06 • 1 | Azvar
Es dauerte beinahe zwei Wochen, bis Enlaya wieder vollkommen bei Kräften war. Sie schlief viel, war zu ihren wachen Zeiten aber gut gelaunt und wild wie immer. Vermutlich wäre sie schon nach zwei Tagen wieder durch den Palast gesprungen, wenn es nach ihr ginge. Oft leistete ich ihr im Krankenflügel Gesellschaft und arbeitete dort, damit sie im Bett blieb und sich nicht überanstrengte.
Wenn ich da war, war auch Kaira dabei und oft blieb es an ihr hängen, Enlaya zu unterhalten. Das Verhältnis zwischen den beiden faszinierte mich. Sie waren beinahe wie langjährige Freunde, die sich vieles erzählten und gerne quatschend beieinander saßen. Meine Schwester ging respektvoll mit der Dienerin um und Kaira schien Enlaya gern zu haben. Auf diesem Weg erfuhr ich auch viel über Kaira selbst und teilweise auch über das Leben in Thazanur und dem lazalischen Königspalast, denn oft waren ihre Erzählungen interessanter als meine Arbeit und meine Gedanken schweiften ab.
So erfuhr ich zum Beispiel, dass der Palast kein einheitliches Gebäude, sondern in viele Teile aufgespalten in die Berge gehauen war, und man ohne Flügel beinahe nirgends hinkam. Kaira beschrieb einen See, in dessen Mitte ein riesiger Baum stand, dessen Stamm oben eine beinahe ebene Plattform bildete. Dort hatte sie immer mit ihrem Bruder trainiert. Kaira erzählte meiner Schwester von anderen Hofdamen, die sie kannte, von früheren Ausflügen, von den Einschränkungen, die Frauen in Thazanur erdulden mussten. Jedes ihrer Worte trug eine Spur Sehnsucht mit sich und ich hatte insgeheim ein wenig Mitleid mit ihr. Sie wusste nicht, wie viel ich mithörte, und ich hatte nicht vor, ihr dieses Mitleid zu zeigen.
Nicht selten dachte ich darüber nach, worüber wir am Abend auf dem Balkon gesprochen hatten. Ich wusste, dass sie von anderen Bediensteten nicht gut behandelt wurde, und hörte die Worte, die man bei den Ranghöheren über sie wechselte. Unwillkürlich veränderte sich meine Einstellung zu ihr. Sie war nicht so eingebildet, wie man ihr nachsagte, und auch nicht hochnäsig. Wenn man mehr über sie wusste, merkte man erst, wie sehr sie unter ihrer Rolle hier litt und wie stark sie dennoch blieb.
Natürlich ließ ich die Vorräte des Gewürzes Isnogno überprüfen und strafte die, die sich als schuldig an der Verwechslung herausstellten. Die Prinzessin war bei allen beliebt und ihre Erkrankung hatte viele im Palast schockiert. Außerdem wusste ich, wie man Eindruck machen konnte, und so war ich mir recht sicher, dass das Gift kein weiteres Mal in den Palast kommen würde. Mein Vater sollte nichts davon erfahren, sodass ich keine weiteren Maßnahmen ergriff und die Sache dann ruhen ließ.
Auch als Enlaya wieder in ihre Gemächer zog und ich in meinen eigenen arbeitete, sah ich sie einige Male mit Kaira. Die Dienerin schien mir doch recht vernünftig, sodass ich nichts dagegen hatte, wenn sie ein wenig auf meine Schwester achtete. Der Ruf von Kaira als Prinzessin war der gegenteilige von Enlayas. Sie war ruhig und ausgeglichen gewesen, gebildet und gehorsam - ganz so, wie die Tochter des Königs sein sollte.
Umso mehr überraschte es mich immer wieder, mit welcher Präzision und Geschwindigkeit sie den Schwertkampf beherrschte. Inzwischen kämpften wir ausgeglichen, doch manchmal durchbrach sie immer noch meine Verteidigung und besiegte mich. Hätte ich sie als Außenstehender gesehen, hätte ich sie vom Aussehen niemals als talentierte Schwertkämpferin identifiziert, andererseits aber während eines Kampfes nicht als Prinzessin.
Inzwischen hatte ich ihr erlaubt, die Anrede wegzulassen, wenn wir alleine waren. Wir waren oft nur zu zweit, und diese Erlaubnis machte es um einiges lockerer.
Noch immer trafen unsere Schwerter oft spät abends aufeinander, wenn Athkazr bereits untergegangen war und Kaluur das Land in rotes Licht tauchte. Vormittags war es inzwischen recht kühl, wenn nur die größere der beiden Sonnen am Himmel stand. Dafür vereinten sich nachmittags die Strahlen Kaluurs und Athkazrs und die Luft wurde warm und trocken. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und näherte sich der Zeit der Kalten Tage, wenn die beiden Sonnen nur wenige Minuten gleichzeitig am Himmel stehen würden.
Meine Kriegerprüfung würde nun in einigen Tagen stattfinden und von mir als Prinz wurde erwartet, fehlerfrei abzuschneiden, wenn ich schon zwei Jahre später teilnahm, als eigentlich geplant. Danach würde ich dem Heer beitreten, den Rang würde mein Vater bestimmen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich die beiden Lazaliv der Prüfung besiegen konnte, doch ich war mir unsicher, ob ich den König zufriedenstellen konnte.
Amroth hatte keine geringen Ansprüche, das wusste ich, aber ich wollte ihn stolz machen. Ich wollte, dass er wusste, dass ich mein Bestes tat. Dass er anerkannte, wie hart ich arbeitete. Dass er mir endlich zeigen würde, dass ich als sein Sohn genug war. Deswegen würde ich auch jeden Posten im Heer annehmen, den er mir zuwies - egal, wie viel zusätzliche Arbeit diese Position mit sich bringen würde. Ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass es mir zu viel wurde. Genauso wenig konnte ich es mir erlauben, bei der Prüfung nicht mit völliger Perfektion zu bestehen.
Natürlich wusste er nicht, dass ich mit meiner Dienerin trainierte und er würde sie vermutlich hinrichten, wenn er es wüsste. Scheinbar funktionierte sie als Druckmittel ja nicht, wir hatten nämlich seit ihrer Ankunft nichts von ihrem Vater gehört.
Als ich nun nach einer weiteren Trainingseinheit Kaira dabei zusah, wie sie die Übungsschwerter wieder verstaute, fiel mir plötzlich auf, dass sie nun schon beinahe den ganzen Sommer hier war und die Lazaliv keinen einzigen Versuch gezeigt hatten, sie wiederzubekommen. Die Prinzessin, die Erstgeborene des Königs, eine hübsche, junge Frau, die keinen einzigen sichtlichen Fehler hatte. Natürlich hatte sie einmal durchscheinen lassen, dass sie kein enges Verhältnis zu ihrem Vater hatte. Aber trotzdem würde man sie doch wiederhaben wollen, oder nicht? Wenn nicht König Zokaar, dann doch sicher Prinz Najik?
Wir hatten einen Brief nach Rokthan geschickt, sobald die gefangene Kaira im Palast angekommen war, mit der Frage, wie viel wir für ihre Freiheit bekommen würden. Eine Antwort hatten wir nie bekommen und einen Angriff auf Samalfar hatte es auch nicht gegeben, seit sie hier war.
Mir wurde bewusst, dass Kaira schon seit einigen Sekunden meinen nachdenklichen Blick erwiderte und nun leicht den Kopf schief legte. "Ihr wirkt verwirrt", stellte sie fest, schenkte sich einen Becher mit Wasser ein und setzte sich auf eine Bank zwischen den Blumenbeeten, um sich nach dem Kampf auszuruhen.
"Ich habe Fragen über dich." Auch ich holte mir etwas Wasser und setzte mich dann ebenfalls auf die Bank.
"Ich frage mich auch vieles über Euch."
"Wieso fragst du dann nicht?" Ich trank einen Schluck Wasser und genoss es, wie das kühle Nass meinen aufgeheizten Körper kühlte.
"Ihr seid leichter zu ertragen, wenn Ihr nicht wütend seid."
Unabsichtlich musste ich ein wenig schmunzeln. "Ich bin also nur zu ertragen? Und das auch nur wenn ich nicht wütend bin?"
Sie lächelte ebenfalls belustigt und nickte. "Ja, nur, wenn Ihr nicht wütend seid. Dann seid Ihr eigentlich ganz sympathisch."
"Das ist beruhigend." Ich lachte und warf ihr einen neugierigen Blick von der Seite zu. "Was fragst du dich denn?"
"Nur wenn Ihr mir versprecht, nicht sauer zu sein", erwiderte sie.
Mir fiel auf, dass sie recht selten lächelte. Ihre Gesichtszüge wirkten eleganter mit dieser Geste und seltsamerweise auch königlicher, erwachsener.
"Versprochen." Ich war gespannt darauf, welche Fragen sie nun stellen würde. Sie war sonst meist zurückhaltend und sprach kaum, außer sie war mit Enlaya zusammen.
Einige Sekunden schien Kaira zu überlegen, welche Frage sie zuerst stellen sollte. "Man sagt Euch nach, ein begabter Gestaltwandler zu sein. Wie viel verändert Ihr an Eurem Gesicht und Körper? Wie seht Ihr ohne Eure Fähigkeiten aus?"
Ihr neugieriger Blick traf meinen und ich legte die Stirn in Falten. "Das ist die persönlichste Frage, die du einem Caraliv stellen kannst", stellte ich fest und wusste gleichzeitig, dass ich sie ihr nicht beantworten würde. Niemals würde ich einfach so jemandem zeigen, wie ich wirklich aussah.
"Wieso? Seid Ihr in Wahrheit ein übergewichtiger, unattraktiver Frauenschreck?", fragte sie und grinste mich schelmisch an.
"Nein. Das geht dich nichts an." Wüsste ich nicht, dass sie lediglich neugierig war, würde ich sie wohl dafür strafen. Doch sie wirkte nicht, als würde sie die Frage böse meinen, also beließ ich es bei dieser Zurückweisung.
"Ihr seid langweilig", behauptete sie und sah enttäuscht aus. "Darf ich noch eine Frage stellen?"
"Du wirst hier jeden Caraliv fragen können und keiner wird zugeben, was und wie viel er an seinem Aussehen verändert. Glaub mir." Ich sah sie an und sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Ja, du darfst weiter fragen."
"Wieso wehrt Ihr Euch nicht gegen Euren Vater?"
Sie war nicht leicht einzuschüchtern, das musste man ihr lassen. Andere hätten sich nun nicht noch einmal getraut, eine so persönliche Frage zu stellen, auch wenn ihre Stimme etwas zögerlich klang.
Eine Weile schwieg ich und dachte darüber nach. Wir hatten nie näher besprochen, was sie am Abend von Lasyenin beobachtet hatte und ich war mir sicher, dass sie es auch gegenüber anderen nie erwähnt hatte. In diesem Sinne war sie also vertrauenswürdig, jedoch wusste ich nicht, ob ich ihr dies anvertrauen sollte.
Andererseits sprach auch nichts dagegen. Sie hatte ja schon gesehen, wie schwach ich war und wie wenig ich ihm entgegenzusetzen hatte. Vielleicht würde sie das nicht mehr von mir denken, wenn ich ihr erklärte, wieso ich mich nicht wehrte.
Ich musterte sie nachdenklich und sie erwiderte meinen Blick unbeeindruckt. Ihre Ausstrahlung zeugte von Neugier, aber auch von Ruhe, Zurückhaltung und Gelassenheit. Sie drängte mich nicht. Diese Gesellschaft ließ mich sprechen, bevor ich mich wirklich entschieden hatte, wie viel ich ihr sagen sollte.
"Amroth ist nicht nur mein Vater. Er ist genauso auch mein König. Eigentlich ist er viel eher mein König als mein Vater. Es ist ihm wichtig, dass ich bestmöglich auf meinen zukünftigen Posten vorbereitet bin."
"Und er bereitet Euch so darauf vor?" Ihr skeptischer Blick bohrte sich von der Seite in meinen Kopf, aber ich sah weiter nach vorne.
"Ja. In gewisser Weise. Ich weiß nicht, wie er mit meiner Mutter umgegangen ist. Wenn er sie genauso behandelt hat, dann so, dass Enlaya und ich nichts bemerkt haben. Er war schon immer so. In seinen Augen sorgt Gewalt dafür, dass gewisse Dinge im Gedächtnis bleiben. Seine Regeln zum Beispiel. Er erwartet von mir, dass ich seine Strafen akzeptiere und dass ich mich danach bessere. Dass ich nicht jammere und mich zusammenreiße. So, wie ein König es tun sollte. Ich will, dass er mich akzeptiert. Dass er stolz ist. Dafür arbeite ich."
"Aber Ihr könntet ihn doch mit Leichtigkeit überwältigen, wenn Ihr wolltet", warf Kaira leise ein.
Nun erwiderte ich ihren Blick fest und sah, wie sie sich bemühte, diesem standzuhalten. "Ja. Könnte ich. Er wird alt. Ich könnte ihn innerhalb von Minuten töten. Aber er ist noch immer sowohl mein als auch Enlayas Vater. Unsere Mutter wurde schon ermordet und sie würde seinen Tod nicht leicht aufnehmen. Außerdem kann ich noch viel von ihm lernen. Er hat seine Fehler, aber er weiß, was es bedeutet, ein Land zu regieren."
Kaira schien über meine Worte nachzudenken. Ich glaubte nicht, dass sie mir zustimmte, aber sie nickte und ließ das Thema damit ruhen. Einige Sekunden war es wieder still, dann stellte ich eine Frage an sie.
"Wieso bist du noch hier?"
"Was meint Ihr?", fragte sie, allerdings hatte ich den Eindruck, dass sie genau wusste, was ich von ihr wollte.
"Du bist die älteste Tochter König Zokaars und Schwester des Thronfolgers. Wieso will dich niemand zurückholen? Es gab keine Befreiungsaktion, wir haben keine Antwort auf unseren Brief an deinen Vater erhalten. Du hast kein gutes Verhältnis zu ihm, das weiß ich, aber mit deinem Bruder bist du sehr vertraut. Du könntest uns vertrauliche Informationen geben. Wieso gab es nicht wenigstens ein Angebot?"
Kaira schwieg und starrte auf ihre Hände, ohne zu antworten. Mit leicht zusammengekniffenen Augen wartete ich geduldig mehrere Minuten. Ihr Gesicht lag im Schatten, sodass ich ihren Ausdruck kaum lesen konnte. Ein sanfter Wind strich durch ihre Haare und die Federn ihrer Schwingen und trug mir ihren Geruch zu, einen angenehmen, herben Duft.
Schließlich sah sie auf. Glitzernde Tränen standen in ihren silbergrauen Augen.
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