05 • 3 | Kaira
Stimmen weckten mich. Einen Moment brauchte es, bis ich sie zuordnen konnte, dann öffnete ich aber die Augen und richtete mich aus meiner zusammengekrümmten Position auf. Mein Rücken schmerzte und mein Fuß war eingeschlafen, doch dem schenkte ich keine Beachtung.
Azvar saß auf der Bettkante, eines seiner seltenen Lächeln auf dem Gesicht. Er sprach mit Enlaya.
Die Prinzessin war wach und lächelte ihr kindliches Grinsen, wirkte aber noch recht geschwächt. Noch immer sah ihre Stirn gerötet und heiß aus, aber sie zitterte kaum mehr und es war ein gutes Zeichen, dass sie ansprechbar war.
Für einen Moment beobachtete ich die Geschwister und konnte einen kleinen Stich der Eifersucht nicht verhindern. Was würde ich dafür geben, mich auch wieder so sorglos mit meinem Bruder zu unterhalten, wenn auch nur für wenige Minuten. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Wie es meiner Mutter ging. Was zuhause in Rokthan passierte. Wie es ihm Krieg stand.
"Iznashra."
Ich zuckte zusammen und sah auf. Sowohl Azvar als auch Enlaya sahen mich an und ich schüttelte kurz den Kopf, um die wehmütigen Gedanken zu vertreiben. "Entschuldigt. Ich war in Gedanken."
"Bringst du mir etwas zu essen?", fragte Enlaya. "Azvar sagt, ich darf das Bett nicht verlassen, aber ich bin hungrig. Bitte?"
Überrascht blinzelte ich sie an und vergaß, dass ich mich eigentlich bewegen sollte. Einen kurzen Moment brauchte ich, bis mir auffiel, was mich so irritiert hatte. Hatte sie gerade wirklich Bitte gesagt? Zu mir? Wieso sagte sie zu einer Dienerin Bitte? Hatte ich etwas verpasst? Verwirrt schüttelte ich den Kopf und stand auf. "Selbstverständlich. Wollt Ihr auch etwas, Ar Nazari?"
"Ja. Ich hatte seit gestern Abend nichts mehr", sagte Azvar.
Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Kaluur stand tief über dem Horizont und schickte seine roten Strahlen über das Land, während Athkazr aus dieser Perspektive nicht zu sehen war und schon höher über dem Palast stehen musste. Zu dieser Zeit des Sonnenwechsels waren die beiden Sonnen wieder weiter voneinander entfernt, Athkazr zog die Bahnen über den Himmel ein wenig schneller und ließ Kaluur nach Lasyenin - dem Fest zum Gleichstand der Sonnen - stetig weiter hinter sich. In einigen Wochen würde Athkazr bereits wieder untergehen, wenn Kaluur erst aufging, und damit die Kalten Tage markieren, die Zeit, in der die beiden Sonnen nie gleichzeitig am Himmel standen.
Jetzt, kurz nach der Hochphase des Sommers, die in diesem Jahr besonders heiß gewesen war, stand Athkazr schon weiter im Westen, wenn Kaluur erst aufging. Demnach konnte ich schließen, dass es gerade Nachmittag sein musste - Kaluur stand am Himmel, war aber gerade erst aufgegangen.
"Ihr hattet seit gestern Abend nichts mehr und habt die Nacht durchwacht?", fragte ich und sah wieder zum Prinzen. "Wieso habt Ihr mich nicht geweckt? Ich hätte Euch etwas gebracht."
"Du warst erschöpft und ich hatte keine Zeit zu essen." Er zuckte mit den Schultern. "Bring drei Portionen. Auch du musst hungrig sein."
Ich neigte den Kopf, knickste und ging durch die Bedienstetengänge in Richtung der Küchen. Es herrschte wie immer eine gute Stimmung unter den zahlreichen Köchen, auch als ich den Grund für mein Auftauchen erklärte und sie sich an die Arbeit machten. Wie immer begegneten mir abwertende Blicke, misstrauisches Gemurmel und abweisende Gesichter, doch inzwischen war ich so gewöhnt daran, dass es mir kaum mehr auffiel. Solange sie mich nicht provozierten, konnte ich damit leben.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis mir ein riesiges, schweres Tablett in die Hand gedrückt wurde und man mir die Tür aufhielt. Ich bedankte mich kurz und war dann trotzdem froh, den anderen Caraliv und ihren starrenden Blicken zu entkommen. Es stellte sich als recht kompliziert heraus, das Tablett die Gänge nach oben zu schleppen, bis ich am Krankenflügel angekommen war. Vermutlich hätten bei jedem anderen mindestens zwei weitere Bedienstete geholfen, nur bei mir wurde wieder auf mein Versagen gehofft. Doch ich wollte nicht nur selbst etwas essen und deswegen nichts fallen lassen, ich konnte mir auch vorstellen, dass sowohl Enlaya als auch Azvar am Verhungern waren.
Meine Arme brannten vom Gewicht des Tabletts, doch schließlich konnte ich es auf einem Tisch neben Enlayas Bett abstellen. Es war ein ausgiebiges Mahl für die Geschwister und ein Teller Eintopf für mich, vermutlich hatten die Köche ganz ausversehen das zugehörige Brot vergessen. Mein Appetit auf ein und dasselbe Gericht seit mehreren Tagen hielt sich zwar in Grenzen, aber ich nahm mir den Teller ohne mir etwas anmerken zu lassen und begann zu essen.
Azvar und Enlaya unterhielten sich, doch ich wollte nicht lauschen und meine Gedanken schweiften ohnehin immer wieder ab. Damals, als Najik krank gewesen war, hatte er tagelang im Bett liegen müssen, um sich zu erholen. Für den damals zehnjährigen Prinzen war dies die reinste Folter gewesen und ich hatte ihm stundenlang Geschichten erzählt, gesungen oder vorgelesen. Schon lange hatte ich meine Zeit nicht mehr mit solch belanglosen Dingen totschlagen müssen. Ich wusste auch nicht, wann mir das letzte Mal langweilig gewesen war, wenn ich nicht irgendwo herumstand, um dem Prinzen zu dienen. Die Arbeit von Dienern war um einiges härter, als ich es mir vorgestellt hatte, und ich bereute es inzwischen, meinen eigenen in Rokthan gegenüber immer so herrisch gewesen zu sein.
Trotzdem vermisste ich mein altes Leben. Ich vermisste es, für eine ganze Stunde in heißem Wasser zu liegen und mich massieren zu lassen. Ich vermisste es, nachts aus dem Bett zu steigen, um mich mit meinem Bruder zum Kämpfen zu treffen. Ich vermisste es, mit anderen Damen des Königshofes den neusten Klatsch auszutauschen. Ich vermisste es, in enge Korsetts gezwängt und mit neidischen Blicken der Frauen und starrenden Blicken der Männer belohnt zu werden, wenn ich ein prachtvolles, schönes Kleid trug. Und am meisten vermisste ich es, meine Schwingen auszubreiten und mich in die Lüfte zu erheben, den Staub der Erde hinter mir zu lassen und den kühlen Wind im Gesicht zu spüren, wenn die warmen Sonnenstrahlen meine Nase kitzelten.
Ich trug das Eisen nun schon für so lange Zeit, dass ich es kaum mehr spürte. Einen weiteren Versuch zu fliegen hatte ich nicht unternommen, ich wusste, dass es mich nur noch mehr frustrieren würde. Inzwischen waren meine Flügel auch nicht mehr so gepflegt und die Federn nicht mehr so geordnet wie früher. Mir fehlte schlichtweg die Zeit dafür und ohnehin war es angenehmer gewesen, wenn eine Zofe sich darum kümmert hatte und ich selbst nur hatte stillsitzen müssen.
Leise seufzend stellte ich meinen noch halb gefüllten Teller beiseite. Der Appetit war mir nun vollständig vergangen, auch wenn ich wusste, dass ich eigentlich mehr essen musste. Seit meiner Ankunft hier hatte ich stark abgenommen und ich merkte in den Duellen gegen Azvar, dass meine Kraft davon nicht unbedingt profitierte.
"Hast du keinen Hunger?"
Ich sah auf, als ich merkte, dass diese Worte an mich gerichtet waren. Die Augen der Prinzessin waren erwartungsvoll auf mich gerichtet. Das Hellblau mit dem dunklen Ring darum herum bildete einen Kontrast zum Schwarz ihres Bruders und Vaters und faszinierte mich. Ob Azvars Augen in Wirklichkeit ebenfalls Blau waren? Würde er mit blauen Augen weniger angsteinflößend aussehen? Wobei, eigentlich war er ja gar nicht angsteinflößend. Nicht immer zumindest. Nur wenn er wollte.
Kopfschüttelnd brachte ich mich zurück in die Realität. "Nein", beantwortete ich Enlayas Frage. "Ich fürchte, der Eintopf schmeckt etwas fade. Mein Appetit hält sich in Grenzen."
"Du kannst auch etwas von mir haben, wenn du möchtest", sagte Enlaya und hielt mir ihren Teller unter die Nase. "Das schmeckt gut."
Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, aber ich schüttelte den Kopf. "Das ist Eure Portion. Ihr müsst schließlich wieder gesund werden."
Sie nickte und nahm den Teller wieder zu sich. "Sag Du zu mir, bitte. Ich mag das nicht. Auch nicht, wenn man mich nicht Enlaya nennt."
Überrascht legte ich den Kopf schief und sah kurz zu Azvar, der nur mit den Schultern zuckte und einen Schluck Wein trank. "Natürlich", meinte ich dann. Mir wurde bewusst, wie anders Enlaya im Gegensatz zu mir war. Wir beide waren die Tochter eines Königs, doch sie unterschied sich deutlich von mir. Nie hätte ich einer Zofe erlaubt, mich zu duzen oder mich mit meinem Namen anzusprechen. Ich hatte auch nie zu einer Bediensteten Bitte gesagt. Schließlich hatte ich das volle Recht, ihnen Befehle zu geben, die sie ausführen mussten, auch ohne dass ich höflich zu ihnen war.
Mit einem Mal schämte ich mich für mich selbst. Vielleicht hatten die Caraliv ja doch recht und ich war eine arrogante, hochnäsige Prinzessin gewesen, die sich zu viel auf sich selbst einbildete.
"Deine Flügel sind schön."
Stirnrunzelnd sah ich auf, doch in Enlayas Miene war nichts von Hohn oder Spott zu sehen. Sie lächelte. Und das auch noch ehrlich.
"Danke." Unwillkürlich zog auch ich die Mundwinkel nach oben, während ich sie ansah.
Sie stellte den Teller neben sich auf den Tisch und ließ den Blick über meine Schwingen wandern. Dann streckte sie eine Hand aus. "Darf ich mal? Bitte?"
Lächelnd streckte ich den Flügel ohne Eisenmanschette aus und hielt ihn ihr näher entgegen. Enlaya strich mit den Fingern vorsichtig über die weißen Federn, zupfte die ein oder andere zurecht und war sichtlich fasziniert davon. Ich beobachtete sie dabei und, wie ich nach einigen Sekunden feststellte, Azvar ebenso. Sein Gesicht war unleserlich wie immer, doch solange er nichts sagte, sah ich keinen Grund aufzuhören.
"Hups."
Ich sah wieder zu Enlaya, die schuldbewusst dreinblickte und eine Feder lose in der Hand hielt. Ohne es zu wollen musste ich lachen, so verlegen und kleinlaut sah sie aus. Es tat gut, mal wieder zu lachen, etwas, was ich seit Wochen sicher nicht öfter getan hatte, als ich an einer Hand abzählen konnte.
"Es hat nicht wehgetan, das heißt, die war sowieso kurz vor dem Ausfallen. Kein Problem", sagte ich und Enlayas Gesicht hellte sich wieder auf.
"Darf ich die behalten? Schau mal, Luandr. Die ist toll!" Überflüssigerweise hielt sie die Feder ihrem Bruder unter die Nase. Azvar zögerte kurz und ich hatte schon Angst, er würde dem Ganzen hier ein Ende setzen, doch dann sah er ebenfalls belustigt aus und nickte bestätigend.
"Wenn Ihr - Du möchtest, natürlich", sagte ich schmunzelnd und Enlaya grinste breit, ehe sie von einem Gähnen unterbrochen wurde.
"Du musst schlafen", behauptete Azvar prompt und nahm ihr die Feder aus der Hand, legte sie aber auf den Tisch neben Enlayas Bett. "Ich muss sowieso noch arbeiten."
"Muss ich gar nicht", entgegnete die Prinzessin sofort. "Dann geh doch arbeiten, ich hab hier ja Gesellschaft. Sie wollte mir sowieso noch eine Geschichte erzählen."
"Wollte sie das?", fragte ich belustigt und sah zu Azvar. "Ihr könnt ruhig arbeiten gehen, Ar Nazari. Ich kümmere mich."
Der Prinz zögerte. Sein schwarzer Blick bohrte sich in meinen und ich hatte wie immer Mühe ihm standzuhalten. Obwohl er seit mehr als einem ganzen Sonnenumlauf wach war, sah man ihm keinerlei Erschöpfung an, was ich insgeheim beendruckend fand. Schließlich stand er auf und setzte sich wieder an seinen behelfsmäßigen Schreibtisch, um zu arbeiten. Enlaya grinste zufrieden und gähnte abermals.
"Vielleicht solltest du wirklich schlafen", schlug ich vor. "Damit du schneller wieder gesund wirst."
"Erzählst du mir etwas? Von den Lazaliv?", fragte sie und sah mich mit großen, neugierigen Augen an.
Eine kleine Weile überlegte ich und mir fiel ein Lied ein, das ich früher meinem Bruder gesungen hatte, wenn er nicht schlafen konnte. Es erzählte eine Geschichte, von der ich nicht wusste, ob Enlaya sie verstehen würde. Der Text war in Zethru verfasst, der Sprache der Lazaliv, und ich wusste nicht, wie gut die Prinzessin diese beherrschte.
Trotzdem entschied ich mich dafür. Ich zog die Vorhänge vor den Fenstern ein Stück zu, setzte mich dann wieder neben das Bett und begann schließlich zu singen.
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