14. Türchen
„Andreas! Bitte warte", hörte ich Cornels Stimme hinter mir. Doch ich dachte gar nicht erst daran zu warten. Ich hatte keinen Grund dazu. Was wollte er mir schon sagen? Sich dafür entschuldigen?
Das würde das auch nicht mehr wett machen.
Dafür war das bedrückende, grausame Gefühl, das seine Freunde ausgelöst hatten, noch zu präsent.
„Bitte", hörte ich Cornel noch, ehe ich auch seine Schritte auf dem frischen Schnee knirschen hören konnte. Er musste joggen, andernfalls würde er mich nicht einholen können.
Kurz machte ich mir darüber Gedanken, dass es viel zu gefährlich war, bei diesem Wetter und bei diesem Untergrund zu joggen, aber Cornel war alt genug, dass er keineLektion von mir brauchte. Er musste das schon selber wissen.
Im nächsten Moment war es jedoch ich, dem es plötzlich die Beine wegzog. Wie Cornel vorhin begann ich kräftig mit den Armen zu rudern, wodurch ich es gerade noch so verhindern konnte, auf meinen Hintern zu fallen, ehe ich aus dem Nichts das Übergewicht bekam und stattdessen bergab nach vorne fiel.
Aus Reflex kniffen sich meine Augen fest zusammen, jetzt konnte mich nichts mehr retten, ehe ich mich irgendwie noch mit meinen Armen abfangen konnte, bevor ich mit dem Gesicht voran auf dem Boden gelandet wäre.
Daraufhin schoss aber ein beißender Schmerz durch meine Schulter, der mit glatt einen Schrei entlockte. Ich krümmte mich zusammen, griff automatisch nach meiner schmerzenden Schulter und kümmerte mich nicht weiter darum, dass ich auf dem kalten Schnee saß und sich meine Jeans dabei langsam mit Nässe vollsog.
„Andreas!", entkam es Cornel panisch, der im nächsten Moment an meiner Seite angekommen war und hilflos auf mich hinunter sah. „Tut dir was weh?", fragte er und hielt seine Hände in die Nähe meiner Schultern, ohne mich dabei zu berühren.
Anstatt zu antworten, kamen nur Schimpfwörter über meine Lippen.
„Dein Arm?", versuchte Cornel zu verstehen, was passiert war, während ich schwerfällig von meinen Knien auf meinen Hintern rutschte und dabei die Zähne fest zusammenbiss.
„Shit... Ich glaube, mein Schlüsselbein... Verdammte scheiße!"
Eigentlich war ich mir sogar ziemlich sicher, dass mein Schlüsselbein gebrochen war. An den Schmerz konnte ich mich noch sehr gut durch meinen Fahrradunfall in der neunten Klasse erinnern, wobei ich es geschafft hatte, mein Schlüsselbein sogar gleich an zwei Stellen zu brechen. Im Gegensatz zu heute war es aber das rechte. Warum jetzt ausgerechnet das linke brach, obwohl das rechte bereits Schäden aus der Vergangenheit hatte, konnte ich nicht nachvollziehen.
„Gebrochen?", atmete Cornel schockiert und kniete sich zu mir hinunter, ehe er vorsichtig erst den Reißverschluss meiner beziehungsweise seiner Jacke öffnete und sie dann etwas zur Seite zog, um es sich anschauen zu können.
Dann murmelte er ein leises „Scheiße".
„Kannst du aufstehen? Ich fahre dich ins Krankenhaus. Das sieht richtig übel aus."
„Ganz toll", fluchte ich ohne auf seine Frage zu antworten und kämpfte mich im nächsten Augenblick mit Cornels Hilfe auf die Beine. Jetzt mit Cornel ins Krankenhaus zu fahren, war natürlich das Beste, das mir hätte passieren können.
Der Abend war ja nicht davor schon deprimierend genug.
„Geht's?", fragte der Schauspieler hörbar angespannt, während er seinen Arm um meine Taille legte, um mir beim Gehen zu helfen. Jetzt ein weiteres Mal auszurutschen wäre wahrscheinlich katastrophal.
„Nein!", antwortete ich nur bissig und versuchte die aufkeimenden Tränen weg zu blinzeln, was aber leider nur mäßig Erfolg hatte. Die erste kugelte recht bald über meine kalten Wangen, wodurch sich der anhaltende Wind noch kälter anfühlte.
Am liebsten hätte ich mich gerade in Cornels Arme gekuschelt, um dort etwas Schutz vor dem Wetter und meinen Schmerzen zu finden.
Da das aber nichts bringen würde, hievte ich mich neben den Schauspieler durch den mittlerweile wirklich hohen Schnee und hoffte dabei innigst, dass sein Auto nicht zu weit wegstand. Der Schmerz brannte höllisch und breitete sich langsam in meinem ganzen Körper aus, ohne dass mir davon warm werden würde. Ich fror plötzlich stärker als zuvor, obwohl mein Körper gleichzeitig vor Adrenalin zitterte.
Cornels Arm um meine Taille und seine Hand, die meinen unverletzten Arm am Ellenbogen hielt, fühlten sich viel zu gut an. Trotz der Schmerzen wurde mein Körper wärmer und für einen Augenblick war ich wirklich froh, dass er da war.
Vielleicht war es doch gar nicht so schlecht, dass er mir doch noch gefolgt war.
Ich hoffte einfach nur, dass er nicht zeitnah ein Gespräch mit mir anfangen wollte. Gerade war ich ganz und gar nicht in der Lage auch nur irgendein Gespräch zu führen, geschweige denn eines über den heutigen Tag.
Tatsächlich kamen wir überraschend schnell bei Cornels Auto an, der den ganzen Weg über seinen Mund gehalten hatte. Selbst als er mir auf den Beifahrersitz half, sprach er kein Wort.
„Sitzheizung?", war dann das erste, das von ihm kam, als er schon längst das Fahrzeug angelassen hatte. Ich antwortete ihm nicht, dafür war ich gerade viel zu sehr im Schmerz gefangen, aber das Zittern meines Körpers sprach wohl für sich, denn es dauerte nicht lange, da spürte ich, wie sich der Sitz langsam erhitzte.
Auch das Innere des Wagens erwärmte sich relativ schnell, wodurch mein Körper zumindest in dem Aspekt etwas zur Ruhe kommen konnte.
Der Schmerz wurde dadurch aber leider nicht gemildert.
Cornel bemühte sich schnellstmöglich ins Krankenhaus zu kommen, ohne dabei durch die Schneemassen einen Unfall zu bauen. Dementsprechend lange dauerte der Weg leider auch, bis wir endlich auf dem Parkplatz ankamen.
„Den Rest schaffe ich alleine."
„Ich begleite dich zumindest noch mit rein", beharrte Cornel jedoch und stieg aus der Fahrertür, bevor ich mich darüber aufregen konnte. Spätestens beim Gurt brauchte ich aber sowieso schon wieder Hilfe, weshalb ich doch recht froh war, als Cornel gleich an der Beifahrertür auftauchte.
Sein herber, süßer Duft stieg mir wieder deutlich in die Nase, als er sich über mich hinweg lehnte, um meinen Gurt öffnen zu können. Dabei konnte ich nicht anders als, hoffentlich, unbemerkt tief einzuatmen und ihn erneut abzuspeichern.
Trotz dem Geschehen in diesem Stüberl wickelte mich sein Geruch sofort erneut um den Finger und entlockte mir beinahe ein Seufzen.
Warum musste das vorhin nur so schrecklich schief gelaufen sein?
Auch auf den Weg bis in die Notaufnahme unterstützte mich Cornel beim Gehen, bis er mich netterweise sogar am Terminal anmeldete. Mit einem gebrochenen Schlüsselbein musste ich jedoch einen Augenblick warten, weil es wohl noch Menschen gab, die stärkere Schmerzen hatten. Was zwar völlig legitim war, für mich, dessen gesamter Körper mittlerweile vor Schmerz brannte, aber gerade nicht nachvollziehbar war.
Wenn sie mir wenigstens derweil ein Schmerzmittel geben würden, dann hätte ich auch kein Problem mehr mit der Wartezeit.
„Setzt dich hier hin", murmelte Cornel und eilte kaum dass ich saß zu einem nahestehenden Wasserspender, von dem er mir einen Papierbecher brachte.
„Ich habe keinen Durst", murrte ich nur und lehnte mich schwerfällig auf dem unbequemen Plastikstuhl zurück. Wie lange muss ich bitte noch warten?!
„Trink zumindest einen Schluck. Das beruhigt die Nerven", wisperte Cornel mir zu und ließ sich auf dem Stuhl neben meinem nieder.
Für einen kurzen Moment realisierte ich mit klarem Kopf, dass Cornel die Sorge regelrecht ins Gesicht geschrieben hatte und er sich nervös fast dauerhaft auf der Unterlippe herum biss. Gleichzeitig wippte sein Bein aufgeregt auf und ab.
Allem in allem sah er aus, als würde er gleich verzweifeln.
Der selbstbewusste, überhebliche Cornel war gerade sehr weit gefehlt. Neben mir saß der schüchterne, nervöse Cornel, den er mir vorhin schon einmal gezeigt hatte.
Ob seine Kollegen diese Seite von ihm auch kannten? Oder kannten sie nur den Schauspieler, der kein Problem damit hatte, intensiv und vor allem herablassend über sein Sexleben zu reden?
„Gib schon her", murmelte ich und zischte im nächsten Moment auf, als ich meinen Arm etwas zu ruckartig bewegte. Erneut purzelten einige Schimpfwörter über meine Lippen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich auch nur ein Schimpfwort aus deinem Mund hören würde", schmunzelte Cornel und führte den Becher plötzlich an meine Lippen. „Hier. Trink."
Obwohl ich erst protestieren wollte, nahm ich mit seiner Hilfe ein paar wenige Schlücke Wasser und seufzte leise, als sich die Flüssigkeit tatsächlich angenehm in meinem Körper verbreitete.
„Du musst nicht warten", murmelte ich dann und lehnte meinen Kopf gegen die Wand in meinem Rücken. „Wer weiß, wie lange das dauert."
Erst jetzt nahm ich meine Umgebung ein wenig wahr. Im Wartebereich saß nur eine andere Frau, die sich anscheinend in die Hand geschnitten hatte und die Blutung mit einem Geschirrtuch versuchte zu stoppen.
Leise Weihnachtsmusik dudelte und von der Decke hingen zahlreiche, silber glitzernde Sterne, die das Licht der Neonröhren widerspiegelten. In einem Eck stand sogar ein geschmückter Weihnachtsbaum und bei der Auslage der Zeitschriften stand ein kleiner, fröhlicher Weihnachtsmann.
„Ich warte", antwortete Cornel jedoch sofort und ohne Umschweife. „Irgendwie musst du ja hier wieder wegkommen."
„Das schaff ich schon." Wer weiß, wann ich hier überhaupt wieder rauskommen würde. Bei meinem ersten Bruch damals vor über zehn Jahren musste ich operiert werden, weil ich es mir so kompliziert gebrochen hatte. Damals hatte ich mich wie der Terminator gefühlt, weil ich gut zwei Jahre lang mit einer Metallplatte in meiner Brust herumgelaufen war.
Ob diesmal eine Operation nötig war, konnte ich nicht einschätzen. Ich hoffte einfach nicht, andernfalls würde ich hier nämlich nicht mehr so schnell rauskommen.
Doch Cornel schüttelte nur den Kopf und lehnte sich ebenfalls zurück.
„Ich weiß, dass das der wahrscheinlich schlechteste Zeitpu–", fing er an. „Ich möchte nicht reden, Cornel", ging ich aber gleich dazwischen.
Gerade hatte ich ganz andere Dinge im Kopf.
„Ich möchte mich trotzdem erklären. Nicht jetzt, aber sobald es dir besser geht, ja? Ich möchte das nicht einfach so stehen lassen." Cornel klang beinahe verzweifelt und es hörte sich wirklich so an, als wollte er das aus der Welt schaffen.
Gab es vielleicht wirklich eine einfache Erklärung? Konnte eine Entschuldigung, eine Erklärung alles wieder gut machen?
Neben meinen höllischen Schmerzen, war das ekelhafte Bauchgefühl noch nicht abgeklungen. Es war deutlich in den Hintergrund gerutscht, aber weg war es trotz Bruch noch immer nicht.
Und das bedeutete etwas.
Ich wollte kein nachtragender Trauerkloß sein, ihm aber einfach auf der Stelle zu verzeihen, konnte ich auch nicht.
Dass er einfach mit eingestiegen war, ohne mich irgendwie vor seinen Kollegen zu verteidigen oder sie zumindest in die Schranken zu weisen, war für mich keine Kleinigkeit. Das belastete mich sehr und das obwohl zwischen uns bisher eigentlich nichts passiert war. So sehr hatte Cornel mich schon in seiner Hand, so sehr hatte ich mich bereits emotional an diesen mir eigentlich fremden Mann gebunden.
Dafür konnte Cornel nichts, das war meine eigene Schuld.
„Wenn es mir wieder besser geht", seufzte ich und schickte im selben Moment ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich einfach schnell Schmerzmittel bekam.
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