Vorwort
Adriano - Gegenwart
Ich sehe dabei zu, wie der salzige Meerwind den Rauch meiner Zigarette in die kühle Nacht weht. Mein Blick richtet sich auf die Silhouette der dunklen Stadt, deiner Stadt, die sich vor mir bis an den Horizont erstreckt und in das nächtliche Schwarz des Atlantiks ausläuft. Ich lasse meine Gedanken durch das seichte Geräusch der am Pier brechenden Wellen mitreißen.
Ihr ruhiger Atem hinter mir in meinem Schlafzimmer beruhigt meinen eigenen, wenn ich wie heute und so viele Nächte zuvor nicht schlafen kann. Meine Hand legt sich auf das verzierte Geländer aus Marmor. Direkt unter mir ertönen die leisen Stimmen der Hausmädchen, die auf der Terrasse das Abendessen aufräumen und den geräumigen Sitzbereich unter den Olivenbäumen herrichten. Fackeln erhellen den Garten meiner Villa.
Erneut hebe ich meinen Blick über den großen Brunnen, der von dunklen, steinernen Rabenköpfen verziert wird. Hinüber zum Ort meiner Kindheit, den ich aus der Ferne sehen kann. Schon immer verfolgen mich diese Raben, die ebenfalls das Schild der Metzgerei meines Vaters zierten. Die Raben, die auch ihn seit seiner Kindheit verfolgt hatten.
Amadore - 20 Jahre früher
Seit fünf Uhr morgens bereite ich in dem Hinterhof meiner Metzgerei alles nötige vor. Die Messer wurden gesäubert, es wurde gefegt, meine Frau hat mir eben einen Kaffee gebracht und sieht nach meinem Sohn. Ordnung ist das A und O, wenn es um ein strukturiertes Arbeitsumfeld geht. Ohne ein strukturiertes Arbeitsumfeld, kann auch kein Leben eine Struktur annehmen. Erst recht nicht, wenn man plant, ein Leben zu nehmen.
Das werde ich meinem Sohn heute beibringen.
Eine Lektion pro Tag. So hat es mir bereits mein Vater nahegelegt. Es hat mir nie geschadet und Andriano, der sich schon in seinem Alter mehr mit Büchern als mit harter Arbeit beschäftigt, auch nicht. Ich habe dafür gesorgt, dass er lernt, anstatt mit den Nachbarskindern durch die Straßen zu ziehen. Dessen Eltern haben ohnehin keine Kontrolle über ihre Bälger. Sie verwahrlosen in den kaputten, engen Gassen Neapels. Aber nicht mein Sohn, der gerade von Rosaria an den Schultern zu mir geführt wird.
Die Sonne prallt erbarmungslos auf uns hinab, hier gibt es keinen Schatten. Ich trinke den letzten Schluck meines Kaffees und deute meiner Frau mit einem Kopfnicken, wieder zurück ins Haus zu gehen. Sie tut es. Gut so. Sie tut immer, was man ihr sagt, auch dafür habe ich gesorgt.
Adrianos grüne Augen schauen ernst zu mir hoch, ich erkenne eine gespannte Erwartung in seinem Blick. Das mag nicht unbedingt einer freudigen Erwartung entsprechen, denn er bereitet sich mental darauf vor, was ich ihm heute zu sagen oder zu zeigen habe. Also winke ich ihn kurzerhand mit mir mit und trete meinen Weg in die Stallung hinter unserer Metzgerei an. Sie ist klein und sporadisch ausgestattet, eben der letzte Aufenthaltsort des Viehs, das von den umliegenden Bauernhöfen ein Mal im Monat geliefert wird.
Die Lebensmittelknappheit hat unsere Provinz genauso erschüttert wie den Rest Italiens. Wir haben viele Männer verloren, die meisten Metzgereien in der Umgebung haben geschlossen und es ist auch nicht mehr genug Vieh vorhanden, um uns alle zu ernähren. So kam es, dass die Lieferungen der Tiere lange Zeit ausblieben und wir bis heute wenige Aufträge haben. Umso wichtiger ist der, den ich heute erledigen muss. Für unser aller Überleben.
In dem aus ausschließlich grauen Stein bestehenden Raum befindet sich eine mit Stroh ausgelegte Box. Links davon hängen meine Messer, die ich heute Morgen bereits geschärft habe. Zu unserer Rechten ist ein Abfluss in den Boden eingelassen, zwei Fleischerhaken sind an der Decke angebracht und eine Werkbank steht an der Wand bereit. Ich winke meinen Sohn, der mir etwas zu langsam folgt, nachdrücklicher mit und schließe die massive, dunkle Holztür hinter uns. Durch ein Fenster fällt Licht, ich schalte noch eine Glühbirne dazu ein, die nackt in der Mitte des Raumes an einem Kabel hängt. Gestern Nacht hat Roberto, einer der letzten Viehbauern aus Qualiano, mir eine Kuh geliefert, welche nun in der Box vor uns steht. Ihre weit aufgerissenen Augen starren uns an und ihr Gebiss klappt kauend auf und ab.
Ich beobachte aus dem Augenwinkel, wie Adriano Anstalten macht, zu ihr zu gehen, wahrscheinlich um ihre braune Schnauze zu streicheln. Ich packe ihn hart am Arm, woraufhin er zusammenzuckt. Diese Art von Ängstlichkeit ist es, die mir in den letzten Wochen ins Auge gestochen ist und ihn in seinem späteren Leben einschränken wird. Mein Sohn wird sich nicht selbst im Weg stehen, dafür werde ich sorgen. Daher halte ich ihn zurück, gehe in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu reden und streiche mit meiner viel zu großen Hand eine hellbraune Haarsträhne aus seiner Stirn.
"Siehst du diese Kuh Adriano?", frage ich ihn ruhig. Meine Stimme ist gelassen, tief und hüllt den Raum ein. Der Junge von neun Jahren schaut zu mir hoch, dann zu der Kuh und nickt, als ich seine Aufmerksamkeit mit meinen Worten erneut auf mich ziehe:
"Hör zu Junge. Die Lektion des heutigen Tages, ist besonders wichtig. Also pass gut auf", beginne ich, "diese Kuh ist das, was uns am Leben erhält. Manchmal muss man, um selbst am Leben zu bleiben, andere Leben hintenan stellen. Verstehst du, was ich dir sage, Junge?"
Er öffnet leicht seine Lippen und ich weiß, dass er jetzt nichts Gescheites antworten würde. Er wüsste noch nicht, wie er sich dazu ausdrücken kann und das gibt mir die Gewissheit, dass ich ihm diese heutige Lektion früh genug beibringe.
"Ich musste so viele Leben nehmen, um mein eigenes, das deiner Mutter und deines zu sichern. Und früher oder später wirst du das auch tun müssen. Du musst lernen, dass der Tod zum Leben gehört. Zum Überleben. Ich hatte viel Pech. Mein Vater hat es mir nicht so beigebracht, ich musste es an der Front lernen. Erinnerst du dich, wie man ein Messer hält? Ich habe es dir gezeigt, als wir letzten Monat die Ziege zerlegt haben."
Adriano, der mich mit seinen großen Augen anstarrt nickt lediglich. "Antworte mir", helfe ich ihm auf die Sprünge.
"Ja, Vater", kommt zittrig aus seinem Mund. Ich nicke zu den Messern. "Geh und nimm dir das, mit dem roten Griff", weise ich ihn an, richte mich auf und begebe mich, während ich meinen Sohn machen lasse zu der Box. Dort beginne ich die Kuh mit Halftern zu fixieren. Mein Sohn muss lernen, Aufgaben mit einem anständigen Maß an Eigenverantwortung zu übernehmen. Er hat mich nicht enttäuscht, als er mit dem roten Messer, dessen Klinge zu Boden zeigt vor mir steht. Da ich erkenne, dass er noch nicht wirklich weiß, was er nun damit anfangen soll, nehme ich es ihm vorerst ab. Als ich die Box öffne, wird das Tier unruhig.
"Wir müssen uns jetzt beeilen, sonst quält sie sich zu lange. Und das wollen wir doch nicht, oder?", frage ich ihn. Denn das ist es nicht, was wir brauchen. Gequältes, schlecht geschlachtetes Fleisch fällt bei den Kunden meist negativ auf. Adriano nickt und ich lege ihm wieder das Messer in die Hand, ohne es selbst loszulassen.
"Um sie sauber ausbluten zu lassen", fahre ich fachmännisch fort, während meine andere Hand ungefähr dorthin zeigt, wo der Schnitt angesetzt werden muss, "musst du unbedingt die richtige Stelle treffen. Es ist sehr wichtig, was ich dir jetzt erzähle, Adriano. Hör mir gut zu."
Im Nachhinein bin ich froh, dass ich das Tier mit einer weiteren Schlaufe fixiert habe als sonst, denn die Unruhe der Kuh überträgt sich auf Adriano. Er atmet schnell und ich spüre, wie seine Hand zittert, also halte ich sie fester. "Es muss schnell und mit viel Kraft passieren. Kannst du das, Adriano? Enttäusche mich nicht."
Wieder nickt dieses Kind. Ich packe seine Hand fester.
"Ja, Vater", antwortet er mit gebrochener Stimme. Das erste Mal ist es nie leicht, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber beim nächsten Mal wird es besser und umso früher das erste Mal für ihn ist, desto schneller wird er sich an die Realität gewöhnen.
"Perfekt. Dann stoßen wir auf drei zu, hast du gehört?", in den Augen meines Sohnes schwappen nun die Tränen über. Das wiederum lässt meinen Blutdruck in die Höhe steigen. Es ist noch gar nichts passiert und Adriano kann sich schon jetzt nicht zusammenreißen. Noch fester packe ich seine Hand, die das Messer hält. Er wimmert und ich beginne zu zählen, "Eins, zwei" und bei der Drei steche ich zu. Das Blut spritzt in unsere Gesichter und die Kuh beginnt zu schreien und windet sich in den festgezurrten Riemen. Ich hätte wissen müssen, dass mein Sohn es nicht schaffen wird. Die Kuh bricht nicht in sich zusammen, weil der abrupte Abfall des Blutdrucks nicht präzise genug herbeigeführt wurde. Anders gesagt, war der Schnitt weder tief genug, noch an der richtigen Stelle. Ich schubse diesen Nichtsnutz beiseite, nachdem ich mir das Messer aus seiner Hand gegriffen habe und richte mich auf.
"Wie ich es erwartet habe Adriano. Es war mir klar, dass du mich wieder enttäuscht." Ich spüre, wie die Wut meinen Körper erhitzt. Das Kind sieht zu Boden und schluchzt:
"Heulen bringt dir jetzt auch nichts mehr. Sieh was du angerichtet hast, guck hin", brülle ich, denn er muss sehen, was er getan hat. Die Kuh windet sich, tritt und schreit mit aufgerissenen, braunen Augen während sich eine Blutlache zu ihren Hufen sammelt. Mein Sohn schüttelt den Kopf und ich packe mit meiner Hand seine Wangen, um ihm zu zeigen, was er getan hat. "Du sagtest du willst mich nicht enttäuschen, wieso tust du es denn jedes Mal?", ich weiß, dass ich für dieses Tier auf keinen Fall den vollen Kaufpreis bekommen werde, wenn die ersten Klagen über sehniges, hartes Muskelfleisch kommen. Das wiederum bedeutet, dass auch Roberto weniger Geld bekommt und das bedeutet, dass gleich mehrere Familien unter dem Fehler meines Sohnes leiden werden. Der Junge hingegen murmelt die ganze Zeit etwas, was sich wie "Tut mir leid" anhört. Diese Worte verschwimmen allerdings hinter dem Rauschen meines Blutes in meinen Ohren. Adriano muss lernen, Konsequenzen für sein Handeln zu übernehmen, also rasselt meine Handfläche auf seine Wange. Er gibt keinen Ton von sich. Das ist das Erste, was er heute richtig gemacht hat. Denn wer einen Fehler begeht, muss dafür büßen. So ist das in dieser Welt.
"Und jetzt guck weg, Adriano", entscheide ich, denn er soll nicht sehen, wie man diesen Prozess vollends falsch ausführt. Er gehorcht. Sehr gut. Dann setze ich das Messer an, glucksiges, röchelndes, gurgelndes Schreien klingt aus der Kehle des Rindviehs. Mit Wucht schneide ich sie durch, immer tiefer, immer weiter, bis das Tier zu Boden sinkt und die Hälfte des Kopfes von seinem Hals abgetrennt ist.
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