01 • 1 | Kaira
Knapp über den Bergen standen die beiden Sonnen, der rote Kaluur beinahe mittig vor der größeren, blendend gelben Sonne Athkazr, und schickten ihr Licht hinab in die Hauptstadt der Lazaliv. Warme, morgendliche Strahlen erreichten die versammelten Himmelsgeschöpfe im größten Hof des Palastes, doch niemand hatte Augen für das perfekte Flugwetter.
Die Blicke der Menge bohrten sich in meinen Rücken, doch ich beachtete sie nicht. Meine Augen fanden die des Königs. Er lächelte. Ich hatte Mühe, ihm keine rüde Grimasse ins Gesicht zu schneiden.
Das dumpfe Gefühl von Schmerz erreichte meine Sinne, doch ich sah weiterhin zu meinem Vater. Ich spürte, wie heißes Blut über meinen Rücken lief. Ich hörte, wie die Menge entsetzt aufschrie. Ich sah, wie der König sein Lächeln verschwinden ließ und eine erschrockene Miene aufsetzte. Es gefiel ihm, mich vor so vielen Leuten zu demütigen.
Neben König Zokaar stand meine Mutter. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck war nicht gespielt, doch sie würde sich nicht äußern. Ihr Platz war an der Seite des Königs, folgsam und untergeben.
Mein Bruder hatte seine Gesichtszüge besser unter Kontrolle, aber ich kannte ihn gut genug, um zu sehen, wie sehr auch ihn diese Situation mitnahm. Es schmerzte, ihn so aufgewühlt zu sehen, aber auch er würde sich nicht gegen den König auflehnen und dieses Schauspiel beenden.
Ich fuhr mit der Hand nach hinten auf meinen Rücken, der wie bei jedem lazalischen Kleid frei von Stoff war. Meine Finger ertasteten die länglichen Erhebungen neben meinen Schulterblättern, aus denen meine Schwingen sich entfalten konnten, die jetzt makellose Haut waren. Darunter erreichte meine Hand eine klebrige Feuchtigkeit. Als ich sie wieder hervorzog, war sie von schwarzem Blut bedeckt. Natürlich war mir klar gewesen, was ich sehen würde, trotzdem wurde mir schlecht.
Silbernes Blut war durch meine Adern geflossen und ich war stolz darauf gewesen. Stolz, ein Teil der Königsfamilie zu sein, die so edel und herrschaftlich über das Volk gebot. Obwohl ich unfassbaren Hass gegenüber meinem Vater verspürte.
Der König stand nun von seinem bequemen Sessel auf. Seine erhobenen Hände brachten mit einem Mal Schweigen über die Menge, die sich im Hof des Palastes versammelt hatte. Anspannung machte sich breit. Keiner konnte einschätzen, wie Zokaar über seine eigene Tochter urteilen würde.
Auch ich musste meine Ruhe nun spielen. Unauffällig wischte ich meine schwitzigen, mit schwarzem Blut verschmierten Hände an meinem Kleid ab. Heute Morgen noch war es ein prachtvolles, teures Gewand gewesen. Nun war der tiefe V-Schnitt im Rücken weiter eingerissen und der Stoff mit meinem eigenen Blut befleckt. Eine Schande für die schöne Arbeit meiner Zofen.
"Prinzessin Kaira", begann mein Vater mit weit tragender, gebieterischer Stimme. "Meine eigene Tochter. Älteste Erbin der Königsfamilie der Lazaliv." Er machte eine kleine Pause.
Ich konnte mir nur schwer ein Schnauben verkneifen. Als ob ich als Frau auch nur irgendetwas erben würde. Mein Bruder würde König werden. Ihm würde alles gehören. Ich wurde hier nur geduldet, als Objekt der Schönheit und des Reichtums, und ich würde verheiratet werden, um meinem Vater politische Vorteile zu erbringen. Älteste Erbin, dass ich nicht lachte.
Doch mein angespannter Blick richtete sich nun wieder auf Zokaar. Ich war neugierig, wie viel er erzählen würde. Sicherlich nicht die Wahrheit. Diese Blöße würde sich der König niemals geben.
"Ihr Blut zeichnet sie aus als Verräterin an der Krone, als Schande für meine Familie und als Geächtete der Lazaliv." Ich wusste, wie sehr es ihm gefiel, die Menge gegen mich aufzustacheln. Mit erhobenem Kopf sah ich ihn unverwandt an.
"Eine solche Demütigung für das edle Geschlecht der Lazaliv kann nicht weiter unter uns weilen. All ihr Hab und Gut wird ihr entwendet werden, niemand wird sie mehr meine Tochter nennen! Kein Erbe wird sie erlangen, ist sie nun kein Teil mehr der Königsfamilie! Eine Verstoßene, eine Verräterin ist sie und als solche soll sie Thazanur für immer verlassen!"
Für einen Moment war es still, dann erinnerte sich die Menge daran, dass der König Zustimmung erwartete. Anerkennende Rufe wurden laut, doch ich hörte das erschrockene Raunen, das die lauten Stimmen begleitete. Eine Prinzessin, die aus ihrem Land verstoßen wurde. Die Leute würden sich freuen. Solch diskussionsbereite Vorfälle geschahen nicht jeden Tag.
Selbstverständlich war mir klar gewesen, dass er sich irgendetwas ausgedacht hatte, was mich schocken würde. Er hatte mich verbannt. Einfach so hatte er mir alles weggenommen, was ich besaß. Und als netter Nebeneffekt nahm er mir auch noch jede Möglichkeit, irgendwem zu erzählen, woher ich das schwarze Blut hatte.
Dieses Geheimnis würde bei meinem Vater, meiner Mutter und mir bleiben. Königin Ithana würde sich nicht trauen, sich so gegen ihren Gatten aufzulehnen. Mit angstgeweiteten Augen stand sie neben Zokaar und starrte mich an.
Ich versuchte mich an einem Lächeln und scheiterte kläglich. Mit einem Mal nahm ich wahr, dass meine Hände zitterten und von kaltem Schweiß bedeckt waren. Hastig verbarg ich sie in den Falten meines Kleides.
"Legt ihr das Eisen an! Noch vor dem Sonnenuntergang soll sie nach Arnarith gebracht werden!", fuhr König Zokaar fort.
Entsetzen durchfuhr mich. Das konnten sie nicht machen. Das würde mir die Freiheit nehmen, die ich so schätzte, ohne die ich im Trubel des Palastes ertrinken würde. Ich schluckte und drehte mich zu zwei auf mich zukommenden Soldaten um. Sie trugen eine Vorrichtung aus Metall. Das Eisen glänzte in den Strahlen der beiden Sonnen. Es war nun so still im Hof, dass man das Rasseln der daran hängenden Kette deutlich vernehmen konnte. Jeder der Soldaten trug zusätzlich eine Zange bei sich.
Schon öfter hatte ich zugesehen, wie die Eisenmanschette an die Flügel eines Lazalivs angelegt wurde. Daher wusste ich, dass es schmerzhaft sein musste. Von den Gesprächen nach einem solchen Urteil war mir klar, dass dieses Eisen die größte Demütigung war, die man einem Wesen wie mir antun konnte.
"Zeig deine Flügel", sagte einer der Soldaten, nicht ganz davon überzeugt, seiner Prinzessin einen Befehl zu geben. Das Zittern seiner Stimme war deutlicher zu hören, als es ihm vermutlich lieb war. Für einen Moment überlegte ich, ob ich irgendwie vermeiden könnte, die Eisenmanschette an meinen Flügeln zu spüren. Doch wenn ich ihm ohnehin nicht entgehen konnte, wollte ich meine Freiheit wenigstens mit Würde aufgeben.
Mit dem Blick zu Boden breitete ich meine Schwingen aus. Über fast zwei Meter zu beiden Seiten spannten sich weiße Federn, die längsten beinahe dreißig Zentimeter lang. Ich war stolz auf meine Flügel. Sie waren groß und edel und ihre Farbe zeichnete mich als Frau von hoher Geburt aus. Der sanfte Wind ließ einige der Federn erzittern und wehte mir die rotblonden Haare über die Schultern nach hinten. Stolz hob ich das Kinn und sah den beiden Soldaten entgegen.
Sie tauschten einen Blick. Unwillkürlich stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Selbst jetzt, nach dieser Demütigung, konnte ich eindrucksvoll auftreten. Doch ein Räuspern des Königs erinnerte die Soldaten an ihre Aufgabe.
Zu zweit näherten sie sich mir und legten das flache, längliche Metallstück auf den obersten Knochen meines rechten Flügels. Mit den Zangen brachten sie es in Form, sodass es sich eng um den weißen Flaum an dieser Stelle schloss. Mit einem Hammer trieben sie einen Bolzen durch die sehnige Haut zwischen zwei Knochen und zogen die Kette hindurch, die sie dann auf der anderen Seite der Eisenmanschette befestigten.
Schwarzes Blut färbte die weißen Federn. Das von den Sonnen gewärmte Metall brannte in meinem Fleisch. Ich gab keinen Laut von mir, senkte nicht den Blick. Es schmerzte, war jedoch nichts im Vergleich zu den Qualen des gestrigen Abends.
Mit einem Schaudern erinnerte ich mich zurück an das Gefühl von kochendem Blut in meinen Adern, ein schwarzes Herz, das glühendes Eisen durch meinen Körper trieb. Es war nur eine Minute gewesen, bis jeder Tropfen Blut einmal durch mein Herz gelaufen war. Doch die Sekunden hatten sich in die Länge gezogen und waren mir vorgekommen wie die Unendlichkeit. Lebhaft stand das Bild meiner dunkel verfärbten Haut vor meinen Augen, die nun nicht mehr blass und schimmernd war. Noch immer schmerzten meine Gliedmaßen bei der Erinnerung an diese endlose, qualvolle Minute, in der mein Blut sich schwarz verfärbt hatte.
Und mein Vater hatte daneben gestanden und sich an meinem Leid erfreut. Genugtuung hatte ihn erfüllt, als ich zuckend und voller Qualen am Boden gelegen hatte. Meine Mutter hatte geweint, leise und unauffällig. Ich hatte ihr nicht helfen können.
Auch jetzt lächelte der König. Die Soldaten hatten ihre Aufgabe vollendet und zogen sich zurück, froh, dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu entkommen. Ich blickte zur Seite.
Das glänzende Metall bedeckte die kleinen weißen Federn auf dem Knochen, nahe genug am Körper, dass ich selbstständig nicht genug Zugriff darauf haben würde, um es zu entfernen. Die Kette, die einmal durch meine dort empfindliche Haut getrieben worden war, bot die endgültige Sicherheit, dass ich mich nicht selbstständig wieder in die Freiheit entlassen konnte. Das Eisen auf meinen Schwingen war so schwer, dass es mich vom Fliegen abhalten würde. Sobald meine Füße den Boden nicht mehr berührten, würde es mich aus dem Gleichgewicht reißen.
Meine edlen, schneeweißen Flügel waren gestutzt wie die eines niederen Nutztieres.
Angst durchfuhr mich, als mir klar wurde, dass ich damit ausgeliefert war. Ich konnte nirgendwo mehr hin. Nicht mal die Hauptstadt unseres Reiches konnte ich so verlassen, war sie doch hoch in den Bergen neben einem riesigen See gelegen, ohne Flügel unmöglich zu erreichen.
Doch ich würde sie verlassen müssen. Ich war eine Verbannte, eine Verstoßene. Thazanur, mein Reich, das Herrschaftsgebiet meines Vaters. Das Land, das ich zu lieben gelernt hatte. Ich musste es für immer hinter mir lassen.
Nach Arnarith würde ich geschickt werden. Das Königreich der Caraliv, der Gestaltwandler, der Lügner und Betrüger. Meine Identität würde ich nicht verbergen können. Das Eisen an meiner Schwinge verhinderte ebenfalls, dass ich sie verstecken, in den Körper zurückziehen konnte. Jeder der Caraliv würde mich als Lazaliv erkennen. Ich konnte darauf hoffen, dass sie mich schnell töten würden.
Ich wehrte mich nicht, als mich drei Soldaten in ihre Mitte nahmen und mich abführten. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen, flugunfähig wie ich war und umgeben von Leuten, die meinen Vater unterstützten. Mein Blick wanderte zu meiner Familie.
Noch lange blieb mir das trauernde Gesicht meiner Mutter vor meinem inneren Auge stehen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro