17 • 4 | Azvar
Meine Gedanken wurden klarer, je näher ich dem Gespräch mit Najik kam. Ich machte mir erneut bewusst, was er in der Vergangenheit getan hatte, was ich vielleicht getan hatte, was ich über ihn wusste und vor allem, was er über mich wusste. Noch immer bestand die Möglichkeit, dass er wieder zurückkehrte nach Thazanur und zu seinem Vater, sodass ich ihm nicht mehr preisgeben durfte, als er ohnehin schon erfahren hatte. Unweigerlich drängte sich mir die Frage auf, ob er schon wusste, dass ich mit Kaira verlobt war.
Rund um die Uhr hielten zwei Soldaten vor der Tür Wache und auch der Korridor wurde auf beiden Seiten flankiert von Uniformierten. Sie alle verneigten sich vor mir, als ich mich näherte, und ich musste nichts sagen, ehe die beiden vor der Tür mit jeweils einem separaten Schlüssel aufsperrten und mir Zugang gewährten.
Es war dunkel im fensterlosen Raum, beleuchtet nur durch einen inzwischen grünlich angelaufenen Kronleuchter, dessen Kerzen zur Hälfte abgebrannt waren. Durch den von Abendlicht gefluteten Korridor drang Licht ein und erhellte die Szene vor mir. Der Prinz blinzelte mit zusammengekniffenen Augen, geblendet von der plötzlichen Helligkeit, und ich wusste, dass ich kaum mehr als eine Silhouette im Lichtrahmen der Tür sein konnte. Ein Vorteil, der mir nicht schlecht gefiel. Najik hatte bisher scheinbar auf dem Bett gelegen, erhob sich nun aber und hielt sich eine Hand vor Augen. Er war umgeben von dunklen Wänden, die dem Raum ein düsteres Aussehen verliehen.
Das Bett wirkte wie ein bequemes Schlafgemach, doch soweit ich wusste, war es kaum mehr als ein Brett mit einer Stoffschicht darüber. Ein Kamin befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, gefüllt mit einigen kläglichen Reisigresten, die nie angezündet werden würden. Es war kühl hier, die Kälte hatte sich tief in jeder Ecke festgesetzt. Ein offener Durchgang führte in einen weiteren Raum, von dem ich wusste, dass er eine noch nie befüllte Wanne enthielt. Alles in allem ähnelte diese Zelle den Gemächern eines Wohlhabenden, der vor etwa zwanzig Sommern ausgezogen war. Ein modriger Geruch nach feuchtem Staub und altem Schimmel stieg mir in die Nase. Es fehlten die Löcher in der Decke und die wilden Kletterpflanzen an den Wänden, um den Eindruck einer Ruine zu komplettieren.
Mit einer kurzen Handbewegung ließ ich die Tür hinter mir wieder schließen und wir fanden uns im düsteren Dämmerlicht wieder. Diesmal brauchten meine Augen einen Moment, ehe sie sich daran gewöhnt hatten, und in dieser Sekunde würde er im Vorteil sein - doch der geflügelte Schemen blieb reglos stehen und blickte mir entgegen. Sobald meine Augen sich auf die dunklere Umgebung eingestellt hatten, wusste ich, dass meine Sicht um einiges besser war als die Najiks. Als Caraliv waren meine Augen sehr viel fähiger als die seinen im Dunkeln zu sehen.
Die Frage, ob Najik von meiner zukünftigen Frau wusste, erübrigte sich schon in den ersten drei Sekunden unseres Treffens.
"Hatte mich schon gefragt, wann du hier auftauchst, Schwager."
"Du hattest also Neuigkeiten von deiner Schwester", stellte ich fest und musterte ihn. Zwar war sein Gesichtsausdruck fest und beherrscht, doch sah man ihm deutlich an, wie sehr ihn diese Gefangenschaft mitnahm. Seine schneeweißen Flügel sahen an einigen Stellen aus wie die eines gerupften Hühnchens, außerdem hatte man ihm die Eisenmanschette angelegt, die ihn vom Fliegen abhalten würde. Besonders von Kaira wusste ich, wie groß die Demütigung für einen Lazaliv war, dessen Schwingen so stark beschädigt waren und es erfüllte mich mit Genugtuung, Najik so zu sehen. Blut klebte ihm im Gesicht und seine einfache Reisekleidung war teilweise zerrissen, den Umhang hatte man ihm abgenommen und der leere Waffengürtel hing ihm um die Hüfte. Handschellen hielten seine Arme vor dem Körper. "Was hattest du in einfacher Kleidung mit geringer Leibgarde nahe der Grenze zu suchen?" Besser, ich kam gleich zur Sache.
Ein kleines Grinsen war bei meinen ersten Worten auf seinem Gesicht erschienen, das nicht zu seinen müden, erschöpften, doch gleichzeitig hasserfüllten Augen passen wollte. Die zweite Frage ignorierte er, auf die erste fand er eine Antwort. "Durchaus, ich bleibe gerne auf dem Laufenden, was sie angeht. Was hörst du so von deiner?"
Das stach. Tief im Herzen. Dort, wo Najik zum Glück nicht hinsehen konnte. Alles, was er vielleicht bemerkte, waren meine geballten Fäuste.
"Oder von deinem Vater?" Nicht ansatzweise so tief wie die erste bohrte sich eine zweite Nadel in meine Brust. "Wäre schön, eigentlich. Dann wäre die ganze Familie wieder vereint. Hoffentlich an einem möglichst hässlichen Ort nach einem möglichst qualvollen Tod."
Das gehässige Grinsen in seinem Gesicht wurde noch ein wenig breiter, als ich Mühe hatte, mich zu beherrschen. Wie konnte er es wagen?
"Vielleicht kannst du meinen Vater ja auch gleich mitnehmen, da hätte ich nichts dagegen. Wobei, vielleicht doch, bei dieser Gesellschaft würde sogar er mir leidtun. Wer weiß, vielleicht würden sich unsere Väter ja verstehen. Oder unsere Schwestern, wenn sie sich kennenlernen würden. Wenn deine nicht mit durchgeschnittener Kehle irgendwo verrotten würde."
Ich glaubte ein Knacken zu hören, als meine Faust mit voller Wucht auf seine Nase traf. Silbernes Blut schoss über sein Kinn und tropfte zu Boden, als er taumelte und kurz davor war, das Gleichgewicht zu verlieren. Mit einer Hand packte ich ihn an der Kehle und presste ihn an die Wand hinter ihm.
Zum ersten Mal seit Langem musste ich mich wieder darauf konzentrieren, meine Veränderungen beizubehalten und nicht mein ganzes Sein der Wut hinzugeben. Mühsam hielt ich das Bild meiner schwarzen Augen aufrecht.
Das Blut schoss durch meine Adern und versorgte mich mit Adrenalin, ließ meine Sinne sich verschärfen. Lazalisches Blut roch süßer, so süß, dass es leichte Übelkeit verursachte. Najik schnappte nach Luft, die Kette an seinen Handgelenken klirrte, als er meinen Arm umklammerte. In seinen Augen stand nichts als Hass und Verachtung und Mordlust.
Meine Hand lag auf seiner von kaltem Schweiß bedeckten Kehle. Er zappelte zwar ein wenig in meinem Griff, doch er war geschwächt und gefesselt, niemals würde er sich gegen mich zur Wehr setzen können. Ich könnte ihn töten. Jetzt. In den nächsten drei Minuten. Er war mir ausgeliefert und ich hätte danach ein Problem weniger.
"Sie kannten sich", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Kaira und Enlaya kannten sich und mochten sich und Kaira war am Boden zerstört, als du die getötet hast, die als Einzige in diesem Land nett zu ihr war."
Erkenntnis flackerte in Najiks Augen auf, gleichzeitig ein anderes Gefühl. Angst. Und Akzeptanz. Mir wurde bewusst, dass seine Atemzüge verstummt waren. Dass meine Hand sich um seinen Hals geschlossen hatte und dass er sterben würde, wenn ich nun einfach so stehen blieb. Er hatte diese Tatsache akzeptiert und vermutlich war sie ihm schon vorher klar gewesen. Wieso sonst sollte er mich provozieren? Er wollte, dass es schnell ging.
Ich dachte an ihn, wie er Enlaya getötet hatte. Wie er ihr die Kehle aufgeschlitzt und dabei gelächelt hatte. Wie er die misshandelte Leiche meines Vaters zurückgelassen hatte. Ich wollte ihn tot sehen. Sofort.
Doch unweigerlich drängte sich ein weiteres Bild in meinen Kopf. Kaira, wie sie sich an mich lehnte und um Enlaya weinte, während ich selbst mich nur schwer beherrschen konnte. Kaira, wie sie mich um ein Friedensangebot zwischen unseren Völkern bat. Kaira, wie sie weinte, weil ich sie verletzt hatte, weil ich ihr Vertrauen missbraucht hatte.
Bitte töte ihn nicht.
Nach Atem ringend sackte Najik zu Boden und blieb dort zu meinen Füßen liegen, füllte seine Lungen mit Luft und sah gleich darauf wieder zu mir auf. Noch immer tropfte das Blut aus seiner Nase und ich sah die Verunsicherung in seinem Blick. Lazaliv waren so einfach zu lesen. Er hatte damit gerechnet, einen schnellen Tod gewährt zu bekommen, wenn ich ausrastete. Ohne Verhör vorher und möglichst ohne Folter. Diese Gnadenfrist hatte er nicht erwartet und er wusste nicht, ob sie gut oder schlecht für ihn war.
"Kaira hat um Enlaya geweint und sie wird auch um dich weinen. Ich habe ihr versprochen, dich nicht so zu töten, wie du meinen Vater getötet hast." Ich wusste nicht, wieso ich ihm das erzählte. Vielleicht, damit er nicht den Verdacht hatte, ich sei zu schwach ihn zu töten. "Sie hat mich gebeten, dich am Leben zu lassen. Also werde ich dich am Leben lassen. Was davor mit dir geschieht, muss und wird sie nicht erfahren. Ich rate dir also zu reden, wenn du gefragt wirst. Wir versuchen das morgen nochmal."
Ich redete mir selbst ein, es war ein Versehen, als ich beim Verlassen der Zelle auf seine Hand trat und mit vollem Gewicht darüberstieg. Najik war noch immer damit beschäftigt, tief ein- und auszuatmen, doch als ich wieder hinaus in den hell beleuchteten Korridor trat und das muffige, dunkle Zimmer hinter mir ließ, hatte ich durchaus den Eindruck, Najik hätte meine Botschaft verstanden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro