17 • 5 | Kaira
Sobald Azvar den Raum betrat, merkte ich, wie aufgewühlt er war. Ausnahmsweise erhob ich mich gemeinsam mit Krijan, mit dem ich mich bis eben unterhalten und über die vergangenen Tage ausgetauscht hatte. Er warf einen kurzen Blick zum König, dann zu mir, und zog sich wortlos zurück.
Langsam trat ich auf meinen Verlobten zu. Mein mitternachtsblaues Kleid raschelte bei jedem Schritt und die silbernen Diamanten darin reflektierten in den letzten Sonnenstrahlen des Tages das Licht Athkazrs. Ich hatte mir die Haare waschen und hochstecken lassen und eigentlich war es mir gerade gelungen, mich ein wenig abzulenken und zu entspannen.
Nun war die ganze Sorge um Najik wieder da, als ich auf Azvar zukam und seinem Blick begegnete. Ich spürte die Wut, die bei ihm gerade wieder abklang, und sah seinen verkrampften Kiefer und seine zu Fäusten geballten Hände. Irgendetwas war also passiert.
Sanft griff ich nach seiner rechten Hand, wollte sie in meine nehmen und lockern, die Faust lösen und Azvar so Ruhe übermitteln. Doch meine Finger zuckten davor zurück, sobald mein Blick darauf fiel. Er sah ebenfalls nach unten und machte eine Bewegung, als wolle er die Hand hinter seinem Rücken verbergen, doch überlegte es sich dann wieder anders.
Es war ohnehin zu spät - die silbernen Blutspuren auf seinen Fingerknöcheln musste ich nicht längere Zeit sehen, um zu wissen, was geschehen sein musste.
Nun war er es, der nach meiner Hand griff und mich bei ihm hielt. Unweigerlich trafen sich unsere Blicke und der Sturm an Gefühlen in seinen Augen ließ mich innehalten. Bei weitem nicht alle konnte ich zuordnen, doch sah ich ihm deutliche Verunsicherung und vielleicht sogar Reue an.
"Hör mir zuerst zu, bevor du mir etwas vorwirfst", verlangte Azvar leise und nach kurzem Zögern nickte ich. Er setzte sich auf den Diwan, der die zwei Sessel vor dem Kamin inzwischen ersetzt hatte, und ich legte mich automatisch so, dass mein Kopf in seinem Schoß lag. In dieser Stellung verbrachten wir nicht selten unsere gemeinsame Zeit, wenn sie untertags begrenzt war.
"Hast du ihn getötet?" Ich war selbst überrascht, wie ruhig meine Stimme klang. Erwartete ich ein Ja oder ein Nein? Ich wusste es nicht. Nur zu gut konnte ich Azvars Hass auf Najik verstehen und nachvollziehen, ich vergönnte ihm ja sogar die Rache für den Tod Enlayas ... doch war der Tod meines Bruders ein angemessener Preis? Ich wollte ihn nicht verlieren. Seit weit über einem halben Sonnenwechsel hatte ich ihn nicht mehr gesehen und doch vermisste ich ihn und wollte nicht, dass er starb.
"Nein."
Erleichtert stieß ich die angehaltene Luft aus und schloss für einen Moment die Augen, während Azvar begann mir über den Kopf zu kraulen. "Danke", murmelte ich leise und hoffte, dass jetzt nicht die Ankündigung kam, er würde ihn demnächst aber noch umbringen.
"Er hat mich provoziert", erklärte Azvar und begutachtete seine Fingerknöchel, die selbst an einer Stelle leicht gerötet waren.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich mir Najik in Gefangenschaft vorzustellen. Mal abgesehen davon, dass ich ihn mir nicht in anderer Kleidung als Waffenrock und mit stolzem, starkem Blick vorstellen konnte, würde ich ihn nicht als so dumm einschätzen, Azvar in seiner jetzigen Situation zu provozieren. "Das passt nicht zu ihm." Najik war jemand, der bedacht und überlegt handelte. Er würde nicht aus Frustration über die Gefangenschaft anfangen, einfach drauflos zu sprechen. War er körperlich so benachteiligt wie jetzt, würde er zuerst auf das Gewissen abzielen, dann versuchen zu verhandeln, sich einen Vorteil zu beschaffen, irgendwie die Oberhand zu erlangen. Provokation war nicht seine Art- "Außer er wollte damit etwas erreichen", beendete ich den Gedankengang laut. "Vielleicht wollte er, dass du zu Kurzschlusshandlungen bewegt wirst und unüberlegt handelst. Unvorsichtig."
"Ich hatte die Überlegung, ob er mich nicht dazu bringen wollte, ihn einfach schnell zu töten. Ohne ..." Azvar zögerte kurz und sprach es dann doch aus. "Ohne vorhergehende Folter. Ohne Verhör. Auch wenn ich nicht verstehe, wieso er nicht darauf vertraut, dass sein Vater ihn hier rausholt."
Ich schwieg einige Sekunden und ließ mir den Gedanken durch den Kopf gehen. "Weil er davon ausgeht", sagte ich schließlich und diesmal war meine Stimme leise und fast schon brüchig, "dass du ihn ohnehin töten wirst."
Das passte schon eher zu Najik. Er ging davon aus, diesen Palast nicht mehr lebend zu verlassen. Und wenn sein Vater ihn befreien würde, würden die Caraliv ihm die Kehle durchschneiden, bevor die Rettermannschaft ihn erreichte. Da starb er lieber sofort und ersparte sich das Leid. So dachte er eher, als sinnlose Provokation seines Foltermeisters.
Azvar schien nachzudenken, denn er schwieg und seine Finger hielten in ihren Bewegungen in meinem Haar inne. Beides gleichzeitig hatte er noch nie gekonnt. Das Feuer vor uns im Kamin knackte laut, gleich darauf noch einmal. Wenige Sekunden ein drittes Mal und automatisch zählte ich weiter mit, während niemand etwas sagte.
"Das ist nicht gut", stellte Azvar nach vierzehn Mal Holzknacken fest. "Wenn er denkt, er stirbt sowieso, wird er nicht reden. Egal was passiert."
Vorsichtig nickte ich, hatte gleichzeitig Angst, auf was für Schlüsse ihn das nun bringen würde. "Eher nicht", gab ich seufzend zu.
Wieder schwieg er, doch diesmal dachten wir beide dasselbe. Wenn Najik nicht sprechen würde und es nur eine Frage der Zeit war, bis hier ein Bataillon an lazalischen Befreiern auftauchte, und man sonst nichts mit ihm anfangen konnte ... Dann gab es eigentlich nur eine Lösung.
Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust stand ich auf und nuschelte etwas von frischer Luft. Azvars Blick bohrte sich spürbar in meinen Rücken, als ich auf den Balkon trat, meine Flügel entfaltete und mich in den Himmel über dem Palast erhob.
Eine Weile lang glitt ich auf dem Rücken in weiten Kreisen durch die Luft, fröstelnd in der kühlen Abendluft. Meine Gedanken konnten sich nicht von Najik lösen, von der Angst ihn zu verlieren. Gleichzeitig kristallisierte sich der Wunsch mit ihm zu sprechen immer stärker heraus. Wenn er schon sterben würde, wollte ich wenigstens vorher nochmal zu ihm.
Also landete ich wieder und machte mich auf den Weg zu meinem Bruder. Wo er untergebracht war, wusste ich zwar nicht genau, doch hatte Ilira mir sofort bei meiner Rückkehr aus den Bergen alles erzählt, was sie wusste, unter anderem in welchem Flügel des Palastes man ihn gefangen hielt. Der Korridor mit den meisten Wachen im ganzen Gebäude sah vielversprechend aus, doch leider machten die auch ihren Job und stellten sich mir in den Weg.
"Wir haben Anweisung, niemanden durchzulassen", erklärte ein Soldat überflüssigerweise und musterte mich kühl.
Damit hätte ich rechnen können. Hatte ich aber nicht. Also musste ich improvisieren, zu verlieren hatte ich ja nichts. Mit einem Räuspern richtete ich mich zu meiner vollen Größe auf - was um einiges kleiner war als der Soldat vor mir - und setzte den gebieterischen Blick auf, den ich früher als Prinzessin praktisch durchgehend getragen hatte. "Sicher ist Euch doch bewusst, mit wem Ihr sprecht?" Meine Stimme hatte genau den Klang von Überheblichkeit und Ungeduld, den ich treffen wollte. Innerlich klopfte ich mir auf die Schultern.
"Sicher. Trotzdem, Befehle sind Befehle."
"Und Befehle werden von meinem Verlobten", ich betonte das Wort auffällig, "gegeben. Meint Ihr nicht, er hat mir die Erlaubnis gegeben, hier zu passieren?"
Der Soldat schwieg und tauschte einen Blick mit seinem Kollegen. Hatte ich die Erlaubnis nicht, verstießen sie gegen den Befehl des Königs, wenn sie mich durchließen. Hatte ich sie doch, könnte eben dieser ihnen den unhöflichen Umgang mit seiner Verlobten vorwerfen.
"Soll ich ihn holen?", fragte ich nun mit deutlicher Genervtheit in der Stimme und schließlich traten die beiden Soldaten beiseite und ich konnte passieren. Zufrieden ließ ich mir die Tür aufschließen und spürte, während der Schlüssel sich im Schloss drehte, wie er meinen Magen gleich mitnahm.
Ich würde gleich mit Najik sprechen. Mit meinem Bruder. So viel war geschehen, seit wir uns das letzte Mal unterhalten haben. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als würde diese Tür sich gleich in meinen Tod öffnen, nicht in eine Zelle.
Eine Zelle, die ziemlich luxuriös sein könnte, wäre sie nicht darauf ausgelegt, nur diesen Anschein zu wahren, wie ich feststellte, als die Tür sich öffnete. Mit einem Blick nahm ich alles auf, was in diesem Raum nicht wie eine Zelle für einen Hochsicherheitsgefangenen aussah, dann bemerkte ich die Gestalt, die am Boden an die Wand gelehnt saß.
"Najik", flüsterte ich leise, als die Tür hinter mir wieder geschlossen war, und langsam blickte mein Bruder auf.
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