05 • 4 | Azvar
Langsam aber sicher konnte ich die Erschöpfung nicht mehr ignorieren. Die Buchstaben in der engen, praktisch unleserlichen Handschrift verschwammen vor meinen Augen. Meine Konzentration war aufgebraucht. Beinahe konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Immer und immer wieder las ich den Absatz über einen Anschlag der Lazaliv auf die Stadt Isemdir, unfähig, die langen Zahlen und Wörter der verlorenen Leben und Vorräte in mein übermüdetes Gehirn aufzunehmen.
Schließlich gab ich es auf. Mit einer Hand rieb ich mir über die Augen, während ich mich wieder zum Bett meiner Schwester drehte. Die Dienerin sang und Enlaya kämpfte sichtlich genauso wie ich mit der Müdigkeit. Kairas Stimme war schön und rein und ich stellte fest, dass ich ihr gerne zuhörte. Das Lied war mir nicht bekannt, doch als ich einige Minuten lang auf den Text achtete, erkannte ich die Geschichte, die die klare Stimme in einer sanften Melodie vortrug. Es war die Legende von Athkazr und Kaluur, den Urwesen, und von Caraya und Lazath, den ersten Angehörigen unserer beider Völker.
Ich vergaß die noch anstehende Arbeit, saß auf meinem Stuhl und beobachtete Kaira und hörte ihr zu. Schon bald war Enlaya eingeschlafen, ihre ruhigen, langsamen Atemzüge ein sicheres Zeichen ihrer wiederkommenden Gesundheit. Dennoch sang Kaira weiter, starrte in die gefalteten Hände in ihrem Schoß und schien sich ihrer Umgebung nicht bewusst zu sein.
Das Lied endete mit der Hoffnung auf Frieden. Auf eine gute, friedvolle Zeit, ohne Schlachten, ohne Waffen, ohne Hass. Es blieb mehrere Minuten still, nachdem ihre Stimme verklungen war. Langsam nur sah sie auf, schien meinen Blick auf ihr zu spüren und drehte den Kopf zu mir.
In ihren silbergrauen Augen glitzerten Tränen.
Für ein, vielleicht zwei Sekunden sahen wir uns direkt an. Diesmal war ich es, der zuerst wegsah. Ich konnte nur ahnen, welche Gefühle dieses Lied in ihr auslöste und es war mir unangenehm, sie so zu sehen.
Als ich aufstand, zwei Pergamentrollen vom Tisch hinter mir versiegelte und diese einer Wache vor der Tür in die Hand drückte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie sich mit dem Ärmel ihres grauen Kleides über die Augen wischte. Ich trug der Wache auf, diese Schriftrollen meinem Vater zu bringen, und ließ mir Zeit, mich wieder zu Kaira umzudrehen. Als unsere Blicke sich wieder trafen, war ihr Gesicht verschlossen wie immer.
"Komm", forderte ich sie auf, ohne auf ihren kurzen Gefühlsausbruch zu sprechen zu kommen. Ihr voraus ging ich durch die Korridore, in die das helle, warme Sonnenlicht durch die zahlreichen Fenster hereinschien, bis in meine Gemächer. Mit einem Nicken entließ ich sie, wartete, bis sie in ihre Kammer verschwunden war und ließ mich dann ins Bett fallen.
Ohne mich zu entkleiden, ohne noch einen Gedanken zu denken, ohne zu hören, wie sie den Raum wieder durchquerte, fiel ich in einen Schlaf, der so tief war wie selten.
-'-
Als ich erwachte, war es dunkel. Zumindest fast, denn Kaluur stand noch am Himmel und tauchte das Land in rötliches, dunkles Licht. Langsam erhob ich mich und warf einen Blick nach draußen. Kaira stand auf dem Balkon, der aufgefrischte Wind zerrte an ihren rotblonden Haaren und den weißen Federn ihrer Schwingen. Die Türen nach draußen standen weit offen, die Vorhänge wehten in den Raum, kühle Luft umspielte mein Gesicht.
Mit einem halb unterdrückten Gähnen stieg ich aus dem Bett und trat durch die offenen Türen auf den Balkon. "Weißt du, es ist nicht angenehm, wenn die Dienerin die Fenster offen lässt und das ganze Zimmer vom Winde verweht wird."
Sofort fuhr sie herum und starrte mich an. Mit einem Schulterzucken signalisierte ich ihr, dass ich sie dafür nicht strafen würde, doch mein Blick blieb an ihrem Gesicht hängen.
Sie hatte wieder geweint. Helle Tränenspuren glänzten auf ihren Wangen, die im rötlichen Licht Kaluurs auch Blut hätten sein können. Caralisches, rotes Blut zumindest, sie selbst würde natürlich silbernes vergießen.
Es überforderte mich, sie so zu sehen. Sollte ich etwas dazu sagen? Oder lieber ignorieren? Ihr anbieten darüber zu sprechen?
Ja klar, weil sie mir dann auch ihr Herz ausschütten würde.
Aber was sollte ich dann sagen? Ich konnte nicht mit weinenden Frauen umgehen. Was machte man mit denen?
Gar nichts. In Ruhe lassen. Sich langsam zurückziehen.
Irgendwie schien mir das zu grob. Oder wäre ihr das lieber? Sollte ich das machen?
"Du solltest nicht hier draußen stehen, wenn ein Sommersturm am Aufziehen ist."
Ja. Fantastisch. Eine weinende Frau stand vor mir und ich redete über das Wetter. Gut, dass sie sich nicht trauen würde, sich im Nachhinein darüber lustig zu machen. Immerhin war ich der kalte, erhabene Prinz und sie die Dienerin.
Wortlos wandte sie sich von mir ab und wischte sich über das Gesicht. Mir fiel etwas ein, was ich sagen konnte, was weder peinlich noch unangemessen war.
"Das Lied, das du vorhin für Enlaya gesungen hast. Es war schön. Ganz anders als unsere Lieder", sagte ich und dachte zuerst, Kaira hätte mich über den lauten Wind nicht gehört. Doch dann drehte sie sich wieder zu mir. Die Haare wehten ihr über die Schulter, ihre Miene war so verschlossen, dass ich wusste, dass es sie anstrengte, sich nichts anmerken zu lassen.
"Habt Ihr die Geschichte erkannt?", fragte sie und lehnte sich an die Balustrade.
"Natürlich. Mein Zethru ist so gut wie dein Milwu", erwiderte ich. "Aber ihr Lazaliv erzählt sie anders."
"Ich weiß." Sie zog einmal die Nase hoch, was ich geflissentlich ignorierte. "Wir können unseren Kindern ja schlecht Eure falsche Version erzählen."
"Seit wann ist unsere Version falsch?" Ich drehte mich ebenfalls zur Balustrade. Die kühle Luft, die der Wind mit sich brachte, schien einmal durch meinen Kopf zu stürmen und den letzten Rest Müdigkeit zu vertreiben.
"Seit Caraya dort das Gute ist und Lazath das Böse."
"Bei euch ist es genau andersherum", stellte ich fest und beobachtete die vom Wind gepeitschten Bäume unten im Innenhof. Die Fackeln, die dort neben den Türen ins Innere des Palastes brachten, waren beinahe erloschen. Die Flammen tanzten hell und unruhig.
"Natürlich."
Ihre einsilbige Antwort brachte mich dazu, von den sterbenden Fackeln zu ihr aufzusehen. Von der Seite blickte ich sie an. "Woher willst du wissen, dass die lazalische Version die richtige ist?"
Sie drehte den Kopf zu mir und ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Vereint mit ihren um ihr Gesicht wirbelnden Haaren, den schneeweißen, halb entfalteten Schwingen und ihrem auf seltsame Art fesselnden Blick gab sie ein beeindruckendes Bild ab und ich ertappte mich dabei, wie ich sie unverhohlen anstarrte.
"Wir wissen es nicht", sagte sie schließlich, sah wieder nach vorn und das Bild war zerstört. "Carayas Geschlecht ist der Grund dafür, wieso Frauen in Thazanur benachteiligt sind. Die Frage ist, ob das Caraya oder Lazath das Böse macht."
"Wir Caraliv sind nicht die Bösen", sagte ich und sah hinab in den Innenhof. Die Fackeln waren beide erloschen.
"Das sagt Ihr mir. Einer lazalischen Dienerin, die in diesem Land bisher nichts als Hass und Demütigung erfahren hat."
Sie wandte sich ab und ging zurück in den Palast. Der Flügel mit der Eisenmanschette strich an meiner Wange entlang und hinterließ ein kribbelndes Gefühl auf meiner Haut und ein Unwohlsein in meiner Brust.
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