10 • 3 | Azvar
Athkazr ging unter, während Kaluur gerade aufging. Gemeinsam tauchten die beiden nahe am Horizont stehenden Sonnen das Land in ein noch viel tieferes Rot als sonst. Die Strahlen spiegelten sich in der makellos sauberen Scheibe des Fensters und ließen den Raum aussehen, als hätte man ihn einmal vollständig in Blut getaucht.
Die Karte von Ilatharis war großflächig ausgebreitet über den ganzen Tisch, detailliert waren dort die Städte, Grenzen und Landschaften aufgezeichnet. Ich war allein im Raum, in dem sich der Rat versammelte, wenn wir etwas zu besprechen hatten, wofür man eine Karte benötigte. Diese hier war die genaueste und detailreichste, die je gezeichnet wurde, und deswegen von großem Wert. Mit einem tiefen Seufzer beugte ich mich weiter darüber, um die kleinen Zahlen lesen zu können, die man neben die Städte und Stützpunkte geschrieben hatte. Kleine Zahlen, mit dunkler Tinte festgehalten, und jede Ziffer bedeutete ein Leben. Ein Caraliv, ein Soldat, dessen Zukunft ich hier an diesem Tisch entscheiden konnte.
Ich hörte, wie sich hinter mir die Tür öffnete. Ohne mich umzusehen wusste ich, wer eingetreten war. Die leichten Schritte, der frische Duft, der mich immer an die kühle Luft hoch oben in den Bergen erinnerte, und die sachte Berührung an meinem Arm verrieten Kaira unmissverständlich.
"Woher wusstest du, dass ich hier bin?", fragte ich, ohne sie anzusehen, und verschob das riesige Stück Stoff auf dem Tisch um einige Zentimeter.
"Du bist entweder im Bett oder an deinem Schreibtisch oder hier, und da Eljina unten in der Stadt ist, werdet ihr gerade wohl keine Sitzung haben. Ich habe dir Essen mitgebracht. Und du kannst heute Abend noch in deine königlichen Gemächer ziehen, gerade wird noch die Fensterscheibe ersetzt."
"Ich habe keinen Hunger", erwiderte ich nur halb mit den Gedanken bei ihr und schob das Tablett beiseite, das Kaira mir mitgebracht und auf den Tisch gestellt hatte.
"Du hast heute bestimmt noch nichts gegessen. Du isst das jetzt."
"Hm", machte ich und sah kurz auf, hatte aber beim Anblick des angerichteten Tellers noch viel weniger Appetit.
"Worüber grübelst du denn schon wieder?" Ich spürte ihre sanfte Berührung an meinem Arm und ihre Hand auf meinem Rücken.
"Wie ich den Lazaliv heimzahlen kann, was sie getan haben, ohne allzu viele Soldaten zu verlieren und gleichzeitig meinem Volk zeigen kann, dass wir uns nicht geschlagen geben und ich trotz allem bereit bin zu regieren."
Kaira seufzte resigniert und ich warf ihr einen Blick zu, den sie aus ihren silbergrauen Augen ruhig erwiderte. "Rache kann auch noch warten, bis du etwas gegessen hast. Dein Volk wird dir nichts abkaufen, wenn du am Hungertod stirbst."
Mit einem Grummeln gab ich mich schließlich geschlagen und setzte mich auf einen der am Rand stehenden Stühle. Kaira reichte mir das Tablett und beobachtete mich dabei, wie ich einen Bissen nach dem anderen hinunterzwang. Das Kauern über der Karte und das intensive Nachdenken über vorhandene Truppen, Waffenstärke und Schlachtstrategien half mir, mich vom Gedanken an Enlaya abzulenken. Sobald ich lediglich einer einfachen Tätigkeit wie Essen nachkam, kehrten ebenjene Gedanken zurück und eine eisige Klaue ergriff mein Herz.
Kaira schien zu spüren, wie es mir ging, denn sie begann mir von ihrem Tag zu erzählen. Es waren nur kleine Dinge, doch waren es die fröhlicheren Details und ich konnte mich darauf konzentrieren, statt auf den Schatten, der in einem Eck meines Bewusstseins lauerte. Sie erzählte mir, dass sie sich über das Fenster in ihrer neuen Kammer freute und dass sie sich gut mit einer der anderen Zofen unterhalten hatte, dass sie es faszinierend fand, wie schnell wir den Palast wieder reparierten, und dass es für sie als Lazaliv irritierend war, zwei Männer unter sich stehen zu haben und ihnen Anweisungen geben zu können. Erst, als ich fertig mit meinem Abendessen war, nickte sie wieder zur Karte. "Was planst du?"
Kurz musterte ich sie abschätzend, doch schalt ich mich im nächsten Moment selbst dafür. Wenn ich ihr nicht vertraute, wem dann?
"Ich weiß es noch nicht. Wir können es uns nicht leisten offen eine ihrer Städte anzugreifen. Zum einen stehen dafür wenige zur Auswahl, weil wir nunmal nicht fliegen können, und zum anderen müssen wir unsere Vorräte für den Winter sparen. Aber ich denke, ich werde kurz nach meiner Krönung eine Reise durch das Land antreten."
"Wieso eine Reise?", fragte sie neugierig.
"Bei meiner Krönung würden normalerweise alle Fürsten anreisen, die die fünfundzwanzig Bezirke Arnariths regieren, um mir ihr Schwert darzubieten und die Treue zu schwören. Ich kann dieses Ritual auch nach hinten verzögern, bis zu meinem Geburtstag."
"Du wurdest am Ende der Kalten Tage geboren", erwiderte Kaira nachdenklich. "Ist es so günstig, zu dieser Zeit zu reisen? Der Krieg ist gerade an einem kritischen Punkt und es wird kalt und stürmisch werden."
"Ich weiß. Aber ich habe vor, auch durch die kleinen Städte und Dörfer zu reisen und so dem Volk zu zeigen, dass ich präsent und gesund bin. Bei einem Wechsel an der Krone ist es wichtig, die Unterstützung der Leute zu bekommen."
"Die hast du sowieso. Weißt du eigentlich, wie viele Frauen auf dich stehen?", fragte Kaira belustigt. "Du bist beliebt."
"Trotzdem. Ein guter König zeigt sich seinem Volk. Ich werde zu meinem Geburtstag nach Dinarth reisen. Dort regiert der reichste der fünfundzwanzig Fürsten, den ich auch am besten kenne, weil er ein jüngerer Bruder meiner Mutter ist. Zu ihren Lebzeiten waren wir einige Male dort. Die anderen Fürsten werden auch dorthin kommen und mir die Treue schwören."
"Du darfst aber nur reisen, wenn ich mitkomme", murmelte Kaira. Sie hatte das Tablett beiseite gestellt und sich selbst auf meinen Schoß verpflanzt, wo sie nun den Kopf an meine Brust lehnte und undeutlich in meine Kleidung nuschelte.
"Selbstverständlich kommst du mit. Wer traut sich denn sonst, den König zum Essen zu zwingen?", erwiderte ich resigniert.
Ich spürte ihr Lächeln mehr, als dass ich es sah, doch wenige Sekunden später richtete sie sich etwas auf. Ihre Hände verschränkten sich in meinem Nacken und für kurze Zeit blickten wir uns direkt an. "Wer passt denn sonst darauf auf, dass dir keine deiner Verehrerinnen den Kopf verdreht?", murmelte sie leise. Im nächsten Moment lagen ihre Lippen auf meinen, wir waren eng umschlungen und ertränkten unsere Sorgen für wenige, kostbare Minuten in sanfter Leidenschaft.
Es war sie, die sich zuerst wieder von mir löste. In ihren Augen lag ein Ausdruck von Niedergeschlagenheit, der mich irritierte und der mir nicht gefiel. Sie sah schöner aus, wenn sie lächelte.
"Azvar..." Ihr Ton verriet mir schon, dass sie gleich etwas aussprechen würde, von dem sie wusste, dass ich es nicht gut finden würde. "Beim letzten Lasyenin-Fest hast du von Frieden gesprochen. Du wolltest König Zokaar ein Angebot machen, die Waffen sinken zu lassen." Ihr hoffnungsvoller Blick versetzte mir einen Stich im Herzen. "Jetzt hast du niemanden mehr, der dich dafür schlägt. Du kannst tun und lassen, was du willst. Du kannst meinen Eltern das Angebot machen. Der Krieg kann enden."
Vorsichtig stand ich auf und zwangsweise erhob auch sie sich. Ohne sie direkt anzusehen trat ich ans Fenster und blickte hinab auf das Palastgelände und den Teil der Stadt, den ich von hier sehen konnte. "Es tut mir leid, Kaira." Der Gedanke an Enlaya ließ meine Stimme jetzt härter klingen als sonst, wenn ich mit Kaira sprach. "Doch solange deine Familie meine umbringt, wird es keinen Frieden zwischen unseren Völkern geben."
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