09 • 2 | Azvar
Der Palast wirkte wie eine Ruine. Wände waren zerschlagen, Steine lagen in den edlen Korridoren herum, Leichen zierten den Boden. Rotes und graues Blut gleichermaßen war überall verspritzt, von den teuren Teppichen bis zur marmorierten Decke, überall klebte die metallisch riechende Flüssigkeit. Der Rauch wurde lichter, je tiefer wir ins Gebäude kamen, weg von den verqualmten Schießscharten und den Feuern am Boden.
Unwillkürlich hatte ich den Weg in den königlichen Teil des Palastes eingeschlagen. Ich musste mit meinem Vater besprechen, welche Befehle wir geben sollten, und ich wollte mich vergewissern, dass Enlaya im Schutzraum tief unter der Erdoberfläche in Sicherheit war. Außerdem brannte in mir das Verlangen, mein Schwert durch Haut und Muskeln zu schlagen und möglichst viele Lazaliv in dasselbe Schicksal zu stürzen, wie Rednir es erleiden musste.
Seine eisblauen Augen, die blicklos an mir vorbei zur Decke starrten, waren noch deutlich in meine Netzhaut eingebrannt und ich schien sie immer wiederzusehen, jedes Mal, wenn ich blinzelte. Rednir und ich hatten uns als Jungen im Palastpark kennengelernt und sofort gemerkt, dass wir uns gut verstanden. Schnell war er zu einem meiner Vertrautesten geworden, dem es später oft gelungen war, mich von den Sorgen und Problemen eines zukünftigen Königs abzulenken. Er war immer für einen Spaß zu haben, stur und dickköpfig, ehrgeizig und nicht selten etwas eingebildet.
Und nun war er tot.
Nie wieder würde das spöttische Funkeln in seinen Augen liegen, wenn er mich mit etwas aufzog. Nie wieder würde er mit den Augenbrauen wackeln und mich fragen, wann ich mich denn endlich für eine Frau entscheiden würde. Nie wieder würde er beim Training sein Oberteil in den Staub werfen und sich in den Blicken der Damen sonnen. Nie wieder könnte ich an seiner Seite ein Wettreiten durch die Stadt veranstalten, bei dem er immer gewann, leichtsinnig und risikofreudig wie er war.
Ich war froh, dass mich gerade niemand von vorne sah. Zwar hörte ich Kairas Schritte hinter mir und ihren angestrengten Atem, doch war vor mir alles verlassen und ich konnte mir erlauben, meine Gesichtszüge nicht ganz so beherrscht zu halten.
Ruckartig blieb ich stehen und stärkte den Griff um meine Waffe.
Inzwischen waren wir kurz vor den Korridoren, in denen sich meine und Enlayas Gemächer befanden. Links von mir war eine Tür zu dem Raum, in dem der Rat regelmäßig seine Sitzungen hatte. Hier war der Rauch wieder dichter, vermutlich war eines der Fenster geöffnet oder eingeschlagen worden.
Von vorne waren nun deutlich Kampfgeräusche zu hören. Metall traf auf Metall, Körper schlugen mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf, schmatzend wurden Waffen aus Fleisch und Knochen gezogen.
Von hinten näherten sich Schritte.
Mit dem Schwert kampfbereit an der Seite fuhr ich herum. Auch Kaira schien sie zu hören, denn die Dienerin blickte angstrengt in diese Richtung. Ihr Körper zitterte leicht, vor Angst oder vor Anspannung vermochte ich nicht zu sagen.
Durch den Rauch näherte sich eine einzelne Gestalt. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte sie zu erkennen, versuchte wenigstens zuzuordnen, ob Freund oder Feind. Gerade, als ich beschloss, dass ich lieber sofort selbst angriff, als überrascht zu werden, erkannte ich die Person, die sich uns näherte.
Auch sie schien mich nun zu identifizieren und ein erleichtertes Seufzen war zu hören. "Azvar! Athkazr sei Dank, da bist du ja! Wo warst du?"
Eljina trat näher und ließ ihr Schwert sinken, musterte Kaira einen Moment fragend und blickte dann wieder zu mir. Sie trug das Kleid, das sie wohl auch abends im Speisesaal angehabt hatte, nun jedoch an mehreren Stellen zerrissen war und einige Brandflecken aufzuweisen hatte. Einige silbergraue Flecken waren über den pastellgrünen Stoff verteilt. Ihr Haar hatte sich aus seiner Frisur gelöst und hing in wirren Strähnen auf ihre Schultern hinab. Zunächst schien sie unverletzt, doch dann sah ich einen Schnitt an ihrem Oberarm, der stark blutete, sie jedoch nicht weiter zu beeinträchtigen schien.
Auch ich lockerte mich ein klein wenig, war aber natürlich noch immer kampfbereit. "Ich war unterwegs. Kaira ist mir gerade entgegengekommen, weiß aber auch nicht, was los ist." Fragend hob ich eine Augenbraue und bedeutete ihr so wortlos, einen Bericht abzugeben.
"Die Lazaliv haben einen Hinterhalt geplant. Sie haben die Feuer in der Stadt und hier am Palast gelegt, bevor wir überhaupt bemerkt haben, dass sie da waren", begann Eljina zu erklären, mit der schnellen, beherrschten Stimme einer Soldatin, die sich so leicht nicht geschlagen gab. "Lediglich eine kleine Gruppe ist in den Palast eingedrungen, etwa ein Dutzend davon sind noch auf den Beinen. Die weitaus größere Gruppe an Lazaliv ist draußen in der Stadt und stiftet dort Unruhe, die meisten Soldaten helfen den Bürgern. Wir wissen alle, dass wir die Lazaliv nur durch hohe zahlenmäßige Überlegenheit schlagen können. Aber ohne Koordination können die Soldaten nicht viel tun. Ich bin auf der Suche nach deinem Vater, Azvar, wir brauchen klare Befehle."
"Wieso dringen sie mit einer so kleinen Gruppe in den Palast ein?", fragte Kaira und ich sah die Blicke beider Frauen auf mich gerichtet. "Wenn sie wirklich Schaden anrichten wollten, würden sie doch möglichst viele hierher bringen."
Energisch ignorierte ich das Bild der Leiche von Rednir vor meinem inneren Auge. Ich musste mich konzentrieren. Das Wohl des ganzen Volkes stand auf dem Spiel und ich war derjenige, der nun die Befehle geben musste. Trotzdem konnte ich eine Frage nicht außer Acht lassen.
"Weißt du, wo Enlaya ist?" Mein ernster Blick bohrte sich in den Eljinas, doch ich wusste die Antwort, noch bevor sie sie ausgesprochen hatte.
Langsam schüttelte sie den Kopf. "Ich habe keine Informationen über ihren Aufenthaltsort. Tut mir leid."
"Nicht deine Schuld", murmelte ich abwesend und ballte meine freie Hand zu einer Faust. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf, bildeten Befehle und verwarfen sie wieder. Die Kampfgeräusche drangen wieder lauter an mein Ohr und verdeutlichten, wie dringend ich handeln musste.
Doch mein Körper schien wie gelähmt. Ich war unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Auf dem Papier planen, was im Falle eines Angriffs auf den Palast geschah, war selbstverständlich. Ich hatte kein Problem damit, die langen, endlosen Listen von Verstorbenen zu lesen, den Tod von Lazaliv zu befehlen und zu planen, mir den Mord an König Zokaar bildhaft vorzustellen - doch das hier war anders.
Das Bild des Todes stand mir in Form eines leeren, eisblauen Blickes deutlich vor Augen. Diese Entscheidungen, die ich nun treffen musste, dieser Plan, den ich nun parat haben musste, würde über so viele Leben entscheiden. Was, wenn ich versagte? Was, wenn die Lazaliv endgültig gewannen? Was, wenn einer der beiden Frauen, die hier vor mir standen, etwas passierte? Was, wenn dieser eine Kuss zwischen Kaira und mir der einzige bleiben sollte?
Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen. Mein Atem beschleunigte sich. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und rann meine Schläfen hinunter. Ein Zittern breitete sich in meinen Händen aus.
Ich hatte Angst.
Es gab kein schöneres, ehrenvolleres Wort dafür. Furcht. Angst. Panik. Ich, Sohn des großen König Amroths, hatte Panik, wenn es darum ging, in Gefahrensituationen zu entscheiden.
Übelkeit stieg in mir auf und die schwarzen Punkte verdichteten sich allmählich zu einem undurchsichtigen Vorhang an Dunkelheit.
Dann eine Berührung.
Eine Hand, die meine ergriff. Finger, die meine umschlossen. Ein Geruch, der nicht der des Feuers war.
Kaira stand dicht vor mir. Ihre Augen richteten sich direkt auf meine. Sie strahlte die Ruhe aus, die mir fehlte. Sie trat ohne Zögern in meine Panik und gebot dieser Einhalt. Mit einer einzigen Berührung, mit ihrer stillen Gegenwart. Mein Blick wurde in ihrem gefangen und ihre silbergrauen Augen waren wie ein Sturm, der einmal durch mich hindurchtobte und all die Angst und Panik mit sich riss.
Was zurückblieb, war Ruhe.
Eine eisige, entschlossene Ruhe. Langsam sah ich auf. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt, doch nicht vor Angst. Mein Blick traf den meiner womöglich zukünftigen Frau.
"Eljina. Geh so schnell du kannst nach unten und prüf nach, ob meine Schwester im Schutzraum eingeschlossen ist. Vielleicht ist mein Vater bei ihr." Die Worte kamen wie von selbst. Ich musste nicht mehr nachdenken, nicht mehr zweifeln. Entweder ich handelte jetzt und es war richtig, oder es war ohnehin zu spät und alles verloren. "Wenn sie dort nicht ist, hol dir einige Soldaten und such den Palast nach ihr und dem König ab. Töte jeden Lazaliv, der dir begegnet. Wenn hier niemand mehr ist, geh in die Stadt und kämpfe dort. Wir können die Bürger nicht allein lassen."
Ich blickte wieder zu Kaira, die noch immer dicht vor mir stand. "Ich werde den Kampf aufnehmen, der da hinter uns tobt. Von dir kann ich nicht verlangen, gegen deine Artgenossen zu kämpfen. Such dir ein Eck, in dem dich niemand findet, und warte, bis alles vorbei ist."
"Azvar." Ihre Stimme war ebenso angespannt, wie ich mich fühlte, doch nicht der Hauch eines Zweifels lag darin. "Ich werde mich nicht verstecken wie eine feige Verräterin. Meine Entscheidung habe ich schon früher an diesem Abend getroffen. Ich werde kämpfen." Sie löste sich von mir und hob ihr Schwert vom Boden auf, einen Ausdruck wilder Entschlossenheit in den Augen, der sich in ihrer Körperhaltung widerspiegelte.
Schweigend blickte ich zu den beiden Frauen und mit einem Stich im Herzen wurde mir klar, dass ich nicht wollte, dass einer von beiden etwas geschah. Sie beide waren mir wichtig. Sie beide sollten unbeschadet aus dieser Sache wieder herauskommen.
Vor allem die, die bereit war, gegen ihre Artgenossen, ihre ehemaligen Soldaten und Beschützer, gegen ihre Vertrauten zu kämpfen, um meine Heimat zu verteidigen.
In mir stieg das Verlangen auf, Kaira an mich zu ziehen, sie dichter bei mir zu halten, meine Lippen mit ihren zu verschließen. Mühsam kämpfte ich den Drang hinunter und beherrschte meine Stimme. "Passt auf euch auf." Ich sah Kaira an, während ich diese Worte aussprach, und versuchte alles Unausgesprochene in meinen Blick zu legen. Sie nickte ganz leicht und lächelte kaum merklich. Zufrieden tauschte ich auch einen letzten Blick mit Eljina, die kurz die Stirn runzelte, aber froh wirkte, klare Anweisungen bekommen zu haben.
Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich dann ab und ging mit langen Schritten den Kampfgeräuschen entgegen.
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