15 • 5 | Azvar
Zwei Sekunden brauchte ich, bis ich mich aus meiner Schockstarre losreißen konnte, dann folgte ich ihr. Nicht noch einmal würde ich sie einfach so weglaufen lassen, ohne mit ihr zu sprechen.
Niemand stellte sich mir in den Weg, doch Kaira war flink und schlängelte sich zwischen den zahlreichen Tischen und Stühlen, Ablagen und Schränken hindurch, sodass ich nur schwer Schritt halten konnte. Durch eine der Türen platzte sie hindurch, schlug sie hinter sich zu und traf dabei beinahe meine Nase. Hastig stieß ich sie wieder auf und folgte ihr durch die kalten, dämmerigen Gänge.
Ich wusste nicht, ob sie versuchte mich abzuschütteln, doch auch wenn nicht nahm sie Dutzende Abzweigungen, bewies ihre Ortskenntnisse und hängte mich zweimal beinahe ab.
Auf gut Glück nahm ich die rechte Abzweigung. Mein Herz schlug in erhöhtem Tempo, Adrenalin schoss durch meine Adern und ich stürzte weiter.
Gerade noch so erkannte ich den grauen Stoffzipfel, der um eine Ecke flatterte.
"Kaira, warte! Bitte!", versuchte ich es ein weiteres Mal und hastete ebenfalls um die Ecke, ihr hinterher.
Der Gang, in den ich nun blickte, war eine Sackgasse und vollkommen verlassen. Doch sie musste hier sein. Ich hatte sie gesehen. Auch eine Lazaliv konnte sich nicht einfach pulverisieren und sich in den Spinnweben verbergen, die so zahlreich von der Decke hingen.
Erst dann bemerkte ich die zwei Türen, die hier abzweigten.
Mit klopfendem Herzen trat ich darauf zu und öffnete die erste. Dahinter befand sich eine kleine Abstellkammer, gefüllt mit jeglichem Putzzubehör, Besen und Eimern, Seifen und einer Wanne mit Wasser. Der Raum war so klein, dass es für sie unmöglich wäre, sich hier zu verstecken.
Ich schloss die Tür wieder und wandte mich der zweiten zu. Kaira musste hier sein. Wo sonst?
Als ich sie öffnete, fand ich mich in meinem ehemaligen Schlafzimmer wieder. Zuerst dachte ich, auch dieser Raum war verlassen, doch dann bemerkte ich eine Bewegung im Augenwinkel.
Der Vorhang wehte in den Raum und brachte einen eisigen Windstoß mit sich, der mir eine Gänsehaut auf den Armen bescherte. Die Balkontüren standen offen und auf dem weißen Marmor draußen stand Kaira.
Sie hatte mir den Rücken zugewandt und schien in den Himmel zu blicken, der bedeckt war von weißen, fedrigen Wolken. Ihre rotblonden Haare waren in einem Dutt hochgesteckt und das graue Kleid flatterte im Wind um ihre Beine. Ihre weißen Schwingen entfalteten sich auf ihrem Rücken und spannten sich zu beiden Seiten über beinahe zwei Meter.
Langsam trat ich weiter in den Raum und ging auf den Balkon zu. Mein ehemaliges Schlafzimmer war genauso kalt wie die Gänge, das Bett war unbezogen und es roch so unbewohnt, wie es war. Nichts davon schenkte ich auch nur die geringste Beachtung.
Bewusst mit einem Geräusch trat ich auf den Balkon in die Kälte. Ich war mir sicher, dass Kaira mich gehört hatte, doch sie drehte sich nicht zu mir um.
Mit einigen tiefen Atemzügen beruhigte ich allmählich wieder mein Herz, sodass ich einigermaßen ruhig sprechen konnte. Mir war klar, was in diesem Moment auf dem Spiel stand. Wie viel passieren konnte. Und wie sehr ich Kaira brauchte und sie nicht verlieren wollte.
Mein Verstand schien geschärft, aufmerksam, jeder Muskel meines Körpers war angespannt, als wäre ich bereit zum Kampf. Irgendwie war es ja auch einer, nur keiner mit Schild und Schwert. Der Kampf um die Liebe, sollte man das Bedürfnis haben etwas so kitschig auszudrücken.
"Kaira." Meine Stimme klang rau und mehr flehend, als ich es geplant hatte. "Sieh mich an. Bitte."
Zu meiner Überraschung drehte sie sich tatsächlich um. Ihre Brust hob und senkte sich in schnellen Atemzügen, Tränenspuren glitzerten auf ihren makellosen Wangen und zum ersten Mal seit Tagen begegneten sich unsere Blicke.
Ihre silbergrauen Augen trafen mich genau ins Herz. Ihr Schmerz, der darin lag, war mein Schmerz, ihre Hoffnung, die tief irgendwo vergraben war, war meine Hoffnung. Ich sah ihr die letzten Tage deutlich an, die Schwierigkeiten, die Verletzung, den Vetrauensbruch. All ihre Gefühle lagen in diesem Blick, der mein Inneres zu zerreißen schien.
"Es tut mir so unfassbar leid, Kaira", sagte ich leise. "Wenn du gehen willst, kann und werde ich dich nicht aufhalten. Aber bitte lass mich vorher alles erklären."
Sie schwieg, flog aber auch nicht los. Ihr durchdringender Blick hielt den meinen gefangen. Ich deutete ihre Stille als Erlaubnis weiterzusprechen. In den letzten Tagen hatte ich mir immer wieder Wörter und Sätze überlegt, die ausdrücken konnten, was ich ihr mitteilen wollte, doch nun war mein Kopf leergefegt von jeglichen vorbereiteten Phrasen. Bevor sie die Geduld verlor, fing ich an drauflos zu sprechen.
"Ich liebe dich. Nichts wünsche ich mir mehr, als mit dir zusammen zu sein und dich bei mir zu haben. Ich würde mir Flügel wachsen lassen, wenn das bedeuten würde, dass wir zusammen sein könnten. Aber ich bin der caralische König. Ich muss irgendwie an mein Land denken und dieses Land braucht eine sichere Regierung. Eine Königin und einen Thronfolger. Ich kann nicht alles alleine entscheiden. Ich dachte, Eljina könnte diese Rolle öffentlich einnehmen und mir vielleicht ein Kind gebären - und inoffiziell bist du noch immer meine Geliebte, die, mit der ich alt werden will. Ich weiß, wie sehr ich dich verletzt habe und ich verstehe dein Verhalten vollkommen. Aber bitte, Kaira, gib mir noch eine Chance. Ich werde die Verlobung mit Eljina nie bekanntgeben, wenn ich weiß, dass ich die Wahl zwischen ihr und dir habe. Niemals würde ich mich dann für sie entscheiden. Bitte."
Die Stille dehnte sich aus, so lange, dass ich halb erwartete, Kaira würde ihre Flügel spannen und verschwinden. Doch - "Sie weiß von mir. Von uns." Ihre Stimme zitterte leicht, doch ihr Ausdruck war verschlossen. Ich konnte nicht sagen, wie weit ich mit meinen Worten gekommen war.
"Ja. Sie hat es erfahren, als wir an meinem Geburtstag miteinander getanzt haben." Nur sehr ungern erinnerte ich sie jetzt an diese Situation. "Als wir während des Schneesturms in diesem kleinen Dorf untergekommen sind, wollte ich die Stimmung nicht ruinieren. Es war alles so entspannt. Und danach hatte ich anderes im Kopf und irgendwie habe ich dann vergessen, dass du davon erfahren wollen würdest. Es tut mir leid. Ich hätte es dir gleich erzählen müssen."
"Sie wollte dich trotzdem heiraten?"
Ich nahm es als gutes Zeichen, dass sie das Gespräch am Laufen hielt. Ein klein wenig erlaubte ich mir, die Bänder zu lockern, die mir die Brust zuschnürten und mir beinahe die Luft zum Atmen nahmen, so angespannt wie ich war.
"Sie wusste, dass ich eine Konkubine habe, und hat zugestimmt die Königin zu spielen, auch wenn ich gleichzeitig eine andere Frau liebe." Ich sah, wie Kaira bei dieser Bezeichnung für sie leicht die Augenbrauen zusammenkniff, und wusste, dass ich sie nicht so nennen sollte. "Natürlich war sie nicht begeistert davon, als sie erfahren hat, dass du es bist. Aber auch sie ist mir unterworfen und sie kann mir nicht vorschreiben, wen ich zu lieben habe. Selbst wenn, wäre es mir egal. Ich will dich. Und niemand wird mich davon abhalten, mit dir zusammen zu sein."
Wieder war es einige Zeit still, in der wir uns unverwandt in die Augen sahen. Zum ersten Mal in meinem Leben versuchte ich wohl, nicht alle Emotionen aus meinem Blick zu verbannen, sondern sie hineinzulegen und ihr zu übermitteln. Meine Liebe zu ihr, meine Reue, meine Hoffnung und meine Angst, sie würde mich doch noch abweisen.
"Du hast dich einfach so mit ihr verlobt."
Der Schmerz in ihrer Stimme holte mich wieder zurück. Kopfschüttelnd sah ich sie an. "Tagelang habe ich darüber gegrübelt, meinen Schlaf geopfert. Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen. Es war nichts fest, ich habe ihr nur gesagt, dass ich sie mit deiner Zustimmung zur Frau nehmen werde. Es sollte niemand hören, erst recht kein plaudernder Diener. Es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest. Ich wollte es dir erklären. Ich wollte dich fragen. Und wenn ich die Wahl habe zwischen einem Leben mit Eljina als Frau und Königin, aber ohne dich, und einem Leben mit dir, aber ohne Königin, dann ist das gar keine Überlegung wert, Kaira. Ich kann mein Land nicht ganz vergessen, aber ich kann auch einmal in meinem Leben an mich denken. An mich und an dich. Du musst mir noch eine Chance geben, bitte. Sag mir, wie ich dein Vertrauen wieder gewinnen kann. Dass du mir wieder so vertraust, wie ich dir vertraue."
Unwillkürlich war ich einen Schritt näher getreten und ein kleiner Funken der Erleichterung entzündete sich in meiner Brust, als sie nicht zurückwich. Doch als eine neue Härte in ihren Blick trat, drohte dieser Funken wieder zu ersticken.
"Du vertraust mir?"
Ich neigte den Kopf und legte die flache Hand auf Höhe des Herzens auf meine Brust. "Mit meinem Leben."
"Beweise es."
Zweifelnd sah ich sie an und schüttelte langsam den Kopf. "Sag mir, wie."
Kaira musterte mich mit unleserlichem Ausdruck. "Ich habe in den letzten Tagen viel mit Krijan gesprochen. Er hat versucht mich abzulenken. Er hat mir gezeigt, wie er ohne seine caralischen Veränderungen aussieht. Für ihn war es kein Problem. Ich glaube, es ist für nicht viele ein Problem, Azvar. Wie kannst du sagen, du vertraust mir mit deinem Leben, wenn du mir nicht einmal genug vertraust, um mir zu zeigen, wie du aussiehst?"
Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Überraschung traf auf ihren indifferenten Blick. "Du wirst mich verachten."
Ein freudloses Lächeln erschien bei diesen Worten auf ihren Lippen. "Mehr als die letzten Tage? Das bezweifle ich." Ihr Ausdruck war zwar kühl und beherrscht, doch ich hatte den Eindruck, dass diese Fassade nicht mehr lange halten würde. Die Flut ihrer Emotionen drohte ihren mühsam instand gehaltenen Damm einzubrechen.
Wortlos suchte ich in meinem Bewusstsein nach dem kleinen, zusammengedrängten Etwas, das mein wahres Aussehen war, und stupste es an. So lange hatte es nicht mehr die Oberfläche gesehen, dass ich einige Versuche brauchte, bis das Etwas vollständig erwacht war. Langsam kämpfte es sich nach oben. Schüttelte die Ketten der Unterdrückung ab. Und nahm mir schließlich die Maske vom Gesicht.
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