18 • 1 | Azvar
Ich hatte keine Ahnung, ob Kaira es wirklich wagen würde, ihren Bruder zu befreien. Schon lange wusste ich, dass sie nicht ganz so wehrlos und unscheinbar war, wie ihr zierlicher Körper vermuten ließ, aber könnte sie wirklich so dreist sein? Mich so sehr verraten? Ich wusste es nicht. Doch ich ließ das Thema in den nächsten Tagen fallen und sprach sie kein weiteres Mal darauf an.
Die Wachen im Korridor waren scheinbar kurz nach ihrem Wachwechsel ermordet worden. Vermutlich von zwei Leuten, ansonsten wären sie nicht an so gegenüberliegenden Enden des Gangs verblieben. Die Kehlen waren ihnen allen mit einem Messer oder Dolch durchschnitten worden. Klarere Anzeichen für kaltblütigen Mord konnte es nicht geben. Die Tür zu Najiks Zelle war mit dem Schlüssel geöffnet worden, dieser steckte noch im Schloss. Direkt neben der Tür lag die Eisenmanschette, die ihn vom Fliegen abhalten sollte, und die Kette, die seine Handgelenke zusammengebunden hatte. Das Fenster war eingeschlagen worden, vielleicht mit einem Ellbogen. Winzige Spuren von silbernem Blut klebten vereinzelt an den Scherben, die noch im Fensterrahmen hingen, und ließen darauf schließen, dass er nicht ganz unverletzt geflohen war. Doch er war geflohen, daran änderte auch dieses ganze investigative Wissen nichts.
Wie ein Lauffeuer breitete sich diese Nachricht im ganzen Reich aus. Eigentlich hatten wir die Gefangenschaft Najiks vorerst vor dem Volk verborgen, um möglichen Spitzeln ihre Arbeit nicht ganz so einfach zu machen. Doch irgendwer musste geplaudert haben, denn nun bekam ich einige Briefe von Fürsten und reichen Landsleuten, die mir mein Versagen vorwarfen. Irgendwie schien sich auch herumgesprochen zu haben, dass ich ausgerastet war, und wenige Tage später hatten sich die Geschichten so hochgeschaukelt, dass jeder sich erzählte, ich hätte in meiner Wut eine Soldatin umgebracht. Von diesen Gerüchten erfuhr ich von Kaira, die noch immer mit zwei der Angestellten befreundet war und so eine Verbindung in die untergestellte Gesellschaftsschicht des Palastes hatte. Scheinbar kam diese Lüge auch bis in die anderen Winkel Arnariths, denn noch mehr Fürsten sprachen mir per Brief ihren Unmut aus.
Meine Unterstützung im Volk wankte. Sie hatte bereits einen Riss bekommen, als ich meine Verlobung öffentlich gemacht hatte. Niemand wollte einen König, der sich mit dem Feind vermählte. Dass ich mehrere Tage mit besagtem Feind in den Bergen war und nichts mitbekommen hatte, war erst nach außen gedrungen, als ich schon wieder da war. Diese Aktion wurde zum Glück größtenteils positiv aufgefasst, als Bemühung um die alten Traditionen und Wahrung unserer Kultur. Doch nun gab es diese Gerüchte und ich merkte, wie das Volk sich uneinig wurde.
Es war mir herzlich egal, was die Fürsten von mir hielten. Nicht einmal die Hälfte von ihnen mochte ich selbst. Doch die meisten wurden von ihren direkten Untergebenen regelrecht vergöttert, und wenn sie mich nicht mehr befürworteten, unterstützte mich auch das Volk nicht mehr. Der Krieg erforderte aber nunmal leider ein vereintes Land und treue Dienste meiner Untertanen. Ich konnte mir keine Aufstände leisten.
Zudem kam noch die allgemeine Unzufriedenheit, weil das Wetter kühl blieb und die Sonnen selten zu sehen waren. Die Vorräte neigten sich dem Ende zu und wie jeden Sonnenwechsel suchten die Bürger einen Sündenbock. Wer bot sich da besser an als ich?
Während ich also damit beschäftigt war, Antwortbriefe an Fürsten und Kondolenzbriefe an die Angehörigen der Ermordeten zu schreiben und mir mit dem Rat Maßnahmen auszudenken, um wieder in der Gunst der Leute zu steigen, plante Kaira unsere Hochzeit. Ich ließ ihr zum großen Teil freie Hand und sie stürzte sich mit einer solchen Begeisterung auf diese Aufgabe, dass ich sie mir beim besten Willen nicht als kaltblütige Mörderin vorstellen konnte.
Gleichzeitig sah ich ihr an, dass ihr die Abneigung und Feindseligkeit ihrer künftigen Untergebenen nicht ganz so egal war, wie sie es übermitteln wollte und wie sie es vermutlich gerne hätte. Sie las die hasserfüllten Briefe, die man ihr schickte, und nahm sie sich auch noch zu Herzen. Natürlich versuchte ich sie davon abzulenken, doch ich war so beschäftigt mit den Regierungsgeschäften, dass ich kaum Zeit mit ihr verbrachte. Wenigstens gelang es mir, sie irgendwann dazu zu überreden, die Pergamentbögen einfach ins Feuer zu werfen, ohne sich mit dem Inhalt vorher zu behelligen.
Mit einem letzten Sturm verabschiedeten sich die Kalten Tage und würden nun hoffentlich allmählich wärmerem Wetter Patz machen. Lasyenin, der Tag, an dem die Sonnen direkt übereinander standen, lag keine zwei Dutzend Tage mehr entfernt und ich würde mich deutlich entspannen können, wenn wie jedes Jahr die Bürger durch ihr Unterstützungspaket besser gestimmt werden würden. Für jeden Caraliv gab es zu Lasyenin einen kleinen Korb mit den übrigen Vorräten, um jedem, egal welchen Standes, ein besseres Essen zu ermöglichen. Diese Maßnahme, die mein Großvater irgendwann eingeführt hatte, war jedes Jahr ein Grund, den König wieder mehr zu unterstützen.
Irgendwann erwachte ich in der Nacht des Sturms vom heulenden Wind und prasselnden Regen. Mit geschlossenen Augen tastete ich neben mir nach Kaira, falls sie so lag, dass ich sie aufwecken würde, wenn ich mich umdrehte.
Das Bett neben mir war kalt.
Verschlafen drehte ich mich um und ließ meine Hand weiter wandern, doch sie fand nur Stoff. Gerade, als ich mich zu wundern begann, wieso Kaira so lange das Bett verließ, dass ihre Seite erkaltete, spürte ich, wie sie wiederkam und sich unter die Decke legte. "Frische Luft", nuschelte sie und mein noch halb schlafendes Gehirn vermutete einen Alptraum. Schon wieder mit geschlossenen Augen zog ich sie an mich, spürte ihre nassen Haare an meinem Arm und ihre ausgekühlte Haut. Wenige Sekunden später schlief ich wieder tiefer als zuvor.
Am Morgen erinnerte ich mich nur noch vage daran, dass ich kurz aufgewacht war. Vielleicht hätte ich mich sonst gefragt, wieso Kairas Haare vollkommen durchnässt gewesen waren, wenn sie nur kurz an der frischen Luft gewesen war. Oder wieso ihr Bettzeug kalt gewesen war. Doch ich verschwendete keinen Gedanken daran, als ich mich ankleidete und mit Kaira gemeinsam zum Frühstück ging.
"Hast du nachher kurz Zeit?", fragte sie, während sie sich ein Gebäckstück nahm und Honig darauf verteilte.
"Was heißt nachher und was heißt kurz? Eljina wollte noch etwas mit mir besprechen." Inzwischen erwähnte ich Letztere nur äußerst ungern Kaira gegenüber, obwohl die Generalin auch jetzt in einiger Entfernung am Tisch saß. Die eine konnte die andere nicht ausstehen und gemeinsam in einem Raum ging eine Begegnung selten ohne Streit aus.
"Nach dem Frühstück. Wie lange hängt davon ab, wie schnell du meiner Bitte zustimmst." Kaira zeigte keine Reaktion bei der Erwähnung von Eljina und ich war froh darüber.
"Deiner Bitte?"
Sie sah sich um und schüttelte den Kopf. "Nicht hier. Du weißt doch, wie schnell hier jemand mithört."
Allerdings, das wusste ich nur zu gut. Die letzten privaten Themen, die ich hier besprochen hatte, hatten in einer tagelang verschwundenen Kaira geendet. Beziehungsweise nach der Verkettung gewisser Ereignisse zu meiner Verlobung, aber das lag wohl kaum an der Hellhörigkeit der Diener.
"Ich sollte Zeit haben, ja. Geht es um die Hochzeit?"
Kaira neigte den Kopf. "Um die Gäste."
Wir schwiegen zum Großteil, bis wir uns wieder in unsere Gemächer zurückzogen und Kaira mich dort in den Raum führte, der eigentlich für die Königin bestimmt war. Auf dem Schreibtisch dort stapelten sich jegliche Unterlagen, die es zur Hochzeit gab.
"Wir hatten ja gesagt, wir wollen zwar die Öffentlichkeit zumindest aus der Zeremonie raushalten, aber doch groß einladen", begann Kaira. "Ich fürchte, da musst viel du organisieren. Ich kenne in diesem Land nicht die Hälfte der Leute, die du kennst, und noch viel weniger weiß ich, ob wir sie auf unserer Hochzeit haben wollen. Außerdem komme ich nicht mit, mit wem du verwandt bist und mit wem nicht."
"Verständlich", sagte ich und überflog die Entwurfliste an Gästen, die sie zusammengestellt hatte. Einige der Namen würde ich sofort rausstreichen, dafür hatte sie einige meiner Cousinen und Cousins vergessen. Aber bei denen hatte selbst ich manchmal Schwierigkeiten, sie einer Tante oder Onkel zuzuordnen und alle aufzählen könnte ich aus dem Stegreif auch nicht. Seufzend griff ich nach einem Glas Wasser, das auf dem Schreibtisch stand, und nippte daran. Wie anstrengend es sein würde, auf der Hochzeit zu jeglicher Verwandschaft nett und höflich zu sein, wenn die nichts anderes zu tun hatten, als mich indirekt zu beleidigen. Und Kaira vermutlich auch. Fehlte noch, dass sie jetzt anfingen, mir die Krone streitig machen zu wollen. Es wäre die erste große Familienzusammenkunft seit ... seit wann? Seit Enlayas Geburt? Dem Tod meiner Mutter? Auch zu meiner Krönung waren nicht annähernd alle gekommen und zur Trauerfeier Amroths war meine Verwandtschaft mütterlicherseits kaum und auch väterlicherseits nur lückenhaft erschienen - es gab beliebtere Leute in der Familie als meinen Vater. Zu einer Hochzeit mit einer Lazaliv, über die man so gut herziehen konnte, würden aber wohl wieder die meisten kommen.
"Ich ... möchte dich um etwas bitten."
Kairas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang zögerlich, fast schon beunruhigt. Außerdem knetete sie ihre Hände und zupfte am Rock ihres Kleides herum. Ein deutliches Zeichen ihrer Nervosität. Um was konnte sie mich bitten, was sie so angespannt machte?
"Schau dir die Liste an. Ich kenne vielleicht drei von diesen Leuten bisher persönlich, fünf habe ich schonmal gesehen oder bedient", erklärte sie und sah auf die Liste. "Aber ... auch wenn ich Krijan und Ilira einladen kann ... dann bin ich auf meiner eigenen Hochzeit eigentlich die Unbekannte. Das möchte ich nicht." Sie biss sich auf die Lippe und blickte mich doch direkt an.
Ihr durchdringender Blick erweckte eine Vermutung in mir, die mir nicht gefiel. Wäre sie so dreist, darum zu beten? Um mein Unbehagen zu überspielen, nahm ich einen Schluck Wasser aus dem Glas. Ich bereute es sofort.
"Ich würde gerne Najik einladen."
Hustend stellte ich das Glas auf dem Tisch ab, so fest, dass es ein wenig überschwappte, dann versuchte ich den Schluck Wasser aus meiner Luftröhre zu bekommen. Schweigend sah Kaira mir dabei zu und wartete, bis ich wieder sprechen konnte. Ich hatte es befürchtet. Najik. Hier. Im Palast. Für eine Hochzeit. Die Vorstellung war so absurd, dass ich anfing zu grinsen.
Kaira erwiderte meinen Blick ruhig und ernst. "Es würde mir viel bedeuten. Er kann ohne Waffen kommen und jemand kann ihn unauffällig beobachten, damit er nichts anstellt. Aber ich hätte ihn so gerne dabei."
"Du willst deinen Bruder, den lazalischen Kronprinzen, zusammen mit zweihundert Caraliv, hier in den Palast einladen?"
Sie seufzte, als hätte sie genau diese Frage erwartet. "Ja. Was sagst du?"
"Lass mich darüber nachdenken", sagte ich vage und wiegte den Kopf langsam hin und her. "Bis morgen, ja? Das ist ... eine große Entscheidung."
Ein dankbares Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie schloss mich in eine feste Umarmung. "Danke, dass du es nicht sofort ausschließt."
Seufzend legte ich das Kinn auf ihrem Kopf ab und fragte mich, ob sie wusste, welcher Gedanke mein Bewusstsein gerade streifte. Ob sie wusste, oder ahnte, dass ich überlegte, ob man eine solche Gelegenheit nutzen könnte. Um etwas zu erledigen, wovon ich seit einem gewissen Vorfall nur noch träumen konnte.
Vielleicht war das hier eine zweite Chance, meine Rache zu bekommen.
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