03 • 2 | Azvar
Tausende Augenpaare starrten mich an. Erwartungsvolle Gesichter, die alle damit rechneten, eine weitere Rede voller zuversichtlicher Worte zu hören. Worte, die sie beglückwünschten den langen Winter gut überstanden zu haben, die ihnen versicherten, dass der Krieg zu unseren Gunsten verlief, dass wir ihre Sicherheit garantieren konnten, dass die Lazaliv bald kapitulieren würden.
Doch ich hatte mich entschieden, eine andere Rede zu halten. Eine ehrliche.
Ich hatte die Nase voll von schmeichelnden Worten, von zuversichtlichen Nachrichten, wenn in Wahrheit jeder merkte, dass das Land mit dem Volk litt.
"Bürger von Samalfar", begann ich mit lauter, tragender Stimme, sodass jeder Einzelne auf diesem riesigen Platz mich verstehen konnte. "Und all diejenigen, die von dieser Rede in der Mitschrift lesen werden. Der Winter hat uns lange in seinem Griff gehalten, doch nun werden die Tage wärmer und die Nächte milder. Auf den Feldern wird angesät, die letzten Vorräte werden verspeist. Wie immer wird Euch ein Paket an aufbewahrten Lebensmitteln zur Verfügung gestellt werden, sodass jeder, egal welcher Gesellschaftsschicht, heute Abend den Anfang des neuen Sonnenwechsels feiern kann."
Jubel war zu hören und ich lächelte, als würde ich mich darüber freuen, meinem Volk zu helfen. Als wäre ich gerade nicht so nervös, dass meine Hände zitterten. Als wüsste ich nicht genau, welche Auswirkungen meine nächsten Worte und Sätze haben würden.
Als die Stimmen verklungen waren, sprach ich weiter. "Wie jedes Jahr bringt Lasyenin die Gelegenheit für jeden Bürger und jede Bürgerin auf den neusten Stand des Krieges gebracht zu werden. König Amroth hat bereits einen Überblick über die Truppenverschiebungen, über unsere Gewinne und Hoffnungen gegeben. Sicher werdet ihr verzeihen, dass wir euch keine näheren Pläne weitergeben können."
Verständnisvolles Gemurmel war die Antwort auf diese Aussage, gleichzeitig spürte ich die Verwirrung, die gerade viele ergriffen hatte. Worüber würde ich reden, wenn nicht über diese Themen?
"Stattdessen werdet ihr nun erfahren, wie es wirklich aussieht. Viele von euch haben bereits jemanden im Krieg verloren. Seit Anbeginn der Zeit sterben sowohl Caraliv als auch Lazaliv in diesen Schlachten, in der Fehde, die wir alle weiter am Leben halten. Männer, Frauen und Kinder fallen Pfeilspitzen und Schwertern zum Opfer. Immer mehr Soldaten bilden wir aus, immer mehr Tote werden begraben, immer mehr Hinterbliebene weinen um ihre Geliebten."
Totenstille herrschte nun über den Platz. Man hätte eine Feder fallen hören können.
"Dem Volk wird stets erzählt, alles wäre gut. Unsere Vorräte reichen aus, wir haben genug Soldaten, der Krieg wird bald enden, die Lazaliv stehen kurz vor der Niederlage. Doch dem ist nicht so."
Ich konnte den Blick förmlich in meinem Hinterkopf brennen spüren, den schwarze Augen nun sicher nicht mehr von mir abwandten. Mein Vater hatte keine Ahnung gehabt, was ich sagen würde.
"Die Wahrheit ist: Beide Völker bekriegen sich bis in den Ruin. Wir haben genug Vorräte, um alle durch den Winter zu bringen, doch nur, weil ausreichend Soldaten getötet werden. Die Lazaliv sind uns im offenen Kampf überlegen. Eine Tatsache, die ich nicht gerne zugebe, doch jeder, der einmal ehrlich darüber nachdenkt, wird wissen, dass es stimmt. Unsere Stärke ist die Unterwanderung ihrer Truppen, der Guerilla-Kampf, die verborgenen Schlachten. Doch dies wissen auch die Lazaliv. Wir können uns keine Flügel wachsen lassen, das Problem, das uns von vielem abhält."
Die Stille hielt weiter an. Die Luft schien auf einmal um einiges schwerer geworden zu sein. Weniger davon erfüllte meine Lungen. Ich atmete tief ein, langsam wieder aus.
"Ihre Hauptstadt werden wir niemals einnehmen können. Zu hoch, zu verborgen liegt sie in den Bergen. König Zokaar weiß, was er tut, und er wird sich nicht töten lassen. Sollte uns dies entgegen aller Vernunft einmal gelingen, hat er einen ausreichend ausgebildeten Sohn, der seinen Platz einnehmen wird. Der Verlust der Prinzessin hat sie nicht geschwächt. Der Hass zwischen unseren Völkern brennt tiefer als jemals zuvor. Auch ich verachte die Flügelwesen mit ganzem Herzen. Intrigant und unehrenhaft nennen sie uns, doch sind sie die heimtückischen, machtgierigen Geschöpfe!"
Endlich hatte das Volk etwas gefunden, dem sie offen zustimmen konnten. Jubel brandete auf und verklang nur langsam wieder.
"Jedem Einzelnen von ihnen wünsche ich den Tod. Doch nicht den Angehörigen unseres Volkes. In den letzten drei Tagen allein wurden vierundsechzig Soldaten und Soldatinnen getötet. Vierundsechzig Kinder, die ein Elternteil verloren haben. Vierundsechzig Brüder und Schwestern, die ihre Vertrauten nie wieder sehen werden. Vierundsechzig Elternpaare, die ihre Kinder zu Grabe tragen müssen. Ein Dorf ist beim letzten Angriff der Lazaliv vollständig niedergebrannt. Mehrere Hundert Caraliv sind dabei ums Leben gekommen, doch nicht nur Soldaten. Kinder, Alte und Verletzte waren unter diesen zweihundertdreizehn Opfern. Ganze Familienstämme wurden ausgelöscht. Zwei Neugeborene und vier Kinder unter drei Sommern sind qualvoll in den Flammen erstickt."
Wütende Rufe waren nun zu hören, Hassbekundungen gegenüber der grausamen Lazaliv.
"Doch auch wir töten", fuhr ich fort, ohne darauf zu warten, dass die Menge sich von selbst beruhigte. "Zintabur, die lazalische Stadt nahe der Grenze. Unsere Truppen griffen vor zwei Tagen in tiefster Nacht an. Während wir zweiunddreißig verlorene Soldaten zählen, heben die Lazaliv ein Massengrab für die Bürger ihrer Stadt aus. Im Dunkeln sind sie mit ihren an den Tag gebundenen Augen wehrlos. Kinder haben ihre Eltern verloren, müssen traumatisiert und als Waisen in ein Leben im Krieg aufwachsen. Unzählige Zivilisten sind besitz- und heimatlos, stehen vor zerstörten Häusern und Vorratskammern."
Wieder glaubte ich, den Blick meines Vaters auf mir zu spüren. Doch er konnte mich nicht von meinen Worten abhalten. "Viele von euch mögen nun denken, dass die Lazaliv ein solches Schicksal verdient haben", fuhr ich fort. "Sie töten uns genauso, wie wir sie töten. Doch auch sie denken so über uns. Es wird eine Rache für den Angriff auf Zintabur geben. Caraliv werden sterben. Und wir werden uns dafür an den Lazaliv rächen. Dieser Kreislauf wird seit Jahrhunderten so fortgeführt. Milliarden an unschuldigen Bürgern sind gestorben. Unfassbar viele Kinder mussten ohne Eltern aufwachsen. Selbst ich verlor meine Mutter. Dieser Krieg ist für unzählige Trauernde, Waisen, Witwen und Witwer verwantwortlich. Zu beiden Seiten."
Wieder hatte sich eine drückende Stille über die versammelten Bürger gelegt. Ich schwieg einige Sekunden, um meine Worte sacken zu lassen.
"Ich weiß, dass dieses Töten kein Ende finden wird und doch kann ich nicht tatenlos dabei zusehen, wie Generation um Generation ihr eigenes Grab aushebt. Als Thronfolger der Caraliv ist es meine Aufgabe, mein Volk zu schützen und vor Leid zu bewahren."
Grimmig ließ ich den Blick über die Menge schweifen. Meine Nervosität war verschwunden, während ich gesprochen hatte. Eisige Ruhe hatte mich ergriffen, eine Taubheit gegenüber allem.
"Aus diesen Gründen habe ich mich dazu entschlossen, den Lazaliv ein Angebot zu machen. Eine Unterschrift muss vom König der Himmelsgeschöpfe gesetzt werden und niemals wieder wird ein Schwert im Krieg zwischen unseren Völkern erhoben werden."
Wieder wartete ich einige Sekunden. Die Gesichter der Bürger waren zu weit weg, als dass ich die Ausdrücke darauf hätte erkennen können. Es war mir auch egal. Es gab nur eine Miene, die ich jetzt sehen wollte.
Mit einem letzten Blick über die Menge wandte ich mich ab und sah zu meinem Vater. Sein Gesichtsausdruck war neutral, als hätte er als König selbstverständlich vom Inhalt meiner Rede gewusst.
In seinen Augen lag das dunkle Schimmern unbeherrschter Wut.
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