Ohren und gleichzeitig fühlte ich mich wie in Watte gepackt.
Vorsichtig näherte ich mich dem Festzelt und zupfte meinen Umhang zurecht, sodass das königliche Wappen auf meiner Brust nicht verdeckt wurde. Um zwei Seiten ging ich herum, bevor ich etwas fand, das wie ein Eingang aussah. Wachsam und bereit, mich notfalls zu verteidigen, trat ich ein und fand mich in einer Art Vorraum wieder, in dem zahlreiche Umhänge und Jacken hingen und drei kichernde junge Frauen in der Ecke tuschelten.
Als ich eintrat, drehten sie sich mit ertappten Mienen zu mir um, ehe sie erkannten, dass sie mich eben nicht erkannten. Verwirrt starrten sie mich an und versuchten wohl herauszufinden, wer in diesem Dorf wohnte, den sie nicht kannten.
Zögerlich trat ich einen Schritt vor und schloss den Sturm hinter mir wieder aus. Mit der rechten Hand formte ich eine lockere, halb geöffnete Faust mit gestrecktem kleinen Finger und fuhr mir damit auf Höhe des Schlüsselbeins von links nach rechts über die Brust. Die caralische, förmliche Begrüßungsgeste.
"Wer bist du?", fragte eine der Frauen und musterte mich misstrauisch, ohne die Geste zu erwidern. Kein gutes Zeichen.
"Seid gegrüßt", begann ich. "Mein Name ist Kaira. Ich bin ..."
Mehr Worte waren nicht nötig. Die drei Münder klappten auf, zwei Sekunden später folgte eifriges Tuscheln, ob ich denn tatsächlich die Kaira sein konnte. Nach kurzem Zögern fuhr ich fort.
"Ich bin die Verlobte von König Azvar, in dessen Auftrag ich unterwegs bin. Der Sturm hindert mich an der Weiterreise. Ich erbitte Unterschlupf für die Nacht, für eine warme Mahlzeit wäre ich ebenfalls dankbar."
Eine der Frauen verschwand im Inneren des Zelts, aus dem fröhliche Musik und lautes Stimmengewirr drang. Die anderen beiden musterten mich und wirkten, als wollten sie sich mich mit trockenen, gekämmten Haaren und in einem schöneren Kleid vorstellen, als das knielange, am Oberkörper eng anliegende aus Leder, das ich jetzt trug. Darunter hatte ich eine Stoffhose und geschnürte Schuhe, darüber einen warmen, doch durchnässten Umhang, alles in braunen Farbtönen gehalten.
"Was feiert ihr?", traute ich mich nach einigen Sekunden unangenehmer Stille zu fragen. Ich hoffte, dass nicht gleich fünf Männer aus dem Zelt gestürmt kamen, um mich in irgendeinem Hinterhof den Schweinen zum Fraß vorzuwerfen.
"Hochzeit", warf mir die eine Frau vor die Füße, als wäre es ein Schimpfwort.
"Anni und Rebb heiraten", ergänzte die andere, ein kleines Stück weniger feindselig. "Bist du wirklich die Verlobte des Königs?"
Ich nickte, als wüsste ich wer Anni und Rebb waren, gleichzeitig als Antwort auf ihre Frage. Nicht sicher, ob das eine gute Idee war, entfaltete ich meine Flügel. Weiß und nass drangen sie durch die Schlitze in meiner Kleidung am Rücken und die beiden Frauen wichen ruckartig zurück.
In dem Moment trat eine weitere Frau aus dem Zelt, die ein hellblaues, schönes Kleid und ein Diadem auf der Stirn trug. Die Braut, vermutlich traditionell gekleidet in der Augenfarbe ihres Mannes.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie mich an und ihr Blick glitt über meine Schwingen, genauso wie über meinen kompletten Körper. Vorsichtig wiederholte ich die Begrüßungsgeste und mein Anliegen, währenddessen ein Mann neben die Frau trat. Seine stechend hellblauen Augen schienen im spärlichen Licht hier regelrecht zu leuchten und ich wusste, dass ich Braut und Bräutigam, Anni und Rebb vor mir hatte.
Die beiden tauschten einen Blick, sahen dann beide gleichzeitig wieder zu mir. Die Frau war klein und schlank, hatte ihre weißblonden Locken in einem lockeren Dutt nach oben gesteckt. Der Mann war groß und gutaussehend, mit dunklem Bart und schulterlangen, zusammengebundenen Haaren. Irgendwie erinnerte er mich an Krijan.
Sein Blick blieb für einen Moment auf meiner Kleidung hängen, hoffentlich auf dem Wappen des Königs. Ich schwieg und wartete schon fast auf eine unfreundliche Abweisung, doch scheinbar war Athkazr mir heute freundlich gesinnt.
"Ach komm, Rebb, schau nicht so grimmig", verlangte die Frau und hakte sich bei ihrem Mann ein, warf ihm einen sanften Blick zu. "Schau sie dir an."
"Du b-" Rebb brach ab und schien kurz zu überlegen. "Ihr seid die Verlobte unseres Königs?"
Ich neigte zustimmend den Kopf und strich wie zufällig einmal mehr über das gestickte Wappen. "Die bin ich. Und bitte, bleiben wir doch beim Du."
"Was machst du hier?", fragte die Frau, Anni, neugierig.
Zögernd verschaffte ich mir kurz Zeit, indem ich meine Schwingen wieder verbarg. Die drei Frauen, die zuerst hier gewesen waren, beobachteten jede meine Bewegungen und ich wusste, dass hier nichts unter vier ... zwölf Augen bleiben würde. Offiziell lag ich gerade krank im Bett. "Verzeiht, aber das ist eine Angelegenheit zwischen mir und Azvar. Ich sollte nicht darüber sprechen. Lasst euch von mir nicht vom Feiern abhalten, mir reicht eine trockene Scheune und vielleicht eine alte Wolldecke."
"Na, das geht aber auch nicht", meinte Anni und schüttelte den Kopf. Ihr dunkelbrauner Blick bohrte sich in meinen und ich hatte Schwierigkeiten, ihrem standzuhalten. "Wir können doch unsere zukünftige Königin nicht auf einem Heuboden schlafen lassen. Komm rein und bedien dich am Buffet."
Ich sah ihr an, dass sie einerseits nicht mehr ganz nüchtern und ihr benebelter Verstand überfordert mit der Situation war und dass sie andererseits nur höchst widerwillig ihre Tür für mich öffnete. Trotzdem. Trocken war trocken und Essen war Essen. Auch, wenn ich es nur bekam, weil mein Verlobter ihr Herrscher war.
"Ich danke euch", sagte ich und knickste einmal vor Anni, was sie zum Lächeln brachte. "Seid versichert, dass mein Verlobter von eurer Gastfreundschaft erfahren wird."
"Ja ja", sagte die Braut und winkte ab, lächelte ihren Ehemann aber mit einem Siehst-du-ich-habs-dir-doch-gesagt-Blick an und ging gemeinsam mit mir wieder ins Zelt.
Zu behaupten, die Nachricht von meiner Ankunft verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Zelt, wäre maßlos untertrieben. Die Geschwindigkeit glich eher einem Inferno.
Getuschel folgte mir, misstrauische und neugierige Blicke gleichermaßen. Die Hochzeitsgesellschaft war gut drauf, angetrunken und höchst erfreut über den neuen Stoff für Tratsch und Gerüchte. Als Anni um Ruhe bat und mich kurz vorstellte, wusste ohnehin schon jeder, dass ich hier war.
Zögerlich nahm ich mir etwas vom großen Buffettisch, der an einer Seite des Zelts aufgebaut war. Hier im Inneren war es angenehm warm, der Sturm ließ zwar die Unterkante der Zeltwände flattern, doch kein Wasser gelangte durch den mit Wachs überzogenen Stoff.
Mit einer überschaubaren Portion zog ich mich in eine ruhige Ecke zurück und beobachtete die Caraliv auf der Tanzfläche. Anni und Rebb waren mit Abstand das schönste Paar darauf. Sie tanzten schnell, elegant und in vollkommener Einigkeit, waren beide attraktiv und ließen sich mit ihren verliebten Blicken keine Sekunde aus den Augen. Ihre Freunde machten ihnen anstandslos Platz für ihre ausgelassenen Bewegungen und jeder lachte, als sie mit einem anderen Paar zusammenstießen und für kurze Zeit Partner tauschten.
Lächelnd beobachtete ich die Gemeinschaft und wünschte mir unwillkürlich, meine eigene Hochzeit wäre ein so ausgelassenes Ereignis. Ohne politische Schwierigkeiten, ohne gestelzte Anreden und ohne Krone. Sondern eine Zusammenkunft von Freunden, die mitten im Sommersturm in einem Zelt tanzten und das Leben genossen.
Ein Zupfen an meinem Kleid ließ mich von meinem halbleeren Teller aufsehen. Ein kleiner, caralischer Junge stand vor mir und grinste mich mit großen Augen an. Seine geröteten Pausbacken zeigten eine Ansammlung von Sommersprossen, die teilweise von einem wilden Lockenkopf verdeckt wurden. Er war vier, vielleicht fünf Jahre alt, doch beim Schätzen des Alters von Caraliv tat ich mir immer schwer. "Bist du wirklich Königin?", hauchte er ehrfürchtig.
Unwillkürlich musste ich lächeln. "Nein, noch nicht. Aber ich werde den König heiraten. Dann bin ich Königin."
"Woah", entfuhr es dem Jungen und er starrte mich aus aufgerissenen, hellblauen Augen an, die mich an die des Bräutigams erinnerte. Der Sohn vielleicht?
"Wie heißt du?", fragte ich freundlich nach.
"Nordon", antwortete er und überraschte mich mit seinen nächsten Worten. "Tanzt du mit mir? Ich wollte schon immer mal mit einer Königin tanzen."
Lächelnd wollte ich ablehnen, doch Nordon sah mich mit seinen kindlichen Gesichtszügen so bittend an, dass mir das Nein in der Kehle stecken blieb. Das Schlimmste, das passieren konnte, waren die Eltern, die mich von ihm fernhielten. Wieso also nicht?
Gemeinsam gingen wir auf die Tanzfläche und Nordon stellte seine kleinen, in Lederschuhen steckenden Füße auf meine, sodass ich noch laufen konnte und wir uns im Takt der Musik bewegten. Die Blicke, die uns zugeworfen wurden, waren hauptsächlich überrascht, doch niemand versuchte den Jungen von der bösen Lazaliv fernzuhalten.
Die Musiker stimmten nach einigen Minuten ein anderes Lied an und sofort fassten sich alle Tanzenden an den Händen, um einen großen Kreis zu bilden. Ohne meinen Zutun landete ich zwischen einem der Gäste und einer der Frauen, die mich im Eingangsbereich empfangen hatten. Es war nicht schwer, die wenigen Schritte des Tanzes zu verstehen und nach den ersten Takten konnte ich genauso mitmachen wie alle anderen.
Es war ein schönes Gefühl. Dazuzugehören. Mitzumachen. Für einige Minuten konnte ich tatsächlich vergessen, dass ich hier die Außenseiterin, die Fremde war, denn in diesen Minuten war ich das nicht.
Nach dem Stück kündigten die Musiker eine kurze Pause an und die meisten Tänzer verzogen sich in Richtung Bar. Weil ich keinen besseren Plan hatte, ließ ich mich mittreiben und bestellte etwas mit wenig Alkohol, das mir tatsächlich einigermaßen schmeckte.
Wider Erwarten verbrachte ich einen schönen Abend auf der fremden Hochzeit. Natürlich waren nicht alle so nett und freundlich zu mir, wie sie es vielleicht zu einer Caraliv gewesen wären, doch einige waren wirklich sympathisch und gastfreundlich und mit der ein oder anderen Geschichte aus dem Palast konnte ich die ganze Gesellschaft zum Lachen bringen.
Einige Mischgetränke später hatte ich mich in eine Freundesgruppe von fünf Caraliv integriert, die ungefähr so alt sein müssten wie ich, und verbrachte meine Zeit mit ihnen. Erst, als einige Sonnenstrahlen ins Zelt fielen, wurde mir bewusst, dass Athkazr gerade aufging, dass der Sturm vorbei war und dass ich schon längst in Samalfar sein sollte.
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