08 • 4 | Kaira
Azvar sah aus, als wüsste er nicht so recht, wie er mit mir umgehen sollte. "Ich möchte dir etwas zeigen."
"Aha." Ich musterte ihn kühl und brachte einen Schritt Abstand zwischen uns. Zufrieden stellte ich fest, dass er etwas verunsichert wirkte.
"Enlaya, lässt du uns bitte allein?", fragte er seufzend.
Die Prinzessin sah kurz von ihm zu mir und wieder zurück, umarmte mich dann kurz und murmelte einen Abschiedsgruß. Schon im Gehen sah sie nochmal zu Azvar. "Sei aber pünktlich zum Essen. Ich will nicht alleine mit den ganzen hochwohlgeborenen Damen sein, die ganz enttäuscht sind, weil der gutaussehende Prinz nicht da ist", behauptete sie und verschwand dann im Palast.
Erst, als wir wieder ganz allein waren, ergriff Azvar wieder das Wort.
"Ich möchte dir etwas zeigen", wiederholte Azvar und sah mich mit einer Spur Hoffnung im Blick an.
"Was? Die Leiche eines meiner Familienmitglieder?", schnaubte ich und brachte noch einen Schritt Abstand zwischen uns.
Azvar senkte den Blick und schüttelte seufzend den Kopf. "Es tut mir leid, Kaira. Ich will dir niemanden wegnehmen, wirklich nicht. Du hast genug zu kämpfen. Aber ich muss unabhängig von mir entscheiden, was für mein Land am besten ist. Und was mein Vater will."
"Schon gut." Der Blick, den ich ihm zuwarf, strafte meine Worte wohl Lügen, doch so einfach verzieh ich ihm nun auch wieder nicht.
"Lass mich dir etwas zeigen", wiederholte er ruhig.
Eigentlich wollte ich nicht, doch nun schaltete sich meine Neugier ein und lieferte sich ein hitziges Duell mit meinem Stolz.
"Na gut", sagte ich schließlich seufzend, erhielt dadurch ein zufriedenes Lächeln und folgte dann Azvar durch das Palastgelände zu den Ställen. Ein gesatteltes Ihashe stand davor angebunden.
"Kannst du reiten?", fragte Azvar und band das sechsbeinige Reittier los.
Wortlos schüttelte ich den Kopf. Bisher war ich immer mit einer Kutsche gefahren, ich hatte es nie nötig gehabt, selbst zu reiten.
"Dann setz dich hinter mich und halt dich fest", wies er mich an und saß selbst auf. Etwas umständlich stieg ich hinter ihm in den Sattel und legte die Arme um seine Hüfte, um mich festzuhalten.
Es war ungewohnt, Azvar so nahe zu sein. Sein Duft stieg mir in die Nase, ungewöhnlich, aber angenehm. Er roch nach frisch geschnittenem Gras, nach Erde nach einem Sommerregen, nach dem Kräuteröl, das er nach dem Waschen in seine Haare einarbeitete. Ich musste mich anstrengen, weiterhin sauer auf ihn zu sein.
Unwillkürlich klammerte ich mich fester an Azvar, als er das Reittier antrieb und wir in recht schnellem Tempo durch die Stadt ritten und diese schließlich hinter uns ließen. Es war das erste Mal, dass ich Samalfar verließ, seitdem ich hierhergekommen war und ich mochte das Gefühl der Freiheit, das mich ergriff. Eine weite Wiese erstreckte sich um uns herum, doch Azvar steuerte auf einen Wald zu, dessen Bäume in einiger Entfernung ihre Äste gen Himmel streckten.
Als wir zwischen die breiten, knorrigen Stämme eintauchten, drosselte er das Tempo etwas und versuchte einige Male, ein Gespräch anzufangen, doch ich blockte ihn immer wieder ab. Zumindest wollte ich zuerst sehen, was er mir zeigen wollte, bevor ich entschied, wann ich ihm wieder verzieh.
Nach einer Weile gab auch er es auf und wir ritten schweigend durch den Wald.
Meine Geduld war kurz vor dem Schwinden und ich wollte ihn fragen, wohin er mich eigentlich brachte und wie weit weg dieses Etwas noch war, als wir einen kleinen Seitenpfad vom breiten Weg nahmen und nach keinen zwei weiteren Minuten auf eine Lichtung gelangten. Das Gras wucherte hoch, durchsetzt von Büschen und Dornenranken, so dicht, dass kein Durchkommen möglich war.
"Wir sind da. Hier sieht man den Wald von der Stadt nicht mehr allzu gut, da ist ein Hügel dazwischen", erklärte Azvar und saß etwas ungelenk ab, da ich noch immer hinter ihm saß. Dann bot er mir eine Hand an und half mir vom Tier.
"Was wollen wir hier?", fragte ich skeptisch und drehte mich zur Lichtung. Nichts ließ darauf schließen, dass sich dort irgendetwas Sehenswertes befand.
Azvar schien in den Satteltaschen des Ihashe etwas zu suchen und ich wollte mich gerade wieder nach ihm umsehen, als die Geräusche wieder verklangen und ich unwillkürlich wusste, dass er direkt hinter mir stand.
"Halt still", wies er mich leise an, dennoch zuckte ich zusammen, als ich seine Berührung an meinem Flügel spürte. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, was er gerade tat.
Mein Körper spannte sich an, jeder Muskel zitterte vor Erwartung. Kein einziger klarer Gedanke konnte sich mehr durchsetzen, mein Gehirn schien pausiert zu sein. Es war ein unangenehmes Gefühl, als Azvar möglichst vorsichtig die Kette durch meine Schwinge zog. Seine Finger waren sanft und zögerlich, trotzdem riss er mir einige Daunen aus, als er die Eisenmanschette vermutlich mithilfe einer Zange aufbog und schließlich von den weißen Federn löste.
Langsam drehte ich mich um. Mein Flügel fühlte sich leicht an, so sehr hatte ich mich in den vergangenen Monaten an das Gewicht des Metalls gewöhnt.
Ich sah Azvar in die Augen und zum ersten Mal war sein Gesicht ein offenes Buch für mich. Sein Blick war hoffnungsvoll, aber auch beunruhigt. Er hatte Sorgen, die ihn beschäftigten, die er nun versuchte zu ignorieren. Seine Körperhaltung war gespannt, erwartungsvoll, die Hände nervös zu Fäusten geballt.
Für ein oder zwei Sekunden konnte ich nicht begreifen, was hier geschah. Dann schien mein erstarrter Körper zu reagieren, ohne, dass ich ihn dazu auffordern musste. Mit ein, zwei kraftvollen Flügelschlägen stieß ich mich vom Boden ab, drehte mich in der Luft und stieg weiter auf, über die Büsche und Sträucher, über die Baumwipfel und hinauf in den weiten Himmel.
Es war, als wäre ich nach Hause gekommen.
Der Wind umspielte mein Gesicht und fuhr zwischen die Federn meiner Schwingen, der Stoff des grauen Kleides flatterte um meine Beine. Die untergehende Sonne Athkazr schien mir direkt ins Gesicht und hüllte den Himmel in Farben von hellrot bis dunkelviolett. Für einen Moment entspannte ich meine Muskeln, ließ die Flügel locker und fiel. Die Luft rauschte in meinen Ohren, zerrte an meinen Haaren und ließ eine Gänsehaut über meinen Rücken laufen, die nichts mit der Kälte zu tun hatte.
Über den Wipfeln der Bäume fing ich mich wieder, indem ich die Schwingen ausbreitete und knapp oberhalb der grünen, gelblich und rötlichen Blätter durch die Luft glitt, bevor ich mich mit einigen kräftigen Flügelschlägen wieder höher über den Wald erhob.
Im Osten konnte ich die Stadt Samalfar erkennen, erhellt von unzähligen Fackeln und Laternen, der Palast erhob sich imposant über den Wohnhäusern. Ein See erstreckte sich im Westen, dann eine Landschaft aus kleinen Wäldern, Hügeln und Bachläufen und weit dahinter das Meer, glitzernd in der untergehenden Sonne. Auch im Süden konnte ich den Ozean erkennen, die schimmernden Wellen und das funkelnde, tiefblaue Wasser. Im Gegensatz dazu erhoben sich nördlich von mir hohe Berge aus dem Boden, mit weißem Schnee auf den Gipfeln und dunkelgrünen Wäldern auf den Hängen.
Das Gefühl von Freiheit überkam mich. Freiheit, die ich seit meiner Geburt zur Verfügung gehabt hatte und erst zu schätzen wusste, seit ich sie nicht mehr besaß. Freiheit, gegen die im Vergleich das Gefühl von zuvor, als ich die Stadt verlassen hatte, nichts war. Freiheit, die mich alles andere vergessen ließ.
Reglos stand ich in der Luft, lediglich meine Flügel schlugen in einem gleichmäßigen, rhythmischen Tempo. Die Welt erschien mir plötzlich größer, weiter, unendlicher. Ich starrte hinab auf Samalfar, dann nach Norden zu den Bergen und ehe ich mich versah liefen heiße, salzige Tränen über meine Wangen.
Ein Gewicht hatte die letzten Tage, Wochen, Monate auf meinen Schultern gelegen und gemeinsam mit dem Eisen auf meinen Schwingen hatte es sich gelöst, war in die kühle Abendluft entwichen und hatte mich leichter und freier zurückgelassen, als ich jemals gewesen war.
Ich blickte nach unten auf den Wald und konnte die Lichtung ausmachen, von der ich gestartet war. Azvar musste dort stehen und zu mir aufsehen, obwohl ich zu weit oben war, als dass ich ihn hätte ausmachen können.
Mir wurde bewusst, dass mir nun alle Türen offen standen. Nicht nur alle Türen, der ganze Himmel erstreckte sich vor mir und niemand würde mich zurückhalten können. Ich hätte die Möglichkeit, nach Rokthan zurückzukehren. Najik erzählen, was ich wusste, vielleicht wäre dies genug, um wieder zurück zu meinem Leben als Prinzessin zu kommen. Ein Leben ohne Wäsche waschen, ohne dienen, ohne Wein einschenken. Niemandem unterstellt sein, außer meinen Eltern.
Im selben Atemzug wurde mir klar, was für ein Vertrauen mir Azvar entgegenbrachte. Ich könnte ihn in große Schwierigkeiten bringen, wenn ich nun verschwand.
Die Versuchung war groß. Ich wollte nicht mehr dienen. Ich war geboren, um bedient zu werden, um schöne Kleider zu tragen und einen reichen Lazaliv zu heiraten.
Die Frage war, ob es mir das wert war. Ob ich wollte, dass ich mich wieder an alle Hofregeln halten musste. Ob ich wollte, dass über mich als Ehefrau entschieden wurde, als wäre ich ein Kleinkind. Ob ich Azvar so ans Messer liefern wollte, dass sein Vater ihn halbtot prügeln würde.
Reglos stand ich in der Luft, zweihundert, dreihundert Meter über dem Boden, und musste mich plötzlich entscheiden, welches Leben ich führen wollte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro